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Bangladesch In einem der größten Flüchtlingslager der Welt zeigt sich die Wichtigkeit des Welternährungsprogramms

Bangladesch: Das »Mega-Camp« ist das größte von mehreren Flüchtlingslagern im Süden von Bangladesch: Auf 13 Quadratkilometern leben gut 600000 Menschen aus dem benachbarten Myanmar. Vom einstigen Regenwald blieb nur ein Baum stehen. Neu gepflanzte Gewächse sollen Schatten spenden – und vor Erdrutschen schützen
Das »Mega-Camp« ist das größte von mehreren Flüchtlingslagern im Süden von Bangladesch: Auf 13 Quadratkilometern leben gut 600000 Menschen aus dem benachbarten Myanmar. Vom einstigen Regenwald blieb nur ein Baum stehen. Neu gepflanzte Gewächse sollen Schatten spenden – und vor Erdrutschen schützen
© Ismail Ferdous
Jedes Korn Reis zählt für Aziza Bourgut. Sie sorgt in Bangladesch dafür, dass die Menschen im größten Flüchtlingslager der Erde zu essen haben. Die Sudanesin bewegt dort Tausende Tonnen Lebensmittel, kämpft gegen Unterernährung, Sexismus und manchmal gegen die Tränen

Aziza Bourgut hatte keinen Kindheits­traum, sie hatte einen Plan. Eines Tages würde sie in einem der weißen Jeeps sitzen, die gegenüber ihrer Schule parkten, vor dem Büro einer internationalen Hilfsorganisation. Sie, Aziza Bourgut, würde wie die Menschen in den Jeeps „um die Welt reisen und anderen helfen“. Das verkündete sie mit zehn. Ein Onkel prophezeite: Du wirst nirgendwo hingehen, du wirst nur heiraten.

In ihrer Heimat Sudan herrschte ­Dürre, die Menschen hungerten, die islamisch- fundamentalistische Regierung hatte gerade die Scharia eingeführt. Auf ihrer Schule in Nyala, der größten Stadt in Süd- Darfur, würde Aziza Bourgut nie Englisch lernen. Und sie gehörte einem Nomaden­stamm an, in dem die Väter den Lebensweg der Töchter bestimmten.

Aziza Bourgut ist heute 39 Jahre alt, spricht fließend Englisch und verbringt mehr Zeit in weißen Jeeps, als ihr lieb ist. Seit Juni 2018 lebt sie in Bangladesch. Dort schafft sie als Logistikerin für das Welternährungsprogramm (WFP) der UN Tausende Tonnen Lebensmittel in das größte Flüchtlingslager der Welt.

Rund 860000 muslimische Rohingya harren im Süden des Landes aus, verstoßen aus ihrer Heimat Myanmar, nicht anerkannt von Bangladesch. Seit der Vertreibung im August 2017 kamen in den Lagern Zehntausende Kinder zur Welt, inzwischen ersetzen einfache Hütten die Zelte, manche Familien pflanzen Gemüse in winzigen Gärten an. Doch verlassen dürfen die Menschen die Camps nicht, sie sind auf Hilfe angewiesen. Darauf, dass Aziza Bourgut jeden Tag bis zu 100 Lastwagen schickt, gefüllt mit Reis, Linsen und Öl und mit Zusatzkost für Schwangere, Mütter und Kleinkinder.

8.30 Uhr, ein Freitag, Wochenende im muslimi­schen Bangladesch. Aziza Bourgut sitzt im ­kleinen Büro des Warenlagers Uttaran: ein ummauertes Areal am Stadtrand von Cox’s Bazar, der südlichsten Stadt von Bangladesch. Ein pinkfarbenes Tuch verhüllt jede Haarsträhne und rundet ihr Gesicht. Ihre Züge wirken sanft, ihre Stimme ist streng. Sie telefoniert mit einem Lieferanten: „Ihr Reis geht zurück. Wir haben Insekten gefunden. Und er riecht muffig. Versuchen Sie nicht noch einmal, mir Ware vom Vorjahr zu liefern!“

Auf der Piste vor dem Warenlager warten schon Dutzende leere Lastwagen. Drinnen stehen zehn weiße Zelte, jedes so groß wie eine Turnhalle, bis unters Dach gefüllt mit Reissäcken. Auf einer Tafel der aktuelle Bestand: 3845,174 Tonnen. Das sind 128166 Säcke, rund zehn Millionen Tagesrationen. Genug Reserven für ein bis zwei Monate, falls der Monsun die Straßen wegschwemmt und kein Nachschub durchkommt.

Aziza Bourgut wacht als Chefin über alle vier Warenlager mit Nahrung für die Rohingya-Flüchtlinge. Sie muss den Überblick behalten über Reis aus Bangladesch, Linsen aus Australien, Babynahrung aus Frankreich, Weizen aus den USA. Ihr sind zwei Dutzend einheimische Mitarbeiter unterstellt, die bis vor Kurzem noch nie vom WFP gehört hatten. Ständig pendelt sie zwischen ihrem Bürocontainer auf dem Verwaltungsareal des WFP und den Warenlagern: zwei davon in Cox’s Bazar, eines in der 100 Kilometer entfernten Hafenstadt Chittagong und eines neben dem 35 Kilometer entfernten Flüchtlingslager Kutupalong.

Kein Sack, kein Karton verlässt die Depots ohne Bourguts Genehmigung. „Nichts darf verloren gehen“, sagt sie und wiederholt: „Zero!“ NULL. Eine Zahl, die sie oft ausspricht. Null Verluste. Null Fehler. Null Hunger. „Zero Hunger“ ist auch die Zielmarke des WFP, das 87 Millionen Menschen auf der Welt ernährt. Allein an diesem Tag müssen 33000 Säcke Reis in das Flüchtlingslager Kutupalong geliefert werden.

Arbeiter beladen gut 80 Lkw von Hand. In einer schweigenden Kolonne marschieren Dutzende Träger in eines der Zelte. Barfüßige Gestalten in Wickelröcken, mit zerschlissenen T-Shirts, den Kopf mit Tüchern gepolstert. Augenblicke später treten sie mit jeweils einem 30 Kilogramm schweren Sack Reis auf dem Haupt wieder hinaus, laden ihn in einen Lkw, kehren um. „Schneller!“, ruft ein Vorarbeiter. Es riecht nach Schweiß. Aziza Bourgut tritt zu ihm. „Morgen brauchen wir mehr Leute“, sagt sie freundlich bestimmt. „Bestellen Sie 200 Männer, wenn möglich 250.“

Arbeitende Frauen sind hier eine Seltenheit

Bangladesch: Aziza Mohamed Ali Bourgut, 39, wusste schon als Kind, was sie will: hinaus in die Welt und anderen helfen. Beim Welt­ernährungsprogramm arbeitete sie sich von einer Tagelöhnerin im Sudan zum inter- na­tionalen Consultant in der Logistik hoch
Aziza Mohamed Ali Bourgut, 39, wusste schon als Kind, was sie will: hinaus in die Welt und anderen helfen. Beim Welt­ernährungsprogramm arbeitete sie sich von einer Tagelöhnerin im Sudan zum inter- na­tionalen Consultant in der Logistik hoch
© Ismail Ferdous

Träger, Vorarbeiter, Lagerleiter, Qualitätskontrolleure, Lkw-Fahrer: Männer. Die beiden einzigen Frauen protokollieren den Warenbestand. In ihren langen bunten Gewändern, den Gesichtsschleier von einer Brosche gehalten, wirken sie auf dem staubigen Gelände so schön und fremd wie Schmetterlinge. Wären da nicht die Klemmbretter, die sie wie Schutzschilde an sich drücken. Doch die Blicke der Männer dringen durch jeden Stoff. Ihre Mitarbeiterinnen haben Angst, Aziza Bourgut weiß das. Auch deshalb kommt sie oft selbst ins Warenlager. In dieser ärmsten und konservativsten Region von Bangladesch sind berufstätige Frauen ungewohnt. Auf den Straßen und Märkten lassen sich nur wenige Frauen sehen, jede vierte verheiratete Frau in Bangladesch erlebt in ihrer Partnerschaft sexuelle Gewalt. Eine der höchsten Raten weltweit.

„Sagt mir, wenn euch jemand nicht gehorcht oder euch belästigt, egal ob Träger oder Kollege“, schärft Bourgut ihren Mitarbeiterinnen immer wieder ein. Die Männer warnt sie: „Wenn auch nur einer diese Frauen belästigt, dann gehen alle!“ Sätze, die sie selbst nie von ihren Vorgesetzten gehört hat – als sie im Sudan als einzige Frau unter Männern gearbeitet hat.

Fünf Töchter bringt Bourguts Mutter zur Welt – und zwei Söhne. Ihrem Vater raten Nachbarn und Verwandte: „Nimm dir eine Zweitfrau, die dir mehr Jungen schenkt.“ Nicht ungewöhnlich in der traditionellen Stammesgesellschaft – aber Aziza Bourgut hat einen ungewöhnlichen Vater. Der erwidert: „Nein, ich werde meine Töchter gut ausbilden.“

Zwei ihrer Schwestern werden Ärztinnen, eine wird Anwältin, die jüngste Nuklearingenieurin, ein Bruder Elektroingenieur, der andere geht, wie der Vater, zum Militär. Auch Aziza Bourgut soll Medizin studieren, sie aber will Englisch-Dolmetscherin werden. Das scheint ihr die beste Voraussetzung, um bei einer Hilfsorganisation arbeiten zu können. Der Vater gibt nach. Denn wie könnte er dieser Tochter etwas ausschlagen, die er nach seiner großen Liebe benannt hat. Heiraten musste er eine andere: seine Cousine, Aziza Bourguts Mutter. Diese ruft ihre Tochter Maha, der Name steht auch im Pass. „Nur für meinen Vater und das WFP bin ich Aziza“, sagt sie. Ihren Namen trägt sie aus Liebe zum Vater, mit Stolz und aus Trotz.

Bangladesch: Etwa die Hälfte der Camp-Bewohner sind Kinder. Eine Perspektive haben sie kaum: In ihrer Heimat Myanmar werden die musli­mischen Rohingya teils brutal verfolgt, in Bangladesch nicht als Flüchtlinge anerkannt. Deshalb haben sie dort kein Anrecht auf den Besuch einer Schule
Etwa die Hälfte der Camp-Bewohner sind Kinder. Eine Perspektive haben sie kaum: In ihrer Heimat Myanmar werden die musli­mischen Rohingya teils brutal verfolgt, in Bangladesch nicht als Flüchtlinge anerkannt. Deshalb haben sie dort kein Anrecht auf den Besuch einer Schule
© Ismail Ferdous

Ihr Studienwunsch bleibt dennoch unerfüllt: Sie wird krank, eine Schwester füllt ihre Bewerbung aus – und verdreht eine Zahl. Aus ihrem Wunsch-College Nummer 335 wird 353: Umweltstudien. Aziza Bourgut kämpft sich durch die ungeliebte Ausbildung, bringt sich selbst Englisch bei. Arbeit findet sie nicht. Doch sie bekommt eine Chance: Als sie eines Mittags bei einer Cousine im Regionalbüro des WFP in Süd-Darfur vorbei­schaut, sucht der Lagermanager gerade einen Tagelöhner. Aziza Bourgut springt ein.

Jeden Abend begleitet ihr Vater sie vom Warenlager sechs Kilometer zu Fuß nach Hause. Nach ein paar Monaten bekommt sie eine feste Anstellung und darf den Fahrdienst nutzen. Über Jahre wird sie die einzige Frau beim WFP in Süd-Darfur sein. Sie lernt, Tausende Säcke und Kartons perfekt zu stapeln und auf einfache Weise zu zählen. Vor allem aber lernt sie, sich zu wehren. „Alle Arbeiter, Fahrer und Kollegen gehörten zu meinem Stamm, und für die meisten hatte eine Frau nichts zu sagen“, erinnert sie sich. Als ein Arbeiter ankündigt, sie nach Feierabend zu vergewaltigen, informiert sie den Büroleiter. Ein Däne. Der feuert den Mann.

Bald verwaltet Aziza Bourgut die Nahrungshilfe für 150000 Flüchtlinge aus dem Südsudan und 165000 einheimische Vertriebene. Wie es üblich ist, lebt sie bei ihren Eltern und geht abends nicht aus. Sie nutzt die Zeit, sich online fortzubilden. Sie absolviert mehr Kurse als ihre 1000 sudanesischen Kollegen, und unter allen 17000 WFP-Mitarbeitern weltweit steht sie an dritter Stelle.

Die Zentrale in Rom wird auf sie aufmerksam. Aziza Bourgut soll das WFP beim Fackellauf der Olympischen Winterspiele in Russland vertreten. Sie fliegt vom 45 Grad heißen Sudan ins winterliche St. Petersburg. Sie bekommt über 40 Grad Fieber, alle drei Stunden sehen Ärzte nach ihr. Aziza Bourgut findet die Sorge übertrieben. „Das ist wie bei einem Malariaanfall“, erklärt sie. Übernimmt das olympische Feuer und läuft die geforderten 300 Meter für das WFP.

Azizas neues Leben in Bangladesch

Bangladesch: Vor einer Nahrungsmittel­ausgabestelle warten Männer und Frauen getrennt. Für jede Nachbarschaft gilt ein anderer Abholtermin
Vor einer Nahrungsmittel­ausgabestelle warten Männer und Frauen getrennt. Für jede Nachbarschaft gilt ein anderer Abholtermin
© Ismail Ferdous

Vorsichtig steuert Bourguts Fahrer über die mit Ziegeln gepflasterte Hauptstraße von Kutapalong, auch „Mega- Camp“ genannt. Es gilt als das größte Flüchtlingslager der Welt: Auf 13 Quadratkilometern leben rund 600000 Menschen. Eine Bevölkerungsdichte fast doppelt so hoch wie in Manhattan, doch es gibt keine Wohntürme, sondern nur Bambushütten auf nacktem Boden, verschnürt mit löchrigen Planen. Dazwischen Pfade und Bambusbrücken; Toilettenhäuschen in Grün oder Rot. Vom einstigen Regenwald steht nur noch ein Baum.

„Tom Toms“, Motorrikschas, drängen aneinander vorbei, an zusammengezim­merten Ständen verkaufen Einheimische den Rohingya Secondhand-Kleidung, Rattenfallen, Trockenfisch und Gemüse. Kinder winken, Männer tragen Gasflaschen und Reissäcke, trinken Tee in Verschlägen. Viele Frauen sind mit schwarzen Überwürfen und Gesichtsschleiern verhüllt. Auf den ersten Blick wirkt das Mega-Camp wie ein riesiges Dorf. Doch entlang seiner Außengrenzen entsteht ein hoher Zaun, für die Kinder gibt es keine Schulen. Denn Bangladesch erkennt die Rohingya nicht als Flüchtlinge an, auch wenn niemand daran glaubt, dass sie jemals sicher nach Myanmar zurückkehren können.

Die Regierung und das Flüchtlingshilfswerk der UN leiten gemeinsam das Lager und koordinieren die Arbeit: 200 Hilfsorganisationen betreiben Feldkran­kenhäuser, sorgen für sauberes Wasser und saubere Latrinen, bieten Nähkurse, ­kümmern sich um Wiederaufforstung. Ein Räderwerk, das immer reibungsloser läuft. Das WFP ist verantwortlich für die Ernährung der Flüchtlinge, aber auch für Logistik, Straßenbau, Telekommunikation: die Grundlagen für jeden Hilfseinsatz.

Im Vorbeifahren deutet Aziza Bourgut auf Gesundheitszentren, in denen Mütter und Kleinkinder vom WFP Zusatznahrung bekommen, auf „Lernzentren“, in denen Drei- bis 14-Jährige für wenige Stunden betreut werden. Seit das WFP dort kalorienreiche Kekse verteilt, erscheinen deutlich mehr Kinder als zuvor.

Hinter Stacheldraht stehen WFP-Container mit Notrationen – für den Fall, dass der Monsun wieder Hütten wegspült. 2019 wurden 17000 Menschen obdachlos. „Viele haben zum zweiten Mal alles verloren“, sagt Bourgut. „Sie sind noch schlimmer dran als die Flüchtlinge im Sudan.“

Im Frühjahr 2018 hatte das WFP sie gebeten, in Bangladesch auszuhelfen. Aus sechs Wochen wurden fünf Monate, dann bot ihr die Zentrale in Rom einen Vertrag als „Junior Consultant“ an: Sie würde fast doppelt so viel verdienen, wäre weltweit einsetzbar – nur nicht mehr im Sudan. „Ich wollte etwas Neues lernen“, sagt sie. „Außerdem waren meine Eltern krank, und ich wusste: Mit dem Geld würde ich ihnen eine Behandlung im Ausland bezahlen können.“ Jetzt sind beide genesen. Aziza Bourgut überweist ihnen die Hälfte ihres Einkommens und finanziert die Ausbildung von drei Verwandten. Ihr kommt das nicht ungewöhnlich vor. Das sei so in ihrer Heimat.

In Bangladesch jedoch überschreitet sie mit ihrer Großzügigkeit auch manchmal eine Grenze. Sie lädt nicht nur täglich Kollegen oder Freunde ein, zum Essen, auf einen Kaffee, zu einer Tom-Tom-Fahrt – sie trifft auch Absprachen mit Kellnern und Fahrern, damit ihr niemand beim Bezahlen zuvorkommt. Ein italienischer Kollege hat deshalb zwei Spitznamen für sie: „Mum“ und „Boss“. Die „Mum“ steckt bettelnden Kindern in Cox’s Bazar Münzen zu. Der „Boss“ duldet null Widerspruch, auch wenn die Kollegen warnen: „Hör auf, sonst werden es immer mehr. Es muss reichen, dass wir die Menschen durch das WFP ernähren.“ Aziza Bourgut reicht es nicht.

Bangladesch: Aziza Mohamed Ali Bourgut überwacht die Verladung von Reissäcken, Nachschub für Hunderttausende Rohingya- Flüchtlinge. Die leitende Logistikerin versucht das Ziel des Welternährungs­programms (WFP) rigoros umzusetzen: »null Hunger«
Aziza Mohamed Ali Bourgut überwacht die Verladung von Reissäcken, Nachschub für Hunderttausende Rohingya- Flüchtlinge. Die leitende Logistikerin versucht das Ziel des Welternährungs­programms (WFP) rigoros umzusetzen: »null Hunger«
© Ismail Ferdous

Eine straffe Organisation regelt die Hilfe

Auf einem Banner an einer Bambushalle steht: Nahrungsmittelverteilung. Es ist eine von 17 Ausgabestellen im Mega-Camp, betreut von Partnerorganisationen des WFP. Deren Mitarbeiter hat Aziza Bourgut darin geschult, wie man Waren richtig lagert und protokolliert. Ein-, zweimal pro Woche macht sie Stichproben.

An der Warenausgabe entladen Rohingya einen Lastwagen voller Reis. Sie verdienen drei Euro am Tag, als Teil eines „Work&Cash“ Programms des WFP. Arbeit außerhalb des Camps ist nicht erlaubt. Damit auch sonst keine Konflikte mit Einheimischen entstehen, unterstützt das WFP umliegende Gemeinden – mit Keksen für Schulkinder, Nahrungsergänzung für Unterernährte, mit Weiterbildung und Mikrokrediten.

Aziza Bourgut ist zufrieden: Alle Säcke lagern auf Paletten, der Boden ist gefegt, ein Mann versprengt Wasser, damit es nicht staubt. „Ich stelle mir vor, ich würde diesen Reis selbst essen“, sagt sie. „Wir müssen ihn also gut aufbewahren.“

Die Flüchtlinge warten, Frauen und Männer durch einen Bambuszaun getrennt. Sie halten Plastikmappen in den Händen, darin ihre UNHCR- Registrierung, eine Lebensmittelkarte, ein Abholschein. Je nach Haushaltsgröße können sie sich alle zwei oder vier Wochen zu einem festen Termin ihre Rationen abholen. Den Besuch bestätigen sie mit einem Daumenabdruck. Schwache haben Vorrang. Am Durchgang zur Warenausgabe kontrolliert ein Mann, ob der Daumen einer alten Frau von Tinte gezeichnet ist, streicht ihren Abholschein durch und winkt einen Träger herbei.

Der junge Flüchtling in orangefarbener WFP- Weste klemmt sich den Schein zwischen die Zähne. Das Papier ist blau, daran erkennt jeder, dass diese Frau in einem Dreipersonenhaushalt lebt, und weiß so, was ihr zusteht. Ein Helfer hievt dem Träger einen 30-Kilo-Sack Reis auf die Schulter, der nächste füllt Tüten mit neun Kilogramm Linsen in einen leeren Sack, ein weiterer legt drei Literflaschen Öl hinzu und hebt dem Träger das Bündel oben auf den Reis. Am Ausgang zieht ihm jemand den blauen Schein aus dem Mund und zerreißt ihn. Das Ganze dauert keine Minute. Die Frau weist dem Träger den Weg zu ihrer Hütte.

Aziza Bourgut verfolgt diese letzten Meter der Essensrationen nicht mehr, ihre Arbeit endet an der Vergabestelle. So sieht sie nicht die Lehm­kügelchen, die im Labyrinth der Hütten trocknen und als Toilettenpapierersatz dienen. Den von Insekten zerfressenen Bambus, die wenigen Habseligkeiten, die zwischen den Balken stecken. Doch sie kennt die Not der Flüchtlinge, weiß, dass sie einen Teil von ihrem Reis an Händler verkaufen, um an etwas Geld für andere Dinge zu kommen.

Spätestens um 17 Uhr müssen alle humanitären Helfer das Camp verlassen. Tausende. Auf der einzigen Zufahrtstraße herrscht Rushhour. In einer kilometerlangen Karawane stauen sich Jeeps, Minibusse, Busse und Rikschas. Ein Krankenwagen mit Blaulicht kommt aus der Gegenrichtung. Niemand kann Platz machen.

An guten Tagen braucht Aziza Bourgut für die 35 Kilometer bis Cox’s Bazar zwei Stunden, an schlechten doppelt so lange. Sie ist ungewohnt schweigsam auf der Rückfahrt, vertreibt sich die Zeit mit der Englisch-Lern-App Freerice – „kostenloser Reis“. Für jede richtige Vokabel wird dem WFP ein Reiskorn gespendet.

Gemeinsam gegen die Einsamkeit und das Leid

Nach Besuchen im Camp, sagt Aziza Bourgut, fühle sie sich oft niedergeschlagen. Sie kann zwar den Hunger der Flüchtlinge stillen, aber selbst mit ihrer perfekten Logistik bleibt sie gegen all das andere Leid machtlos. Stattdessen wird ihr eine andere Begabung zur Qual: ihre Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Was, wenn ich an ihrer Stelle wäre?, fragt sie sich beim Anblick der Flüchtlinge. Wenn Soldaten mich vergewaltigt hätten oder meine Angehörigen getötet? Sie sagt: „Ich glaube, ich wäre nicht stark genug, um weiterzuleben. Das geht mir immer durch den Kopf.“ In Bangladesch sei sie dünnhäutiger und emotionaler geworden. An manchen Tagen würde sie am liebsten nach Hause zurückkehren. „Ich reiße mich zusammen, aber wenn ich allein bin, will ich nur noch weinen.“ Dann bete sie zu Allah. Am nächsten Morgen tritt sie wieder an.

Im Sudan aß sie immer mit ihrem Vater zu Mittag. Ihm konnte sie alles erzählen. Er hörte zu, aber urteilte nicht, wie sie sagt. Jetzt sind die Telefonate kurz, ihre Ersatzfamilie sind die Kollegen, ihr Ersatzzuhause ist ein Hotel.

„Entspannen Sie sich im Paradies der Bengalischen Bucht“, wirbt das Drei-Sterne-Haus „Windy Terrace“, in dem Aziza Bourgut wohnt. Der Neubau im Zentrum von Cox’s Bazar verspricht eine „berauschende“ Erfahrung am „längsten Strand der Welt“. Müll pflastert den Weg dorthin. Der führt an stinkenden Brachen vorbei, an Betonskeletten voller Schimmel, an offener Kanalisa­tion. In Bangladesch gilt die Stadt mit ihren rund 200000 Einwohnern als Urlaubsziel – aus Sicht des WFP ist sie ein hardship post, ein Posten voller Entbehrungen: ohne medizinische Versorgung, ohne internationale Schule. Zum Ausgleich bekommen die Consultants alle zwei Monate eine Woche frei. Dann fliegt Aziza Bourgut manchmal nach Hause in den Sudan. Reisezeit, hin und zurück: vier Tage.

Im verwaisten Hotelrestaurant schieben zwei Dutzend WFP-Dauergäste die Tische zu einer langen Tafel zusammen. Daran versammeln sich die Vereinten Nationen: Kolleginnen und Kollegen aus Ägypten, Vietnam, Frankreich, Eritrea, Irak, Italien, Großbritannien.

Ab und zu dürfen sie die Hotelküche nutzen. An diesem Abend backt ein Syrer Pizza. Kaum bringt er ein neues Blech, stürzen sich alle darauf. „Null Verluste! Esst bitte alles auf“, ruft Aziza Bourgut. Wodka und Whisky aus dem Duty-free-Shop machen die Runde, Bourgut trinkt Orangensaft. Sie scherzen und frotzeln, ernste Gespräche sind jetzt tabu. Dies ist die improvisierte Gegenwelt zum Flüchtlingslager, ein Ort zum Vergessen.

Neben Aziza Bourgut sitzt ihre Freundin Nadika Senadheera aus Sri Lanka, „meine Schwester“, sagt sie. Die zierliche Geografin, die in Oxford studiert hat, war schon in den größten Krisengebieten der Welt im Einsatz: Afghanistan, Südsudan, Nigeria. Länder, in denen die internationalen Helfer kaum ihre Hochsicherheitszonen verlassen. In Cox’s Bazar können sie sich frei bewegen, trotzdem hat Senadheera von Bangladesch genug: zu viele unerfahrene Kollegen, zu viel Sexismus. In wenigen Wochen will sie weiter, „am liebsten zurück in den Jemen.“ Die Helfer sind Nomaden, die von Krise zu Krise reisen. Keine der Frauen am Tisch hat Kinder. „Die Arbeit steht an erster Stelle“, sagt Bourgut. „Wir zahlen einen hohen Preis dafür. Zero Work-Life-Balance. ZERO.“

Bangladesch: Die Rohingya Arafa Begum serviert ihrem Mann Essen. Die kargen Vorräte lagern auf einem Holzgestell über dem Gaskocher
Die Rohingya Arafa Begum serviert ihrem Mann Essen. Die kargen Vorräte lagern auf einem Holzgestell über dem Gaskocher
© Ismail Ferdous

Das Ziel der Consultants ist: sich selbst abschaffen, die Arbeit an Einheimische übergeben. Als Aziza Bourgut im Frühsommer 2018 ankam, waren nur fünf Leute für die Nahrungsmittellieferungen an eine Million Flüchtlinge zuständig. Ordentliche Buchhaltung? Hauptsache, die Menschen bekamen zu essen!

Bourgut musste bei Null anfangen, Mitarbeiter einstellen. Einige hatten noch nie mit einem Computer gearbeitet. Noch immer gelingt es nicht, alle Lieferungen am selben Tag im System zu erfassen.

Am Anfang der Flüchtlingskrise betrug die Datenzuverlässigkeit in Bangladesch 34 Prozent. Jetzt liegt sie, je nach Warenlager, zwischen 93 und 99. „Azizas Verdienst“, lobt Guillermo Iezzi, ein Logistiker, zu Besuch aus der Zentrale in Rom. Ein paar Monate noch, dann müsste einer ihrer Mitarbeiter ihre Aufgaben übernehmen können.

Auch die Versorgung der Flüchtlinge wird nach und nach abgegeben: Vom WFP koordiniert, betreiben Einzelhandelsketten aus Bangladesch erste Läden in den Camps; Bauern aus der Umgebung verkaufen Gemüse und Hühner auf neuen farmers’ markets. Dort zahlen die Flüchtlinge mit „E-Vouchers“: Plastikkarten mit Chip, Foto und elektronischer Fingerabdruck-Erkennung. Darauf schreibt das WFP monatlich einen Betrag von neun Euro pro Haushaltsmitglied gut. So werden aus Hilfsempfängern Kunden. „Auf diese Weise können die Menschen auswählen. Das gibt ihnen Würde“, sagt Aziza Bourgut. „Das gefällt mir. Auch wenn es mich bald arbeitslos macht.“ Ihre Lieferungen haben sich seit Beginn der Krise bereits halbiert.

Aziza bereitet sich auf ein Leben nach den Rohingya-Camps vor

Bangladesch: Selbst in der Trockenzeit steht in zahlreichen Senken des Camps das Wasser. Während des Monsuns kommt es immer wieder zu Erdrutschen
Selbst in der Trockenzeit steht in zahlreichen Senken des Camps das Wasser. Während des Monsuns kommt es immer wieder zu Erdrutschen
© Ismail Ferdous

„Du brauchst eine neue Herausforderung“, sagt Iezzi. „Komplexere Einsätze, in denen wir drei, vier, fünfmal so viele Nahrungsmittel ausliefern – Jemen, Syrien, Tschad. Oder eine Naturkatastrophe wie 2019 der Zyklon in Mosambik.“ Geht es noch schlimmer?“, fragt Bourgut und lacht.

Vor allem der Jemen lockt sie, derzeit der größte WFP-Einsatz weltweit. Doch ihr Traum hat einen Haken: Die Prophezeiung ihres Onkels hat sich erfüllt. Aziza Bourgut ist verheiratet, seit zwei Wochen.

„Ich saß in einer Rikscha, als meine Schwester mich aus dem Sudan anrief und beglückwünschte. Ich bin aus allen Wolken gefallen.“

Einer Heirat hatte sie zwar zugestimmt, aber die sollte erst im kommenden Jahr stattfinden.

„In Bangladesch habe ich niemals an Heirat gedacht“, erzählt sie. „Ich kann hier Freunde treffen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Essen, wo und wann ich will.“ Aber zu Hause fragten die Nachbarn: „Was macht Aziza allein im Ausland?“ Und ihre Eltern fürchteten, sie würde mit Ende 30 keinen Mann mehr finden. Aber ihnen war klar: Anders als ihre Schwestern würde sie niemals einen Cou­sin als Mann akzeptieren.

„Wenn ihr unbedingt wollt, dass ich heirate“, lenkte sie vor wenigen Wochen ein, „dann nur Ayman Hamad Alawad.“ Ein Freund aus dem Sudan, der früher selbst bei einer Hilfsorganisation gearbeitet hat. „Er versteht, wie sehr ich meine Arbeit liebe. Deshalb habe ich ihn als Ehemann akzeptiert“, erkärt sie.

Alawad arbeitet als IT-Spezialist in Saudi-Arabien. Zuletzt gesehen haben sich die beiden vor sechs Jahren, aber sie telefonieren viel. „Seit wir verheiratet sind, ruft er noch häufiger an“, sagt Bourgut. Das sei sie nicht gewohnt, und sie habe schließlich viel zu tun. „Mal sehen, wie lange er meiner Arbeit gegenüber offen ist. Wir sind ja noch am Anfang.“

Nachdem sie der Heirat zugestimmt hatte, flog Alawad mit Vater und Onkel nach Darfur, um sich ihrer Familie vorzustellen. So weit lief alles nach Aziza Bourguts Plan. Dann aber beschlossen ihr Zukünftiger und ihr Vater, die Ehe noch am selben Nachmittag vom Imam besiegeln zu lassen.Ein Coup der Männer. Als hätten sie Angst, Aziza Bourgut könnte es sich noch anders überlegen.

„Ich fühlte mich um all die Aufregung und Vorfreude vor einer Heirat betrogen“, sagt sie.

Im Februar, wenn sie einen Monat frei hat, soll gefeiert werden.

Und dann?

Aziza Bourgut, die sonst immer weiß, was richtig und was falsch ist, was sie will und was nicht, beginnt nun ihre Sätze mit „vielleicht“.

Vielleicht begleitet ihr Mann sie nach Bangladesch. „Aber nur, wenn wir uns vorher nicht streiten.“ Vielleicht möchte sie Kinder haben. Vielleicht wäre es dann besser, in den Sudan zurückzukehren. Aber nicht unter das Dach der Eltern, wo bereits die Geschwister mit ihren Familien leben. „Ich will mein eigenes Leben führen“, sagt sie.

Arbeit und Familie? Das war in Aziza Bourguts Traum nicht vorgesehen. „Ich muss eine Balance finden. Ich weiß nicht, wie das geht.“

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