Ein Telefon klingelt in Brüssel. Es ist mein Bruder aus Shanghai. Und er hat schlechte Nachrichten: Unser Vater ist an Krebs erkrankt, und ich muss dorthin, um meiner Familie bei medizinischen Entscheidungen zu helfen. Schnell. Aber die Welt wird von einer Pandemie heimgesucht, und ich wohne auf einem verseuchten Kontinent. In China bin ich deshalb gerade eine unerwünschte Person.
Als ich im Spätherbst meine Reise vorbereite, meldet das Land, das den weltweit ersten großen Covid-19-Ausbruch erlebte, erstaunliche Erfolge im Kampf gegen das Coronavirus. Nun will man es nicht wieder hereinlassen. So ordnet China für alle Einreisenden eine 14-tägige Quarantäne an.
Zunächst aber muss ich einen der wenigen teuren Flüge ergattern und innerhalb von 48 Stunden vor Abflug zwei Covid-19-Tests bestehen, in einem vom chinesischen Konsulat zugelassenen Labor. Meine Ergebnisse lade ich zusammen mit persönlichen Daten über eine App hoch, für das Konsulat, das dann einen QR-Gesundheits-Code auf meinem Smartphone aktiviert. Der ist unerlässlich für das Boarding auf dem Flughafen Amsterdam.
Als ich endlich einsteige, begrüßen mich nicht, wie erwartet, lächelnde Flugbegleiter und Stewardessen, sondern vermummte Gestalten, von Kopf bis Fuß in weiße Anzüge gehüllt – in „persönliche Schutzausrüstung“ (PSA). Ich komme mir vor, als wäre ich in ein Ufo entführt worden.
Auch viele der meist chinesischen Passagiere stecken in Schutzoveralls. Da jeder von ihnen einen doppelt negativen Befund bei sich trägt, muss diese Kabine einer der sichersten Orte in Europa sein.

Sie befolgen die Anweisung, möglichst auf ihren Sitzen zu bleiben, und meiden während des zwölfstündigen Fluges sogar die Toilette. Auch ich. Einmal stehe ich im Gang, um ein paar Fotos zu machen, da bellt eine Frau mit Gesichtsschild quer durch die Kabine, ich solle mich hinsetzen, „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit“.
Ich unterhalte mich mit einer Flugbegleiterin. Sie und ihre Kollegen dürfen ihre PSA-Kluft während des Fluges nicht ablegen, und ihnen wird geraten, Windeln zu tragen. „Der Anzug erlaubt es uns, hin und her zu fliegen, ohne jedes Mal eine 14-tägige Quarantäne zu durchlaufen“, sagt sie. „Aber es ist schrecklich, darin zu arbeiten.“
Unser Flug erhält die Freigabe zum Aussteigen, und wir begeben uns in eine Covid-19-Teststation, wo wir einen weiteren QR-Code erhalten. Auch wenn ich mittlerweile drei zertifizierte negative Testergebnisse habe, bin ich in den Augen Chinas verdächtig. Da selbst ein PCR-Test keine absolute Sicherheit bietet, bin ich also zu einer strengen Quarantäne gezwungen. Auf eigene Kosten.

Ein Bus bringt uns zu unserem Quarantänehotel in der Stadt, die meine zweite Heimat ist. Vor dem Hotel stehen mein Vater und mein Bruder und winken mir von der Straße aus zu, bevor sie ins Krankenhaus fahren, um sich auf die lebensrettende Operation vorzubereiten. Es ist das letzte Mal, dass ich sie in Lebensgröße sehe, bis ich in 14 Tagen das Hotel wieder verlasse.
Bei der Ankunft begrüßt mich eine Sanitäterin in Schutzmontur. Sie ist wahrscheinlich noch nicht lange im Gastgewerbe tätig: „Lassen Sie Ihr Gepäck hier! Stellen Sie sich da drüben an! Halten Sie Abstand!“, befiehlt sie durch ihre N95-Maske. Ihre Kollegin misst meine Temperatur und gibt mir einen grünen Eimer mit Desinfektionsmitteln: Chlortabletten, antimikrobielles Handwaschmittel, Alkoholtupfer.
„Wenn Sie Stuhlgang haben oder pinkeln, sterilisieren Sie es eine halbe Stunde lang, bevor Sie spülen“, sagt sie. „Zum Schutz des Abwassers unserer Stadt.“ Als ich in mein Hotelzimmer gehe, desinfiziert eine Person im PSA-Anzug den Korridor, den ich gerade passiert habe. Ich frage sie, ob sie das meinetwegen tut. „Ja“, sagt sie.
Während meines Aufenthalts sterilisieren Angestellte den Flur etwa sechsmal am Tag, ihre Mittel färben und bleichen die Holzpaneele und Teppiche, und ihre Maschinen surren und piepsen, sodass ich mich wie auf einer Intensivstation fühle. Auch mein Zimmer sprühen sie täglich ein.

Meine Familie macht sich Sorgen wegen des Essens. Ich kann sie beruhigen: Es ist ein bisschen fettig, und ich muss dafür bezahlen, aber es gibt genug Eiweiß, Gemüse, Obst, um mich gesund zu halten. Hotelangestellte in Schutzmontur stellen es mir auf einem Plastikstuhl vor die Tür. Dabei sind sie ganz leise. Sie wollen nicht, dass ich mein Essen hole, während sie noch da sind.
Ich weiß das, weil ich, da ich so wenig zu tun habe, mit voyeuristischem Vergnügen durch den Spion blicke und die Aktivitäten auf dem Korridor verfolge. Einmal öffne ich die Tür, um sie zu begrüßen. Sie schauen schockiert und schreien, ich solle wieder reingehen.
Alkohol in der Quarantäne ist verboten - vermutlich, damit die Isolierten nichts Dummes anstellen
Etwa 20 Minuten nachdem das Essen vor meinem Zimmer abgestellt wurde, fordert mich ein Mitarbeiter telefonisch auf, die Plastikbox reinzuholen. Bei der häufigen Desinfektion stelle ich mir vor, dass Moleküle der verwendeten Mittel in mein Essen kriechen, aber hey. Manchmal schenkt mir das Hotel sogar eine Banane mit einem Aufkleber, auf dem „Happy Holidays“ steht.
Ich darf auch Proviant aus Supermärkten bestellen, Alkohol aber ist verboten. Ich schätze, sie wollen nicht, dass ich mich betrinke und etwas Dummes tue, fliehen zum Beispiel. Nicht, dass ich das könnte. Meine Tür ist unverschlossen, aber eine Überwachungskamera ist auf sie gerichtet. Ich gehe drei Schritte hinaus, um Bilder mit dem Handy zu machen. Prompt klingelt mein Zimmertelefon.
Der Sicherheitsdienst. „Was tun Sie auf dem Korridor?“, fragt eine Stimme. „Frische Luft schnappen“, sage ich. „Warum machen Sie Fotos?“, fragt er. Ich sage „für ein Souvenir“. „Es gibt nichts zu fotografieren“, sagt er. „Der Flur sieht immer gleich aus. Bitte gehen Sie in Ihr Zimmer und kommen Sie nicht heraus.“

Mein Vier-Sterne-Hotelzimmer wäre passabel, hätten sie den 20 Quadratmeter großen Raum nicht mit weißen Kliniklaken bedeckt. Ich verbringe die Tage damit, Gymnastik darauf zu machen. Ich habe ein Doppelbett und einen Fernseher. Es gibt ein Telefon, über das die Sanitäter, das Hotelpersonal und die Security zu erreichen sind. Oft schaue ich aus dem Fenster, sehe zu, wie der Tag langsam der Nacht weicht.
Zweimal täglich kommt eine Ärztin, um meine Temperatur zu erfragen. Den Wert schreie ich durch die geschlossene Tür. Einmal fordert sie mich auf, die Tür zu öffnen, und checkt auf dem Thermometer, ob ich die Wahrheit sage.
Ich habe kein Covid-19, aber nach ein paar Tagen fühlen sich meine Bronchien etwas eng an, wenn ich einatme. Kommt das von den Desinfektionssprays? Ich traue mich nicht, das der Ärztin zu sagen, weil ich fürchte, sie verfrachtet mich ins Krankenhaus. Mich beruhigt, dass zwei Mücken munter durch mein Zimmer schwirren. Da die Chemikalien sie nicht gekillt haben, nehme ich an, dass es auch mir gut geht.
Statt bei seinem kranken Vater zu sein, bleibt Justin Jin nur der Videoanruf aus dem Isolierzimmer
Zu Beginn meines Aufenthalts fragen die Beamten, ob ich eine vorzeitige Verlegung zum Haus meines Vaters wünsche, um den Rest der Quarantäne im „7+7“-System abzuleisten, bei dem Reisende mit einer lokalen Adresse die zweite Woche zu Hause verbringen dürfen. Ich sage natürlich ja. Doch mein Antrag wird abgelehnt: Unsere Nachbarn wollen mich aus Angst vor Ansteckung nicht in der Nähe haben.
Ich bin 10.000 Kilometer geflogen, um meinen kranken Vater zu sehen. Ich hatte mir gewünscht, in diesen bangen Stunden bei ihm zu sein. Stattdessen kann ich ihm nur per Videoanruf von meinem Isolierzimmer aus alles Gute wünschen – ein paar Hundert Meter von ihm entfernt.
Während ich solche extremen Maßnahmen skeptisch sehe, finden meine chinesischen Freunde und auch mein Vater, dass die Regierung das Richtige tut, um Chinas Bürger zu schützen. An meinem letzten Tag bittet mich das Hotel, 7000 Yuan (etwa 900 Euro) für meinen Aufenthalt zu zahlen, inklusive Essen – keine kleine Summe für eine Quarantäne, um die ich nicht gebeten habe. Aber die Regierung hat auch nicht um meinen Besuch gebeten, der Kosten und Arbeit verursachte.

Nachdem ich in zwei Wochen beweisen konnte, dass ich kein Covid-19 habe, wollen die Hotelmediziner mich nun schleunigst loswerden. Vor meinem letzten Tag ruft eine Mitarbeiterin an und bittet mich, mein Zimmer bis sechs Uhr zu räumen, damit die Reinigungskräfte es desinfizieren können. „Was, wenn ich verschlafe?“ Sie könnten mich für weitere 14 Tage einsperren, wenn ich auf potenziell ansteckende Neuankömmlinge treffe, sagt sie. Ich gehe pünktlich.
Man gibt mir 30 Minuten, um die Schlüsselkarte abzugeben, einem markierten Weg zu folgen, ohne etwas zu berühren, und durch den Eingang zu verschwinden. Befreit finde ich mich mitten in Shanghai wieder. Die Menschen eilen zur Arbeit, bevölkern die U-Bahn, drängen sich in den Geschäften, viele ohne Maske. Benommen laufe ich durch eine glänzende, wie’s aussieht, coronafreie Megapolis. Ich treffe meinen Bruder, und wir gehen zu unserem Vater in die Klinik. Er erholt sich jetzt von der erfolgreichen Operation.
Im freien und demokratischen Europa engt Covid-19 die Menschen massiv ein. In China ist das System restriktiv, aber die Menschen sind zunehmend frei von dem Virus, der einen Großteil der Welt gefangen hält.
In derselben Nacht nimmt mein Bruder mich mit in eine überfüllte Weinbar in Shanghai. Es gibt keine Masken, keine Gespräche über Impfstoffe und für einen Moment auch keine Sorgen. Es fühlt sich so 2023 an.