Das Rasseln, das Joseph Randall in den frühen Morgenstunden des 10. Januar 1835 aus dem Schlaf reißt, klingt ein wenig, als würde jemand eine metallene Kette über Stein ziehen. Bei Tag hätte der Butler von Mrs. Maxwell, einer wohlhabenden Dame im südenglischen Southampton, dem Geräusch vermutlich gar keine Beachtung geschenkt. Aber mitten in der Nacht? Was ist das?
Die Dielen im Haus beginnen zu knarren, dann schwingt Randalls Zimmertür auf. Zwei nur schemenhaft zu erkennende Gestalten treten ein, umflackert vom Licht einer Laterne. Ein Einbruch. Randall stellt sich schlafend.
Kurz wartet er, dann dreht er sich zur Seite und greift nach der Pistole, die er aus Angst vor einem Überfall stets unter seinem Kopfkissen aufbewahrt. Doch die Eindringlinge, die den Butler offenbar die ganze Zeit im Blick gehabt haben, sind schneller: ein lauter Knall, ein scharfes Sirren neben Randalls Ohr. Wo eben noch sein Kopf war, klafft ein Loch in Kissen und Bettgestell.
Nach ihrem Fehlschuss wenden sich die Diebe zur Flucht, auch Randall stürzt aus dem Zimmer, wirft sich im Flur auf sie. Zwar können ihn die Maskierten abschütteln, aber ihre Beute, Juwelen und Silbergeschirr, müssen sie zurücklassen.
So zumindest berichtet es Joseph Randall. Sein Zuhörer am folgenden Tag ist Henry Goddard. Der Besucher aus London gehört zu den „Bow Street Runners“, der ersten behördlich anerkannten Detektei Englands, 1749 von einem Richter in der britischen Kapitale auf private Initiative hin gegründet – denn eine reguläre Polizei gibt es Mitte des 18. Jahrhunderts in England nicht, und in den wachsenden Städten wuchert die Kriminalität.
Die Runners finanzieren sich aus staatlichen Zuschüssen und einer Prämie, die sie für gelöste Fälle bekommen. Die Aufträge übernehmen sie von den Betroffenen, zunächst kostenlos, ab Anfang des 19. Jahrhunderts auch zunehmend gegen Bezahlung. Obwohl die Regierung 1829 eine offizielle Polizei gründet, sind die Runners 1835 noch immer im ganzen Land gefragt. So auch in Southampton, wo sie im Fall Maxwell angefordert werden.
Goddard erreicht die Hafenstadt am Morgen des 11. Januar, befragt Mrs. Maxwell und Joseph Randall. Dessen Geschichte klingt für ihn schlüssig. Dann aber lässt sich Goddard die Hintertür des Hauses zeigen, die die Eindringlinge mit einem Stemmeisen aufgebrochen haben sollen. Ihm fällt auf, dass die Schäden an Innen- und Außenseite der Tür nicht zueinanderpassen, ganz so, als seien sie nicht gleichzeitig entstanden.
Misstrauisch geworden, bittet er Randall, ihm die Kugel auszuhändigen, die die Einbrecher auf ihn gefeuert haben sollen. Der Aufprall an der Wand hat das Bleigeschoss abgeflacht. Als Goddard das Plättchen in die Hand nimmt, entdeckt er darauf zufällig eine winzige Erhebung.
Goddards Nachforschungen entlarven den Betrug und prägen die Geschichte der Kriminologie
Er untersucht Randalls Munitionsvorrat, auf allen Kugeln findet er die kleine Spitze. Wie zu dieser Zeit üblich gießt der Butler seine Bleikugeln selbst. Als Goddard sich dessen Gussform ansieht, erspäht er eine winzige Macke, die zu den Ausbuchtungen in den Kugeln passt. Nun ist klar: Die Tatmunition stammt aus Randalls Beständen!
Damit konfrontiert, lässt sich der Butler ohne Widerstand verhaften. Im Gefängnis gesteht er: Es hat nie einen Einbruch gegeben. Die Spuren an der Tür hat er an zwei verschiedenen Tagen selbst angebracht, die Kugel mit der eigenen Pistole durch das Kissen gejagt. Er habe gehofft, dass ihn Mrs. Maxwell für das mutige Einschreiten belohnen würde.
Goddards Nachforschungen aber entlarven den Betrug – und prägen die Geschichte der Kriminologie: Als erster Ermittler löst er einen Fall, indem er die Oberfläche einer Kugel genau analysiert und so einem Schützen zuordnen kann. Damit begründet er eine ganz neue Methode in der Verbrechensaufklärung: die forensische Ballistik, die auch kleinste Aspekte einer Tat in den Blick nimmt, die mit Schusswaffen zu tun haben. Bald beginnen andere Kriminologen, seinen Ansatz weiterzuentwickeln.
Müssen sich die Ermittler anfangs noch auf ihre Augen und ihren Tastsinn verlassen, können Ballistiker heute mit speziellen Mikroskopen, Infrarotfotografie oder Röntgengeräten aus Verformungen an Patronen oder Überresten des Schießpulvers bei Schussverletzungen Tatabläufe rekonstruieren, Waffentypen oder sogar die Tatwaffe selbst identifizieren. Unzählige Kriminelle sind so überführt worden.
Wie auch Joseph Randall. Vor Gericht kommt der Schwindler mit einer Ermahnung davon. Härter trifft ihn eine andere Folge seiner gescheiterten Täuschung: Seinen Posten als Butler ist er los.