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Die Welt nach Corona "Mit Digitalisierung allein ist es nicht getan": Ein Ausblick auf die Schule der Zukunft

Die Welt nach Corona: Digitaler Unterricht auch für die Kleinsten - wie das sinnvoll funktionieren kann, darüber macht sich die Bildungswissenschaftlerin Nele Hirsch Gedanken
Digitaler Unterricht auch für die Kleinsten - wie das sinnvoll funktionieren kann, darüber macht sich die Bildungswissenschaftlerin Nele Hirsch Gedanken
© Maria Symchych / shutterstock
Fernunterricht im Lockdown: Für Bildungsforscherin Nele Hirsch war das nur ein Vorgeschmack auf die Schule der Zukunft

GEO: Frau Hirsch, Sie waren bildungspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag und machen heute Lehrer fit für das digitale Zeitalter. Wie soll Bildung in Zukunft aussehen?

Nele Hirsch: Wir müssen die Schulen neu gestalten und Freiräume schaffen: Mehr Lehrer für weniger Schüler, mehr Zeit für freies Lernen, mehr Raum dafür, Kinder individuell zu unterstützen.

In Ihrer Zukunftsvision kommen keine Laptops vor und kein flächendeckendes WLAN an deutschen Schulen?

Mit Digitalisierung allein ist es nicht getan. Wenn Schüler selbstorganisiert lernen, ist es natürlich super, wenn sie das Internet erkunden können. Die technische Infrastruktur muss da sein. Aber man kann auch mit einem Tablet totalen Mist machen, wenn man einfach die Bildung aus dem Buchdruck-Zeitalter konserviert.

Was meinen Sie damit?

Manche Schulen haben im ersten Lockdown den größten Fokus darauf gelegt, sich zu überlegen: Wie schreiben wir in der Zoom-Konferenz eine Klassenarbeit? Und wie setzen wir die Einstellungen so, dass niemand spicken kann? Das Digitale ermöglicht doch etwas viel Spannenderes: Brauche ich überhaupt eine Klassenarbeit, mit der ich Faktenwissen abfrage? Was wollen Schüler denn später damit anfangen? Ich war eine sehr gute Schülerin, ich habe seitenweise auswendig gelernt. Aber heute weiß ich nicht mehr einen Bruchteil davon.

Wie soll Unterricht stattdessen aussehen?

Ich kann meinen Schülern die Aufgabe stellen: Setzt Euch mit dem Lerninhalt auseinander, den wir gerade behandeln, arbeitet zusammen, präsentiert den Anderen das Ergebnis. Dann lernen Schüler nicht nur das eigentliche Thema, sondern sie lernen auch, sich gemeinsam damit zu beschäftigen. Sie lernen: Wo kann ich weitere Informationen finden? An wen kann ich mich wenden, wenn ich noch weitere Fragen habe? Sie lernen zu überlegen: Was ist meine Position dazu, und was möchte ich weitergeben? Das sind alles Kompetenzen, die Schüler heute brauchen, wenn sie sich selbstbestimmt in die Gesellschaft einbringen und sie mitgestalten wollen. Dazu reicht es nicht, einfach Tablets zu verteilen.

Sie nennen das auch die 4K-Kompetenzen.

Das steht für Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Gerade die letzten beiden Begriffe werden oft falsch verstanden. Kreativität heißt nicht: Ich male künstlerisch wertvolle Bilder. Sondern: Ich denke Dinge neu. Wie könnte das, was ist, anders sein? Und kritisches Denken bedeutet nicht: Ich bin dagegen und geh demonstrieren. Es heißt, dass ich nicht einfach schlucke, was jemand anders gesagt hat.
Corona zeigt erneut, dass viele Menschen überfordert zu sein scheinen mit Veränderungen und auch damit, Informationen richtig einzuordnen.

Bereitet eine zeitgemäße Bildung Schüler besser darauf vor?

Ja, sie würden besser mit Veränderungen klarkommen.

Warum?

Weil sie sich nicht hilflos ausgeliefert fühlen würden. Das ist der Knackpunkt von zeitgemäßer Bildung: Es geht nicht darum, dass Menschen sich optimal anpassen an eine Welt, die sich immer schneller dreht. Wir müssen Schüler ermutigen, dass sie sich einbringen können. Dann kommt nicht mehr dieses Gefühl auf: „Ich kann ja eh nichts ändern.“ Sondern: „Ja, da bewegt sich jetzt gerade was. Wie kann ich das mitgestalten?“

Wenn alles digital wird und Schüler sich den Stoff selbst erarbeiten - sind Lehrer dann überflüssig?

Das Gegenteil ist richtig. In einer Kultur der Digitalität werden Lehrer deutlich wichtiger. Sie müssen viel mehr Konzepte entwickeln, sie müssen Lernumgebungen gestalten und Material bereitstellen. Sie müssen Schüler einzeln begleiten. Das ist natürlich unwahrscheinlich aufwendig. Wir kommen nicht darum herum: Zeitgemäße Bildung wird mehr Geld kosten.

Die Welt nach Corona: "Mit Digitalisierung allein ist es nicht getan": Ein Ausblick auf die Schule der Zukunft
© privat

Die Bildungswissenschaftlerin Nele Hirsch beschäftigt sich seit Jahren mit dem Prozess des Lernens - und welche Rolle "Neue Medien" dabei spielen, welche sie spielen könnten und sollten. Ihr Buch "Unterricht digital" ist im Verlag an der Ruhr erschienen.

Der Lockdown im Frühjahr hat gezeigt, dass nicht zuletzt Geld darüber entscheidet, wer den Anschluss behält.

Tatsächlich droht Digitalisierung die Spaltung, die wir im Bildungssystem haben, deutlich zu verstärken. Da ist wieder die Politik gefragt. Es reicht nicht, Menschen mit wenig Geld eine WLAN-Leitung zu schenken. Wenn ich dann in einer Zwei-Zimmer-Wohnung sitze und drei Geschwister habe, dann kann ich ja trotzdem nicht arbeiten.

Wie ließe sich das lösen?

Selbst in einem Lockdown kann man Schülern in der Schule einen Arbeitsplatz zu Verfügung stellen, wo es WLAN gibt, wo sie in Ruhe lernen können. Wir müssen aufpassen, dass manche Kinder nicht einfach komplett verloren gehen.

Bis vor wenigen Tagen waren Politiker bemüht, Schulen um fast jeden Preis offen zu halten. Hatten sie aus dem Frühling gelernt?

Ich glaube, es ist ambivalent. Es war schon durchgedrungen, dass Schule ein Lebensraum von Kindern und Lehrern ist und nicht einfach ein Ort, an dem einem Fakten eingeprügelt werden. Eigentlich müsste man jetzt sagen: Wie kann man diesen Lebensraum anders gestalten? Müssen alle gleichzeitig in der Schule sein? Können Schüler mehr in Kleingruppen lernen, zu unterschiedlichen Zeiten? Stattdessen saßen sie seit den Sommerferien weiterhin alle gemeinsam in einem engen Klassenraum. Und aus der Politik kam als Antwort nur: Stoßlüften. Das ist natürlich kein vernünftiges Konzept.

Hat die Pandemie uns Ihrer Zukunftsvision von zeitgemäßer Bildung trotzdem nähergebracht?

Corona hat zu einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber Digitalisierung geführt. Sehr viele Lehrer, die sich damit vorher noch nie auseinandergesetzt hatten, haben sich fortgebildet. Jetzt muss die Politik sagen: Wir nutzen das als Chance, um zeitgemäße Bildung voranzubringen und an den Schulen zu verankern.

Was müsste denn als Erstes geschehen?

Es geht nicht vor allem darum, von analog zu digital zu kommen. Sondern von isoliert zu vernetzt: Was haben unterschiedliche Lehrer, Schüler und Schulen für Erfahrungen gemacht? Was hat vielleicht überhaupt nicht funktioniert? Und wo soll es hingehen? Da gibt es viele konkrete Vorschläge. Da muss die Politik für Geld sorgen und für Freiräume. Die deutlich schlechtere Alternative wäre zu sagen: Puh, überstanden, jetzt müssen wir uns um diesen ganzen digitalen Firlefanz nicht mehr kümmern. Das wäre fatal. Weil Corona gezeigt hat: Sehr viele Dinge könnten und sollten ganz anders sein.

Zukunftsszenarien

Das Virus hat unser Leben von Grund auf verändert. Jetzt ist es an der Zeit, eine neue Zukunft zu planen. In GEO-Ausgabe 01/2021 stellen wir 15 Ideen für eine bessere Welt nach Corona vor.

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