Am Morgen des 20. November 1820 waren endlich die Fontänen auf der Wasseroberfläche zu sehen, die signalisieren: Hier schwimmt ein Walrudel. Sofort ließen die Seemänner des Walfängers „Essex“ ihre wendigen Fangboote zu Wasser, mit ihren Harpunen jagten sie die gigantischen Tiere.
Eines der größten Exemplare hatte sich jedoch aus dem Rudel gelöst und steuerte direkt auf das Mutterboot zu. Es rammte die Essex, einen 26 Meter langen Dreimaster, tauchte unter dem Schiff hindurch. Dann attackierte der Pottwal erneut und schob das Boot hunderte Meter durch den Pazifik, zerstörte seinen Rumpf und verschwand wieder im Meer. So beschrieb der erste Offizier Owen Chase die Attacke des Bullen von „85 Fuß Länge und annähernd 80 Tonnen Gewicht“.
Walfett war die Quelle für Brennstoff und Schmiermittel
Die Essex sank sehr langsam und für die Seemänner begann der Kampf ums Überleben. Dabei hatten sie darauf gehofft, nach Monaten auf dem offenen Meer in die Heimat zurückkehren zu können. Wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren und ihren Fang zu Geld zu machen.
Begonnen hatten die Waljäger die Reise über ein Jahr zuvor in ihrem Heimathafen auf Nantucket, einer kleinen Insel vor der nordamerikanischen Atlantikküste, einer Hochburg des Walfangs.
Weil man sich dort noch verbliebene Walbestände erhoffte, führte die Reise der Essex entlang der Ostküste Amerikas, die Crew umsegelte das berüchtigte Kap Hoorn, reiste entlang der Westküste Südamerikas bis zu den Galapagosinseln. Einen Wal hatten die Jäger bereits erlegt, mit kleinen Öfen an Bord wurde das Fett auf hoher See ausgekocht. Das so gewonnene Öl war gefragt als Brennstoff und Schmiermittel, bevor Erdöl diese Funktionen übernahm.
Nachdem die Crew auf den Galapagosinseln ihre Vorräte aufgefüllt hatte, stach sie erneut in See, gen Westen, erneut auf das offene Meer. Dort erspähten sie am Morgen des 20. November 1820 jene verhängnisvollen Fontänen des Pottwalrudels, über die sich die Seemänner doch so freuten. Viele von ihnen sollten die Reise nicht überleben.
Als die Essex gesunken war, blieben ihnen drei kleine Fangboote, etwas Trinkwasser, wenig Proviant - und die Hoffnung, von wechselnden Winden in Richtung der südamerikanischen Küste getrieben zu werden, nach Chile.
Doch auf Flaute folge Sturm, die Sonne brannte, die Vorräte wurden knapp. Die Besatzung eines der Boote wehrte den Angriff eines Orcas ab, berichteten die Männer später.
Die Überlebenden aßen die toten Körper ihrer Kameraden
Einen Monat trieb die Essex-Crew so auf dem offenen Meer herum, dann erreichte sie Ende Dezember eine kleine Koralleninsel. Die Männer konnten dort halbwegs zu Kräften kommen und ihre Vorräte auffüllen, bevor sie kurz darauf erneut in See stachen. Drei Crewmitglieder blieben zurück.
Erneut waren die Männer Spielball der Ozeangewalt, bald wieder entkräftet und beinahe ohne Vorräte. Die Boote verloren sich im Chaos des Meeres. Um zu überleben, aßen die Männer die toten Körper ihrer Kameraden. Der Tod eines Crewmitglieds wird per Los entschieden, sein Fleisch soll die Überlebenden bei Kräften halten.
Am Ende der Odyssee überlebten acht der zwanzig gekenterten Waljäger. Im Februar 1821, drei Monate nachdem der Pottwal die Essex versenkte, wurden nacheinander zwei der drei Walfängerboote vor der chilenischen Küste geborgen. Die Überlebenden nagten an den Knochen der Toten, berichteten die Retter.
Auch der Erste Offizier, Owen Chase, hatte überlebt. Seine unglaubliche Geschichte veröffentlichte er noch im November 1821, als „Erzählung vom Schiffbruch des Walfängers Essex“ - welches 20 Jahre später auch Herman Melville in die Hände bekam.
Mit Melvilles eigenen Erfahrungen auf hoher See gepaart, entstand so die Idee für den Roman über den wohl bekanntesten aller Wale: Moby Dick.