Der Tod kommt gegen Mitternacht, und es ist ausgerechnet das Wasser, von den Menschen auf ihrem Marsch durch diese heiße Ödnis so sehr ersehnt, das sie jetzt im Schlaf überrascht. An weit entfernten Gebirgshängen sind zuvor schwere Regengüsse niedergegangen und haben sich zu einer Sturzflut aufgebaut.
Die rauscht nun durch die Wüste und verwandelt den Bach, in dessen Nähe die Soldaten Alexanders des Großen das Nachtlager aufgeschlagen haben, in einen gurgelnden Fluss. Einen Strom, der Frauen und Kinder, die dem Heer im Tross gefolgt sind, in den Tod reißt, der die meisten Lasttiere ertränkt, der Waffen, Zelte und Nahrungsmittel zerstört.
Es ist die schlimmste Tragödie, die im Herbst 325 v. Chr. Alexanders Truppen trifft, aber nicht die einzige. Ein paar Wochen zuvor erst hat der Feldherr an den Ufern des Indus den Befehl zum Rückmarsch in Richtung Westen gegeben - und dabei einen weiteren Vorstoß ins Unbekannte angekündigt: eine Expedition durch die Wüstenlandschaft Gedrosiens, die sich am Nordrand des Indischen Ozeans westlich des Indusdeltas erstreckt. Doch was als Abenteuer beginnt, wird zu einem Todesmarsch.
Fassungslos blickten spätere Chronisten auf diese Aktion des sonst so erfolgsgewohnten Feldherrn: Weshalb wählte er eine Route, von der er wusste, dass sie hohe Risiken birgt? Wollte er seine Truppen bestrafen, die ihm im Jahr zuvor meuternd die Gefolgschaft verweigert hatten?
Mit Tausenden will Alexander der Große die Wüste durchqueren
Tatsächlich geht es dem Makedonen gar nicht um den strapaziösen Landweg durch die Einöde, sondern um die parallel dazu verlaufende Seeroute entlang der Küste. Denn Alexanders Kundschafter sind in Indien auf Kardamom, Myrrhe, Balsam und Zimt gestoßen - Waren, die in Griechenland und Kleinasien begehrt und teuer sind. Eine Seehandelsroute, über die man die Kostbarkeiten vom Indus bis zum Euphrat verschiffen könnte, um sie von dort weiter nach Westen zu transportieren, verspräche gute Geschäfte.
Daher beauftragt Alexander einen seiner engsten Vertrauten mit der Erkundung des Seewegs nach Westen. General Nearchos kommandiert jene eigens gebaute Flotte, mit der Alexander zuvor seine Armee auf dem Indus nach Süden gebracht hat. Sie liegt, wie auch das Heer, seit Juli in einem Flusshafen am Indusdelta. Doch den meisten Schiffen fehlt es an Stauraum für Proviant. Bei wochenlangen Expeditionen muss ihre Versorgung von Land aus gesichert werden.
Deshalb will Alexander mit etwa 30.000 Mann und dem Tross, weiteren 10.000 Menschen, den Weg durch die Wüste nehmen: Er will sich nahe der Küste halten, damit seine Soldaten Landungsplätze für die Schiffe ausfindig machen, Brunnen graben und Getreidedepots anlegen können. Außerdem sollen sie das Gebiet militärisch absichern. Einen dritten Teil seiner Streitmacht, etwa 10.000 Mann, schickt Alexander unter General Krateros entlang einer sicheren, deutlich nördlicher gelegenen Route auf den Rückmarsch. Rund 1000 Kilometer weiter westlich sollen alle drei Truppenteile zusammentreffen. Das zumindest ist der Plan.
Die erhofften Regenfälle in der Wüste bleiben aus
Alexander weiss, dass die Gedrosische Wüste heiß, steinig und trocken ist, dass im Sommer glühende Winde giftige Samen darübertreiben. Aber er hat auch gehört, dass im September mit linderndem Regen zu rechnen ist. Daher wartet er bis Ende August, ehe er den Befehl zum Aufbruch gibt. Nearchos soll mit seiner Flotte etwa drei Wochen später folgen.
Nach wenigen Tagen erreichen Alexanders Truppen die Wüstenregion. Viele Einheimische fliehen beim Herannahen der Streitmacht aus ihren Siedlungen. Nur das Volk der Oreiten leistet Widerstand. Alexander lässt Reiterei und Infanterie in breiter Front gegen den Wüstenstamm vorgehen - für seine erfahrenen Krieger ein leichter Gegner. Hinter dem Gebiet der Oreiten aber beginnen die Schwierigkeiten: "Man traf auf hohe Dünen tiefen Sandes, der so locker war, dass man beim Hineintreten versank wie in ungetretenem Schnee", so ein späterer Bericht.
Dazu sengt von oben die Sonne, die Temperaturen erreichen am Tage schnell 40 Grad Celsius. Langsam schleppen sich die Männer, Frauen und Kinder voran. Inzwischen ist es September geworden, doch die Regenfälle bleiben aus. Bäche und Quellen sind trocken, die Wassersuche wird schwieriger. Die Flüssigkeitsrationen schrumpfen dramatisch.
Unterdessen kämpft auch die Flotte mit Widrigkeiten. 24 Tage lang hält der Südwestmonsun die Schiffe beim Indusdelta fest, erst Mitte Oktober kann Nearchos die Segel setzen. Trotz der Verspätung erfüllt er seinen Auftrag, erkundet den Küstenverlauf, inspiziert Inseln, kartiert jede als Hafen geeignete Bucht. Immer wieder aber kommt es zu Scharmützeln mit Küstenbewohnern, weil die Soldaten ihnen Fleisch und Getreide rauben; von Alexanders angekündigten Proviantlagern haben sie nur ein einziges gefunden.
Denn der Feldherr verfolgt den eigentlichen Zweck des Wüstenmarsches - an der Küste Depots für die Schiffsbesatzungen anzulegen - schon längst nicht mehr. Zu groß sind die eigenen Probleme. Um der Hitze zu entgehen, lässt Alexander meist nur nachts marschieren. Dennoch legt die Armee pro Tag im Durchschnitt kaum mehr als zwölf Kilometer zurück. Zudem sind in der Dunkelheit die Giftschlangen, die unter Strauchwerk und Steinen lauern, nur schwer auszumachen; viele Marschierende sterben qualvoll an den Bissen.
Und Hunderte Menschen verdursten. Weil sich Verzweifelte mitunter wie im Wahn in die seltenen Wasserstellen werfen, darin ertrinken und das kostbare Nass für die anderen ungenießbar machen, befiehlt Alexander, nur noch in größerer Entfernung von Quellen und Bächen zu lagern. Als sie dann eines Nachts von den tödlichen Wassermassen der Sturzflut überrascht werden, hilft auch diese Vorsicht nicht.
Nach der Katastrophe plündern die Überlebenden die letzten Getreidevorräte, schlachten die verbliebenen Lasttiere. Alexander lässt es geschehen - und muss dennoch mit ansehen, wie Soldat um Soldat zusammensinkt. "Manche blieben in der prallen Sonne mitten auf dem Weg liegen. Andere begannen zu zittern, und ihre Beine und Arme zuckten dann krampfartig, bis sie starben", so ein Chronist.
Viele werden, durch die Nachtmärsche übermüdet, unterwegs vom Schlaf übermannt. Wer es nicht schafft, sich aufzuraffen und dem Heer zu folgen, geht zugrunde. Tausende verwesende Leichen lässt der Zug zurück, auch Kranke und Erschöpfte, die noch bei Bewusstsein sind - denn es gibt keine Tiere mehr, die Transportwagen mit den Leidenden durch den Sand ziehen könnten. Nichts ist mehr übrig von Alexanders ruhmreicher Armee; ein geschlagenes Heer irrt mit letzter Kraft durch das hitzeglühende Land.
Ende Oktober erreicht die Streitmacht endlich den verabredeten Treffpunkt in der Region Karmanien, die sich nördlich der Straße von Hormuz erstreckt. Von den etwa 40 000 Mitziehenden haben wohl kaum 15 000 überlebt. In der Wüste hat der König mehr Menschen verloren als in allen Schlachten seines Feldzuges zusammen. Aber zumindest hat Krateros seine Männer unversehrt nach Karmanien gebracht.
Die Flotte findet tatsächlich die Seeroute nach Indien
Und Nearchos? Der gelangt durch den Persischen Golf Anfang des Jahres 324 v. Chr. an die Mündung des Euphrat. Seine See-Expedition eröffnet tatsächlich die Handelsroute nach Indien, so wie von Alexander geplant.
Etwa zur gleichen Zeit zieht der Feldherr mit den Resten seiner Truppen in Susa ein, der persischen Kapitale. Es ist, nach gut einer Dekade und wohl 25 000 Kilometern Fußmarsch, das Ende seines Eroberungszuges gegen das Perserreich - einer Expedition von nie gekannten Dimensionen.
Der Makedone hat einen Raum durchmessen, der sich von Griechenland bis nach Indien, von Nordafrika bis nördlich des Hindukusch ausdehnt, hat Gebiete betreten, in die noch kein Europäer zuvor gelangt ist. Er hat ein neues gigantisches Reich geschaffen, das größte der Antike.
Und dabei das Wissen des Abendlandes über fremde Regionen und Kulturen auf eine Weise geweitet, die die Geschichte noch Jahrhunderte prägen wird.