Das neue Haus. Es soll das schönste werden in der Via Giulia, Roms Prachtstraße nahe dem Tiber. Kolossale Pilaster auf allen vier Seiten gliedern die Fassade, wie man es bei noch keinem der vielen römischen Luxuspaläste gesehen hat. Doch niemand soll sich beim Anblick dieses Hauses erdrückt fühlen. Es wird sich, so sehen es die Pläne vor, harmonisch einfügen in die Baulücke an der Straßenecke; der spitze Winkel wird gekappt, beide Frontseiten erhalten die gleiche Anzahl Fenster.
Hinter einem dieser Fenster wird dann abends der Architekt und Bauherr sitzen und auf San Giovanni dei Fiorentini schauen, die Kirche, die gegenüber errichtet wird. Die Glocken werden läuten und die reichen Römer aus dem Viertel zur Messe herbeiströmen. Natürlich werden sie kurz innehalten und sich umdrehen. Sie werden die Köpfe zusammenstecken und den Namen des Besitzers nennen: Raffaello Santi, Raffaello da Urbino, Liebling der Götter und Gönner. Hätten wir nur auch ein Werk von ihm.
Noch existiert das raffinierte Künstlerhaus mit Innentoiletten und geschweifter Badewanne in diesen Vorfrühlingstagen des Jahres 1520 nur in den Zeichnungen, die Raffael in seinem Haus auf der anderen Tiberseite skizziert hat. Hier, einen Steinwurf von der wachsenden Basilika Sankt Peter entfernt, wohnt und arbeitet der Maler und Baumeister seit 1517 im vornehmen Palazzo Caprini, den sein Freund und Förderer Bramante entworfen hat.
Donato Bramante, der Baumeister von Sankt Peter, hat Raffael 1508 aus Florenz nach Rom geholt, auf Wunsch des Papstes Julius II., der für die opulente Inszenierung seines Machtanspruchs über Kirche und Welt ein neues Talent suchte. Der berühmte Michelangelo war mit einem gigantischen Grabmal für Julius und mit der Decke der Sixtinischen Kapelle voll ausgelastet, außerdem gerieten die beiden gleichermaßen sturen Männer ständig aneinander. Michelangelo wusste genau um seinen Rang und seine Unersetzbarkeit und ließ dies den Papst auch spüren.
Julius brauchte also dringend ein junges Genie, einen ambitionierten Künstler, williger als der Florentiner Bildhauer, aber begabt genug, um für große Ideen große Bildlösungen zu finden.
Das war die Chance, auf die Raffael, 1483 geboren, immer gewartet hatte. In Urbino, in Perugia und auch in Florenz hatte er alle Möglichkeiten ausgeschöpft, hatte gelernt, was zu lernen war. Früh schon hatte er seinen Vater beim Farbenmischen beobachtet, war dem Himmelsmaler Pietro Perugino an die Altarwände in Umbrien gefolgt, hatte schließlich in Florenz die Pinselführung der Großmeister genauestens studiert: Statt auf göttliche Eingebung zu warten, schlich er sich in Ausstellungsräume, schaute und studierte die Entwürfe Leonardos und Michelangelos für Schlachtenfresken, die den Palazzo della Signoria schmücken sollten.
Er begriff schnell, wie sich die Körper seiner Figuren zu drehen und wenden haben, damit sie lebendig wirken wie bei Leonardo; wie Bewegung und Mimik zusammenspielen müssen, damit sie die Regungen des Geistes und der Seele ausdrücken können.
Und er lernte von Michelangelo, den Aktfiguren Kraft zu verleihen, als wären sie stark wie der Marmor der antiken Statuen, die gerade überall wieder aus tiefen Schutt- und Erdschichten befreit wurden.
Raffael ist 25, als Julius ruft. Der Maler lässt alles stehen, auch halb fertige Werke, und reist nach Rom.
Er erlebt eine Stadt im Umbruch, klei- ner und provinzieller als Florenz. Sie zählt gerade einmal 40000 Einwohner, kaum mehr als die Zahl der Herdentiere, die zwischen den Ruinen des antiken Rom grasen. In diesem Verfall aber sprießt neues Leben: Julius II. fördert den Palastbau und lässt die alten Monumente und Skulpturen erforschen und restaurieren.
Im Herbst 1508 trifft Raffael in Rom ein. Er ist zur rechten Zeit am rechten Ort.
Raffael zeichnet wie ein Besessener
Als erstes soll er auf Geheiß des Papstes ein Fresko auf eine Wand in der neuen Bibliothek des Vatikans malen, der später so genannten Stanza della Segnatura. Das Bildnis trägt den Titel „Disput über das Sakrament“. Kirchenväter, Päpste, Philosophen und Theologen versammeln sich hier um einen Freiluftaltar. Auf Wolken gebet- tet, sitzen über ihnen die Protagonisten der Bibel zu Füßen Jesu Christi, der von Maria und Johannes dem Täufer flankiert wird. Die strenge Vertikale in der Mitte verbindet die Dreifaltigkeit Gottvater, Sohn und Heiliger Geist mit der Hostie auf dem Altar.
Raffael geht bei diesem Projekt behutsam vor. Bis dahin hat er fast ausschließlich in Öl gemalt, nun muss er freskieren – was schwieriger ist, denn die Pinselstriche lassen sich nach dem Auftragen auf den noch frischen Putz nicht mehr korrigieren. Also zeichnet er wie ein Besessener, allein vom „Disput“ macht er etwa 300 Entwürfe. Beim Skizzieren gewinnen die abstrakten Vorgaben nach und nach immer konkretere Formen.
Schnell entschließt er sich, entgegen der Tradition, die Personifikationen der Theologie, Poesie, Philosophie und Jurisprudenz an die Decke zu verbannen. So gewinnt an den Wänden die Handlung an Realität: Die Figuren versinnbildlichen nicht nur etwas, sie agieren, gestikulieren, diskutieren. Wie leibhaftig treten die historischen Persönlichkeiten in den Raum.
In bis dahin unbekannter Weise lässt Raffael all die Kirchenväter, Päpste, Propheten und Jünger Jesu gemeinsam auf die Bühne seiner Malerei treten. Das Stück, das die Gottesmänner aufführen, handelt von der Einheit in der Vielfalt. Die Theologen mögen zwar streiten, dennoch sind sie in der Anbetung Jesu Christi ein Herz und eine Seele. Zu sehen ist eine Kirche, die aus vielen Gliedern besteht – so, wie es schon Paulus im ersten Korintherbrief gefordert hat.
In weiteren Werken an den Wänden der Stanza della Segnatura zeigt Raffael, was und wen Julius unter dem Dach der Kirche noch alles versammelt. Gegenüber dem „Disput“ malt er die „Schule von Athen“.
In einer für damalige Verhältnisse futuristisch anmutenden Tempelarchitektur scharen sich die großen Denker der Antike um Platon und Aristoteles, die in der Renaissance als Vorgänger von Petrus und Paulus verstanden werden.
Die Künstler sieht Raffael aufseiten der Mathematik und Naturwissenschaft: Der Mathematiker Euklid etwa trägt die Züge von Bramante. Hinter ihm schaut dessen aufgeweckter junger Schüler den Betrachter rundheraus an – Raffael, stets auch Werbefachmann in eigener Sache, hat hier sein Selbstbildnis eingefügt.
Natürlich gehören zum idealen Hofstaat neben Kirchenleuten, Gelehrten und Künstlern auch die Dichter, Musen und alten Götter: Raffaels Literatentreff rund um den Gott Apoll auf dem Fresko „Parnass“ verspricht dem Betrachter ein Goldenes Zeitalter, ein irdisches Paradies der Poesie unter dem Regnum von Julius II., der sich auch mit Apoll persönlich seelenverwandt wähnt.
Und der Maler geht mit seiner Huldigung noch weiter. Er umwirbt Julius mit einer Raffinesse, die nur Eingeweihte verstehen. Die kosmische Kugel an der Decke der Stanza zeigt genau jene Konstellation der Sterne, die um den 31. Oktober 1503, den Tag der Krönung von Julius, über Rom zu sehen war.
Der Papst ist begeistert. Gleich nachdem er Raffaels erste Arbeit in der Bibliothek gesehen hat, entlässt er alle anderen Künstler und befiehlt die Vernichtung ihrer Werke, auf dass sein neuer Favorit mehr Platz bekomme. Raffael erhält in einer ersten Zahlung 100 Dukaten, doppelt so viel wie andere Maler.
Nichts könnte Michelangelo, den anderen Hofkünstler, mehr erzürnen. Der acht Jahre Ältere ist tief getroffen von der Begeisterung des Papstes für den jungen Konkurrenten.
Nach wie vor sitzt ihm in den Knochen, dass ihm Julius 1506, noch vor Beginn der eigentlichen Bauarbeiten an dessen monumentalem Grabmalprojekt, einfach die Bezüge gestrichen hat. Michelangelo war sich ganz sicher, wem er das zu verdanken hatte: Bramante und dessen Hinterlist – hatte der Hofarchitekt doch Julius II. immer wieder darauf hingewiesen, welch schlechtes Omen es sei, schon zu Lebzeiten das eigene Grabmal in Auftrag zu geben.
Nun also, zwei Jahre später, sind Bramante und Raffael ein Bündnis eingegangen. Ausgerechnet im Vatikanpalast, wo Michelangelo sich mit steifem Nacken hoch oben auf dem Gerüst an den rund 1000 Quadratmetern Decke der Sixtinischen Kapelle abquält, nachdem ihn der Papst mit einem Vorschuss wieder nach Rom gelockt hat. Was sind dagegen schon die paar leichten Wandfresken, mit denen der Jüngere seine Erfolge erringt!
Raffael kann es nicht erwarten, Michelangelos Arbeit in die Sixtina zu sehen. Noch ehe das Fresko fertig ist, schleicht er sich in die Kapelle, um schon vor der Sperrfrist neue Bildideen übernehmen zu können.
Michelangelo erfährt davon und ist außer sich vor Wut. Doch er kann nicht verhindern, dass Raffael in der „Schule von Athen“ etliche Figuren aus der Sixtina zitiert. „Raffael verdankt seine Kunst nicht seiner Veranlagung, sondern langen Studien“, grollt der Ältere: „Alles, was er in der Kunst hat, hat er von mir!“
Auch hier sind Gegensätze nicht aufgelöst, sondern im Kirchengebäude vereint: Der Experte für Göttliches (Platon) und der Anwalt des Natürlichen (Aristoteles) gestikulieren zwar heftig, aber sie halten dabei engen Kontakt.
Michelangelo und Raffael könnten kaum unterschiedlicher sein
Ganz falsch liegt er mit diesem Urteil nicht. Tatsächlich verdankt Raffael seinen rasanten Aufstieg auch seiner enormen Aufnahmefähigkeit und Lernbereitschaft. Die Strategien der zwei Künstler könnten unterschiedlicher nicht sein: Hier Michelangelo, das einsame Genie, das alles aus sich selbst schöpfen will und als Autoritäten nur die Antike und den verstorbenen Giotto anerkennt.
Dort Raffael, der kooperative Schüler, der das jeweils Beste der anderen verstehen und in sein eigenes Werk zu integrieren versucht. Wo Michelangelo zeitlos sein will, ist Raffael erst einmal vor allem: Zeitgenosse.
Dabei erweist sich der Mann aus Urbino als hochmoderner Renaissancemensch. Wie der zu sein hat, beschreibt der Schriftsteller Baldassare Castiglione in seinem Buch „Der Hofmann“, der einflussreichsten Benimmlehre der frühen Neuzeit. Nicht zufällig wird in diesem Buch Raffael gleich mehrfach gelobt.
Ein perfekter Mann bei Hofe, so Castiglione, ist kein rauer Krieger, sondern liebenswürdig, redegewandt, von gepflegter Erscheinung. Er gibt sich graziös und anmutig, so wie es auch Raffael nachgesagt wird.
Er dichtet, und er verehrt die Frauen – wie Raffael, der eine Sammlung hochgebildeter Liebesgedichte hinterlässt und angeblich oft nur in Anwesenheit einer bella donna malen kann.
Wichtigste Eigenschaft des Höflings aber ist die sprezzatura, eine unangestrengte Lässigkeit, mit der er harte Arbeit kaschiert und die sein Tun mühelos erscheinen lässt.
Genau dies ist Raffaels Strategie: fleißig sein und vor jedem Gemälde viel zeichnen, gründlich fremde Bilder und Bücher studieren – doch hinterher so tun, als wäre alles ein Kinderspiel. Und niemals eine Einladung der besseren Gesellschaft wegen Arbeitsüberlastung absagen.
Raffael und Castiglione sind befreundet. So eng, dass der Schriftsteller dem Maler als Ghostwriter hilft, wenn der andere mit gelehrten Briefen beeindrucken will.
Raffael revanchiert sich mit einem seiner anrührendsten Porträts, einem Schlüsselwerk der Renaissance. Blickfang dieses Bildes sind die tiefen meeresblauen Augen, die das Innenleben des aufrecht sitzenden Dichters zu spiegeln scheinen. Sie sind die einzigen Farbtupfer – ansonsten trägt Castiglione als Zeichen seiner Bescheidenheit genau jene Schwarz- und Grautöne, die er im „Hofmann“ empfohlen hat.
So viel Zurückhaltung verstärkt nur den Eindruck von Eleganz: Der Samtstoff schmiegt sich um die Schultern, der Hut betont den Kopf des Denkers und verdeckt dessen Glatze. Ganz ohne Statussymbole verkörpert Castiglione das neue Selbstbewusstsein dieser Epoche.
Wer Raffael Modell sitzt, der erhält ein Porträt, dass „ihm mehr gleicht als er sich selbst“, so Castiglione. Es ist ein Privileg, das der Maler nur engen Vertrauten und großen Gönnern zukommen lässt.
Nun war der Papst 1515, in jenem Jahr, als Raffael dieses Fresko malte, tatsächlich gerade damit beschäftigt, einen Widersacher am Ausbruch aus der einen selig machenden Kirche zu hindern. Der französische König Ludwig XII. bekriegte damals den Heiligen Vater in Oberitalien und wollte ihn ein für alle Mal von seiner Sänfte holen. Deshalb mobilisierte er profranzösische Kardinäle zu einem Konzil in Pisa.
Dieser Allianz aus politischer Macht und klerikaler Selbstbehauptung ging es nicht nur gegen diesen einen Pontifex, sondern gegen die plenitudo potestatis, die Machtfülle der Päpste an sich.
Doch der Umsturzversuch scheiterte, die Aufsässigen mussten klein beigeben; Julius blieb im Amt und berief ein eigenes Konzil unter seiner Aufsicht. Und Raffael zeigte in seinem Fresko, was Julius geholfen hatte: Es war Gottes Beistand, den in vollem Maße einzig und allein dessen Stellvertreter genießt. Ohne die Gegenwart des Papstes wäre der Tempel von den abtrünnigen Gläubigen geplündert worden – und ohne himmlische Hilfe hätte der Papst die Spaltung der Kirche nicht verhindern können.
Gott schützt den Papst, der Papst schützt die Welt: Das verkünden auch die anderen Fresken in dem Audienzzimmer. Da wird Petrus von Engeln aus dem Kerker befreit – niemand, so die Botschaft, auch kein König oder Kardinal, solle sich also einbil- den, er könne sich Übergriffe gegen einen Stellvertreter Christi erlauben.
Ein weiteres Bild, die „Messe von Bolsena“, zeigt, wie ein zweifelnder Priester 1263 vom Wunder der Eucharistie überzeugt wird: Während einer Messe tropft das Blut Christi aus einer Hostie – ein Anblick, der alle innerkirchlichen Bedenkenträger für immer zum Schweigen bringen soll. Denn so wie im Brot der Messfeier Christus real anwesend ist, so manifestiert sich auch das Göttliche auf Erden in der Person des Papstes: Das meinen jedenfalls die Cheftheologen von Julius II.
Noch deutlicher wird die Botschaft im letzten Fresko, der „Begegnung Leos des Großen mit Attila“. Hier muss der Hunnenkönig nur seinen Blick gen Himmel richten, um zu erkennen, wer ihn aus dem Feld treibt: Die Apostel Petrus und Paulus eilen von dort mit gezückten Schwertern herbei, dem Papst Leo und dessen Truppen zu Hilfe.
Die Begegnung zwischen Papst und Hunnenkönig hat zwar bereits im 5. Jahrhundert stattgefunden, in seinem Fresko aber hilft Raffael ein wenig nach und aktualisiert die Geschichte. Bei ihm stellt die Hauptfigur zwar den historischen Leo I. dar – aber dessen Gesichtszüge erinnern an Julius II.: Die ausländischen Botschafter sollen wissen, woran sie sind, wenn sie in dem Raum auf eine Audienz warten.
Doch dann stirbt Julius 1513. Und zu seinem Nachfolger wird Leo X. aus der Familie der Medici gewählt – woraufhin sich Raffael beeilt, das Konterfei der Hauptfigur zu ändern, sodass Leo I. alias Julius II. nun die Züge von Leo X. trägt.
Noch eine Änderung bringt er an: Die Papstfigur streckt jetzt die Hand zur Friedensgeste aus. Denn das ist das große Versprechen des neuen Pontifex: Er will die Christenheit in Frieden einen. Der Medici-Papst will halten, was sein Name verspricht – als medico, als Arzt, zu wirken.
Es sind vor allem die Gebildeten, die Humanisten, Literaten, Künstler und gelehrten Kaufleute, die große Hoffnungen in den Sohn des Florentiner Bankiers, Politikers und Mäzens Lorenzo de’ Medici setzen. Und tatsächlich macht Leo die Künste zu seiner Sache. Raffael bleibt Hofkünstler, bekommt sogar noch einige Ämter hinzu: So wird er nicht nur als Nachfolger des 1514 gestorbenen Bramante Baumeister von Sankt Peter, sondern auch oberster Denkmalschützer für das antike Erbe in Rom.
Wandteppiche für die Sixtinischen Kapelle
Er hat jetzt dermaßen viel zu tun, dass er die Malereien der restlichen beiden Stanzen zum Großteil Männern aus seiner Werkstatt überlässt. Wichtiger ist jetzt ein neuer Auftrag von Leo X.: Er soll Vorlagen für golddurchwirkte Tapisserien entwerfen. Damit dringt Raffael in das Herz des Vatikans vor, denn die Wandteppiche werden in der Sixtinischen Kapelle hängen, die Klerikern wie Künstlern heilig ist.
Nach fünfjähriger Vorbereitung werden die in Flandern gewebten Tapisserien am 26. Dezember 1519 in der Sixtina aufgehängt. Kaum ein Besucher legt jetzt noch (zu Raffaels Genugtuung) den Kopf in den Nacken, um zu Michelangelos Deckengemälde aufzuschauen – denn alle sind wie geblendet von Raffaels Bildideen, die in schimmernder Seide an den Wänden glänzen.
Der Künstler hat das edle Material wirkungsvoll mit schlichter Formensprache kontrastiert. Sein Thema sind die Taten der Jünger Christi, die das alt- und neutestamentarische Bildprogramm der Fresken in der Kapelle vervollständigen. Den Auftakt bildet natürlich der Ahnherr aller Päpste, der Menschenfischer Petrus. Raffaels Komposition lässt keinen Zweifel daran, dass es Petrus allein ist, der draußen auf dem See Genezareth das Wort und den Segen Christi empfangen hat.
Leo X., dessen Lebensgeschichte die Bordüren der Teppiche erzählen, hat allen Grund, die Einzigartigkeit des Petrus-Amtes hervorzuheben.
Denn er hat mit machthungrigen Kardinälen zu kämpfen – 1517 ist er nur knapp einem von Kirchenfürsten organisierten Giftmord entgangen. Kurz darauf hat er 31 neue, ihm ergebene Kardinäle berufen.
In dieser Situation lässt sich Leo von Raffael porträtieren – gemeinsam mit seinem Cousin Giulio, einem Kardinal, den er sich als Nachfolger wünscht. Ebenjener Giulio de’ Medici hat Raffael bereits vor eine ganz besondere Herausforderung gestellt: Der Kirchenfürst hat bei dem Maler eine großformatige Altartafel zur „Verklärung Christi“ für eine französische Kathedrale geordert – und zugleich ein Bild für den gleichen Altar bei einem Freund von Raffaels erbittertstem Konkurrenten Michelangelo in Auftrag gegeben. Ein solches Duell hat Rom noch nicht gesehen.
Der andere Maler ist der Venezianer Sebastiano del Piombo, denn Michelangelo selbst hätte es als unter seiner Würde empfunden, offen gegen Raffael anzutreten. Außerdem hasst er, der Freskist, die Ölmalerei.
Sebastiano dagegen ist da ein anerkannter Experte. Michelangelo nimmt die Herausforderung aber indirekt an und steuert für Sebastianos Wettbewerbsgemälde eigenhändig Entwurfszeichnungen bei. Für Raffael ist das Grund genug, alle Welt wissen zu lassen: In diesem Wettkampf werde er Michelangelo persönlich besiegen.
Sebastiano geht sofort ans Werk und berichtet Michelangelo von seinen Fortschritten. Raffael dagegen unternimmt zunächst nichts. Irgendwann aber werden Sebastianos Bildideen bekannt, eine so große Holztafel lässt sich in Rom nicht geheim halten.
Jetzt geht Raffael vor wie immer: Er studiert die Arbeit der Konkurrenz und macht sich voller frischer Eindrücke ans Werk. Im Frühling 1520 ist seine „Verklärung Christi“ fast fertig. Wieder einmal zeigt sich Raffael als Dramatiker, der Himmlisches und Irdisches in einem Bild vereint.
Leo X. bricht in Tränen aus
Doch die Enthüllung des Werkes Mitte April 1520 kommt für den Maler zu spät, zu spät auch die Nachricht, dass Kardinal Giulio sein Bild besser gefällt als das Piombos.
Denn am 22. März fiebert Raffael stark. Vermutlich hat er sich beim Bergen antiker Kunstschätze auf sumpfigem Gelände mit Malaria infiziert.
Die herbeigerufenen Ärzte diagnostizieren eine Erkältung und lassen ihn zur Ader. Ohne Erfolg: 15 Tage später stirbt Raffael, genau an seinem 37. Geburtstag.
„O Elender, in der Blüte deines Lebens fällst du!“, ruft der entsetzte Castiglione. Leo X. bricht in Tränen aus und lässt Raffaels Leichnam unter dessen „Verklärung“ im Vatikanischen Palast aufbahren und dann im Pantheon beerdigen – eine Ehre, die noch keinem Künstler widerfahren ist.
So bleibt Raffaels Haus in der Via Giulia ein Entwurf. Wie wäre es ihm dort ergangen, hätte er länger gelebt?
Vermutlich wären all seine großen architektonischen, urbanistischen und künstlerischen Pläne sieben Jahre später zerborsten. Denn im Mai 1527 erobern deutsche und spanische Landsknechte Rom, morden, plündern und brandschatzen.
Papst Clemens VII., ebenjener frühere Kardinal Giulio de’ Medici, hat im Kampf um die Vorherrschaft in Italien erfolglos versucht, den deutschen Kaiser Karl V. gegen den König Frankreichs Franz I. auszuspielen.
So wie er einst bei zwei Künstlern parallel zwei Werke bestellte, so verhandelt er als Papst nun zugleich mit den verfeindeten europäischen Mächten. Als er sich schließlich doch noch auf die Seite der Franzosen stellt, greifen die Söldner des Kaisers die Ewige Stadt an.
Und während dieses sacco di roma, der Plünderung Roms, sendet ihm kein Fürst und kein König Hilfstruppen. Als Erstes plündern die Landsknechte die sakralen Kunstwerke. Die Papstfiguren in Raffaels Stanzen verlieren ihre Häupter (sie werden später restauriert), ein deutscher Söldner kratzt, animiert von protestantischen Flugblättern, den Namen Luthers in den „Disput“. Die Wandteppiche aus der Sixtina werden gestohlen, einer zerstört, um die Goldfäden aus der Seide zu lösen.
Der Kupferstecher Raimondi verliert sein Hab und Gut, kann aber in letzter Minute fliehen. Der Drucker Baviera überlebt und rettet die Kupferplatten des Meisters vor der Zerstörung. Raffaels Gegenspieler Sebastiano del Piombo flüchtet gemeinsam mit Clemens VII. in die Engelsburg und bleibt dort ein halbes Jahr eingesperrt.
Mit der Pracht und Selbstgewissheit der Renaissancejahre ist es in Rom damit vorbei. Nach den Ereignissen vom Mai 1527 ist die Stimmung in der Stadt gedrückt. Manch einer sieht in dem sacco eine Strafe Gottes für die Ausschweifungen der vergangenen Jahrzehnte, für den Prunk der Päpste und die Verweltlichung der Kurie.
Als erster Künstler erkennt Michelangelo die Zeichen der Zeit; sein 1541 fertig gestelltes „Jüngstes Gericht“ in der Sixtina beendet das Harmoniestreben einer ganzen Epoche. Zu spüren ist jetzt ein religiöser Fundamentalismus, der den nahen Weltuntergang predigt.
Mit diesem gewaltigen Fresko wird der über 60-Jährige zum Protagonisten einer neuen Kunstbewegung, des Manierismus.
Nun preisen die Bilder nicht mehr den Einklang mit der Natur, sondern haben die überdrehten Zustände, die äußerste Gefährdung, den Kampf um das Seelenheil zum Thema.
Diesen Weg geht der im Alter immer gottesfürchtigere Michelangelo bis zu seinem Tod 1564 konsequent weiter – in seinen monumentalen Entwürfen für Sankt Peter wie in seinen manieristischen Fresken der Cappella Paolina im Vatikanspalast.
Raffaels Welt des Guten, Wahren, Schönen aber ist für immer untergegangen.