Die Ordnung der Zeit von Carlo Rovelli, empfohlen von GEO-Redakteur Klaus Bachmann
Wann, wenn nicht jetzt, haben wir Zeit, über die Zeit nachzudenken. Als großen Strom empfinden wir sie, der unaufhaltsam dahinfließt und in dem wir mitschwimmen wie die Fische im Wasser – vom Gestern ins Morgen. Aber ist das wirklich so? Tickt da wirklich eine kosmische Uhr, an deren Lauf entlang sich die Ereignisse entfalten?
In seinem Buch „Die Ordnung der Zeit“ zeigt Carlo Rovelli, Physiker an der Universität Marseille, dass die Zeit anders funktioniert als wir denken. Dass es kein universales Jetzt gibt, sondern wir alle in unserer individuellen Zeitblase leben. Mit poetischer Sprache führt uns der Autor durch die Gedankenwelt von Newton und Einstein, macht uns vertraut damit, wie die Zeit im Reich der Quanten zerbröckelt. Und untersucht, wie trotzdem bei uns Menschen der Eindruck einer kontinuierlich verrinnenden Zeit entsteht – bedingt durch unsere eingeschränkte Wahrnehmung der Welt. Rovelli verzichtet auf Formeln, arbeitet mit eingängigen Metaphern. Der außergewöhnlich belesene Wissenschaftler liefert damit eine ungeheuer anregende Lektüre über eines der großen Welträtsel
„Die Ordnung der Zeit“ erschienen bei Rowohlt, 192 Seiten.
Pest! Eine Spurensuche, empfohlen von GEO-Redakteur Siebo Heinken
Die Corona-Pandemie macht vielen Angst und bereitet Sorge. Umso interessanter ist ein Blick in die Geschichte, als die Menschen in Europa mit einer Seuche ganz anderen Ausmaßes umgehen mussten. Im LWL-Museum für Archäologie in Herne läuft zurzeit die Ausstellung „Pest! Eine Spurensuche“. Der grandiose, fast 700 Seiten umfassende Katalog zeigt nicht nur die wegen Corona gerade leider nicht zu sehenden Objekte, sondern führt mit 28 verständlich geschriebenen Aufsätzen vor allem ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit, als die Pest die Geschichte unseres Kontinents wesentlich schrieb.
Man erfährt zum Beispiel, wie es zu der furchtbaren Krankheit kam, wo sie besonders wütete, welche Erklärungen die Menschen für sie fanden und wie sie die wohl größte Naturkatastrophe aller Zeiten zu managen versuchten, welche Lehren sie daraus zogen. Wer Teile der Ausstellung dennoch erleben möchte, kann an den Online-Führungen „Die Pest auf Sendung“ teilnehmen – etwa über den Vergleich von Pest und Corona.
Der Katalog ist bei wbg Theiss erschienen, kostet 40 Euro und kann über jede Buchhandlung geordert werden (unterstützen Sie gerade jetzt den lokalen Handel, der trotz Corona oft Bestellungen annimmt!). Der Online-Shop des Museums in Herne ist zurzeit geschlossen. Nach Wiedereröffnung wird das Buch dort rabattiert zu erstehen sein.
Die Romantherapie – 253 Bücher für ein besseres Leben von Ella Berthoud und Susan Elderkin, empfohlen von GEO-Redakteurin Ines Possemeyer
Wie gut ist es in diesen Zeiten, ein medizinisches Handbuch zuhause zu haben. Am besten "Die Romantherapie" von Ella Berthoud und Sudan Elderkin: Von Abschied bis Zurückweisung bieten die Autorinnen zu hunderten Stichworten Arzneimittel aus dem Fundus der Literatur – zusammengestellt mit viel britischem Humor.
Wer im Lockdown nicht aus den Federn kommt, findet etwa unter "Bett; unfähig es zu verlassen" die Empfehlung, zu Oblomow von Iwan Gontscharow zu greifen: Das Porträt eines zu vollkommener Faulheit degenerierten russischen Adligen lasse einen irgendwann entsetzt nach den Joggingschuhen greifen. Als Kur gegen Arbeitslosigkeit könnte About a boy von Nick Hornby dienen: Der Protagonist unterteilt seine leeren Tage in leicht zu füllende 20-Minuten-Häppchen. Gegen Fernweh dürfte Tilman Rammstedts Der Kaiser von China helfen – eine skurril-anrührende Reise, die unter einem Schreibtisch erlogen wurde. Und die Sehnsucht nach Partys kann man mit So was von da stillen: Clubbesitzer und Autor Tino Hanekamp lässt seine Leser auf 304 Seiten mitfeiern, mittrinken, mittanzen.
Mit der Romantherapie lässt sich das Bücherregal in einen Medizinschrank verwandeln. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte Ihren Buchhändler. Der liefert Ihnen die Arznei auch kostenlos nach Hause.
"Die Romantherapie – 253 Bücher für ein besseres Leben" ist im Insel Verlag erschienen, 431 Seiten
Das größere Wunder von Thomas Glavinic, empfohlen von GEO Digital-Redaktionsleitung Julia Großmann
Jonas ist auf einer rastlosen Suche nach Sinn. Er bereist die Welt, lebt in Tokio und Oslo, kauft verfallene Wohnungen in Rom oder lässt sich auf einer einsamen Insel nieder. All seine Stationen und die Gründe für seine Rastlosigkeit verrät uns Jonas während des Versuchs, den Mount Everest zu besteigen. Geprägt von Sauerstoffmangel, Todesfällen und Wetterumschwüngen bahnt sich Jonas seinen Weg zum Dach der Welt und gewährt uns Einblicke in sein vergangenes Leben. Angefangen bei seiner außergewöhnlichen Kindheit, die er größtenteils gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Mike und Freund Werner bei Picco, einem liebevollen Mann mit Hang zu dubiosen Geschäften, verbracht hat. Bis das Idyll jäh zerstört wurde und Jonas in 100 Länder trieb, stets auf der Flucht vor jenen Gedanken, die er jetzt zulässt, und auf der Suche einem Ort, an dem er zur Ruhe kommen kann. Als Marie in sein Leben tritt, scheint er Letzteren endlich zu finden. Doch auf dem Everest ist er allein, die Zukunft mit Marie in weiter Ferne und Jonas steuert willentlich auf ein extremes Ende seiner rastlosen Reise zu.
„Das größere Wunder“ von Thomas Glavinic ist spannend und melancholisch zugleich, es vereint Angst und Einsamkeit mit Liebe und Freiheit. Themen also, die viele von uns dieser Tage beschäftigen und umtreiben dürften.
„Das größere Wunder“ erschienen bei Carl Hanser Verlag, 528 Seiten
Leben, schreiben, atmen von Doris Dörrie, empfohlen von GEO-Wissen-Redakteur Bertram Weiß
Doris Dörrie ist eine höchst vielseitige Autorin und Filmemacherin. Mit diesem kleinen Buch gibt sie Einblick in ihre Kreativität. Zu Recht steht es auf den Bestsellerlisten. Es ist eine Einladung – und konkrete Anleitung – zu schreiben, um auf kreative und simple Weise sich selbst besser wahrzunehmen.
Dörries Rezept: „Der Schlüssel zum Schreiben ist, nicht nachzudenken, um die Inspiration nicht zu unterbrechen. Probier es aus: Schreib los, Jetzt!“. So einfach soll es sein? Ja, Dörrie macht es hinreißend ehrlich vor: Dieser Band vereint viele kleine, persönliche Geschichten aus ihrer Biografie. Erinnerungen aus dem Leben einer Künstlerin. Jede für sich erscheint unbedeutend. Doch alle zusammen machen Lust, das eigene Leben auszuloten, darüber nachzudenken, vielleicht sogar zu schreiben. Denn, so sagt Dörrie: Beim Schreiben ist man „mit einem Mal dort, wo einem niemand zuschaut. Ganz bei sich. Ruhig weiteratmen! Weiterschreiben. Weitermachen. Jeder Tag ist ein guter Tag. Ha!“
In der Ausgabe von Nr. 67 GEO WISSEN erzählt Doris Dörrie, wie sie alljährlich ein Zen-Kloster in der Schweiz besucht, in die Stille geht und sich selbst überrascht.
"Leben, schreiben, atmen" erschienen bei Diogenes, 288 Seiten
Die Geschichte der Bienen von Maja Lunde, empfohlen von GEO-Textpraktikantin Johanna Haensel
Eine Welt ohne Bienen – wie würde sie aussehen? Hunger, egal wo man hinblickt, bittere Armut auf der ganzen Erde, Menschen, die wie Ameisen zu Tausenden auf Bäumen hocken und sie mit Pinsel und Pollen per Hand bestäuben. Vom Bienensterben reden Forscher und Umweltschützer schon länger, doch trotzdem ist kaum jemandem wirklich bewusst, was es für uns bedeuten würde, wenn die kleinen gestreiften, im Sommer auch manchmal lästigen, fliegenden Insekten plötzlich von der Erde verschwunden wären. Was für die meisten wie ein zum Abschrecken dienendes Horrorszenario klingt, ist zwar noch nicht Realität, aber wie nah wir an dieser möglichen Zukunft sind, beschreibt niemand eindrücklicher und dennoch weniger missionarisch als Maja Lunde in ihrem Roman.
Ein Biologe und Samenhändler in England im Jahr 1852, ein Imker aus Ohio 2007 und eine Arbeiterin aus China im Jahr 2098 – drei Lebensgeschichten erzählt sie, deren Schicksal über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit dem der Bienen verbunden ist. Sachbuchähnliches, fundiertes Wissen vermittelt in einem Roman durch authentische Charaktere, die einen fesseln und mitfiebern lassen. Und am Ende bleibt trotz düsterer Prognosen Optimismus, Hoffnung und der unmissverständliche Handlungsaufruf, unser Schicksal in die Hand zu nehmen und das Ruder noch herumzureißen.
"Die Geschichte der Bienen" erschienen im btb Verlag, 528 Seiten
Zornfried von Jörg-Uwe Albig, empfohlen von GEO-Textchefin Katharina Priebe
Die großen und kleinen Faschisten unseres Landes befinden sich derzeit, wie alle, in der Zwangspause und nerven höchstens ihre armen Verwandten. Wie erholsam: den Fernseher einzuschalten und keine Nazis zu sehen; die Zeitung aufzuschlagen und kein einfühlsames Rassisten-Porträt zu lesen. Wie es noch vor wenigen Wochen war, beschreibt der Roman „Zornfried“ des (Geo-) Autors Jörg-Uwe Albig: Er stellt sich, urkomisch und hundsgemein, vor, wie solche fahrlässigen Homestorys entstanden sein müssen. Diese spielt im Spessart auf einer Burg namens Zornfried: Dort soll der völkische Dichter Storm Linné leben, im Schoße seiner Gleichgesinnten. Der Journalist Jan Brock, von Neugier und Sendungssucht getrieben, reist zur Burg und stolpert tiefer und tiefer in diese Welt, trinkt - in verdammt kritischer Distanz - Sekt mit der rechten Tafelrunde und wird Komparse eines Stücks, das er nicht durchschaut. Dann taumelt er durch den deutschen Wald und … ach, nicht zu viel verraten. Nur eines sei noch erwähnt: die Gedichte, die Albig dem nationalen Poeten auf den Leib gedichtet hat - virtuos und in perfektem Versmaß: „Dort wo der fuchs in scharfer waid den hasen schlägt / Wo raupen-schmaus erstirbt durch schnabels wucht / Wo grauer rudel hunger nachts durch tannen schnürt / Der kitze frevelzahl im fraß zu bannen sucht / Dort wächst die einheit die aus zwietracht lebt“.
Wäre es nicht so schaurig, man könnte sich kaputtlachen.
"Zornfried" ist erschienen bei Klett-Cotta, 159 Seiten
Verhalten bei Weltuntergang von Florian Werner, empfohlen von GEO-Redakteurin Gesa Gottschalk
Meine Konzentration reicht nicht weit an einem dieser Tage, der sich anfühlt wie ein Freitag, wahrscheinlich aber erst ein Mittwoch ist. Dieses Buch hat zum Glück nur 156 Seiten. Und es verzeiht, dass ich einfach mitten hineinspringe. Ich durchstöbere die Namen vergangener Antichristen (Nero, Napoleon, Bill Gates) und überprüfe, ob überhaupt etwas auf den Weltuntergang hindeutet: „Auf den Hauptstraßen schlafen fleischfressende Tiere“ – zählen die Ziegen, die gerade durch dieses Dorf in Wales stromern? Zwischendurch versenke ich mich in Nikolaus Heidelbachs gruselig-tröstliche Illustrationen. Nebenher lerne ich, wie oft die Menschheit schon dachte, in der Endzeit zu leben. Wahrscheinlich ist es auch diesmal nicht die Apokalypse – und wenn doch, stehen auf Seite 32 die wichtigsten Sätze auf Aramäisch. So kann ich mich mit dem Heiland unterhalten, wenn er zum zweiten Mal kommt: „Ein guter Tag, um die Kelter des Zorns zu treten!“ und „Reden Sie nicht so schnell, mein Aramäisch ist nicht so gut.“
"Verhalten bei Weltuntergang" ist erschienen im Verlag Nagel & Kimche, 176 Seiten
Mama Held – Jedes Kind hat ein Recht auf Familie von Kerstin Held, empfohlen von GEO-Redakteurin Vivian Pasquet
Es gibt Menschen, deren Erlebnisse für zwei Leben reichen – lange hielt ich diesen Satz für eine Floskel, schließlich ist so ein Menschenleben ziemlich lang. Seit ich Kerstin Held für eine GEO-Reportage begleitete, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Nicht nur, weil viele Leben in Helds Umfeld überhaupt nicht lang sind, sondern auch, weil ihr eigenes so unglaublich dicht ist. Kerstin Held ist 44 Jahre alt und hat in den letzten 19 Jahren insgesamt elf behinderte Pflegekinder aufgenommen. Kinder, die kaum atmen können, nicht selbstständig essen, wenig sprechen und oft früh sterben. Während Kerstin Held ein nahezu perfekt funktionierendes System aus Pflegekräften und Familie bei sich zu Hause organisiert, ist sie mit Michael Jackson um die Welt getourt, hat auch gesunde Pflegekinder aufgenommen und eines sogar adoptiert. Nebenbei kämpft sie dafür, dass jedes Kind das Recht auf eine Familie hat – nicht nur theoretisch, sondern im Gesetzbuch fest verankert.
GEO-Reportagen sind begrenzt, mir fiel die Auswahl, welchen Teil ihres Lebens ich erzählen möchte, damals sehr schwer. Jetzt hat Kerstin Held die ganze Geschichte selbst aufgeschrieben. Es ist ein spannendes, lustiges, trauriges, unfassbar inspirierende Zeugnis über Antrieb und Träume, Erfolg und Rückschlag, über das Leben und den Tod. Und über die Frage, was wirklich wichtig ist.
"Mama Held - Jedes Kind hat ein Recht auf Familie" ist erschienen im Kösel-Verlag, 240 Seiten
Ich bin Circe von Madeline Miller, empfohlen von GEO-Redakteurin Katharina Schmitz
„Ich bin Circe“ von Madeline Miller stellt eine maximale gedankliche Distanz zu Corona her: In den Palästen der Titanen, bei den Göttern des Olymps und auf einer einsamen Insel geht es um Macht, Magie und Männer, die in Schweine verwandelt werden. Tief unter der Erde wird Circe als Tochter des Sonnengottes Helios und der Nymphe Perse geboren. Ihre Eltern sind enttäuscht von Circes mangelnder Göttlichkeit, ihrer krächzenden Stimme. Von Beginn an passt sie nicht in das durchtriebene Leben am Hofe, wird verhöhnt. Sie beginnt zu rebellieren, entdeckt eine überraschende Gabe in sich – und wird auf eine einsame Insel verbannt, nachdem sie aus Eifersucht eine Nymphe in ein Seeungeheuer verwandelte.
Im Exil wird Circe immer mächtiger, mit der Zeit werden einige Größen der griechischen Mythologie bei ihr vorstellig. Schließlich landet auch Odysseus auf ihrer Insel. Es folgen anstrengende Jahre für Circe als alleinerziehende Mutter mit dem gemeinsamen Schreikind und später pubertierenden Telegonos. Von nun an hat sie täglich Angst um das Leben ihres Sohnes, eines Sterblichen. Und niemand Geringeres trachtet nach Telegonos‘ Leben als die Kampfgöttin Athene. Die Gegnerin lässt Circe endgültig über sich hinauswachsen: Sie erlangt eine Macht, die vor ihr niemand innehatte. Im Gegensatz zu ihren selbstsüchtigen Verwandten verspürt Circe Schuld und Verantwortung für ihre Taten, eine Schwäche in den Augen der anderen – und ein zutiefst menschlicher Zug. Dann taucht Penelope auf und Circe bemerkt zu spät, dass die Witwe des Odysseus sie nur für ihre eigenen Pläne benutzt.
Das Buch ist vor allem deshalb lesenswert, weil die Nacherzählung überraschend gut funktioniert und so ganz anders ist: Der Mythos des Odysseus zerbröselt beispielsweise zu einer Beschäftigungstherapie für einen ruhelosen, bedeutungssüchtigen Mann, der sich vor den Aufgaben im heimischen Hafen drückt. Miller lässt Circe ihre Geschichte selbst mit zynischer, verbitterter oder leidenschaftlicher Stimme erzählen, wodurch sie einen an vielen Stellen zum Lachen, an anderen zum Verzweifeln bringt und in einigen Momenten einen vor der Derbheit der göttlichen Welt zurückschrecken lässt.
„Ich bin Circe“ ist erschienen im Eisele Verlag, 528 Seiten