Berlin ist en vogue. In keiner deutschen Stadt wirken um 1800 mehr Künstler, Schriftsteller und Gelehrte, in keiner gibt es mehr Lesegesellschaften und private Bibliotheken, in keiner entwickelt sich eine vielseitigere Theaterszene.
Zu den anregendsten Intellektuellentreffen kommt es aber nicht in Bildungsvereinen oder Akademien, sondern in den Wohnungen junger jüdischer Damen: bei Teegesellschaften, zu denen sich Adelige und Bürger, Christen und Juden, Frauen und Männer einfinden, um gemeinsam die Bildung ihrer Persönlichkeit zu pflegen.
Erstaunt schreibt der Dichter Jean Paul 1801 in einem Brief aus Berlin: „Der Ton hier übertrifft an Unbefangenheit weit den Weimarschen. Der Adel vermengt sich mit dem Bürger, nicht wie Fett mit Wasser, auf welchem dieses immer oben schwimmt, sondern sie sind innig vereinigt. Gelehrte, Juden, Offiziere, Geheime Räte, Edelleute, kurz alles was sich an anderen Orten (Weimar ausgenommen) die Hälse bricht, fällt einander um diese und lebt wenigstens freundlich an Tee- und Esstischen beisammen.“
Mädchen dürfen nach wie vor nicht auf ein Gymnasium
Nirgendwo im Königreich Preußen gibt es eine größere Freiheit der Gedanken, nirgends einen derart ebenbürtigen Austausch zwischen den Geschlechtern und Konfessionen, einen solch geballten Hunger nach Selbstbildung.
Und doch sind die Intellektuellenzirkel in der Beletage nicht viel mehr als Kunstwelten für vielleicht 200 Freigeister. Kunstwelten, die wenig gemein haben mit der gesellschaftlichen Realität, in der es etwa Mädchen nach wie vor nicht möglich ist, auf ein Gymnasium zu gehen oder später die Universität zu besuchen.
Bewegt sind die Zeiten, in denen Preußens Kapitale zur Großstadt heranwächst. Die Französische Revolution stellt die Ständegesellschaft in Europa zur Diskussion. Unter dem Einfluss der Aufklärung kämpft in Berlin der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn für die politische und soziale Gleichstellung von Juden und Nichtjuden.
Private Lesezirkel entwickeln sich
Preußens König Friedrich II. haben Kriege jahrelang von seiner Hauptstadt ferngehalten. Zudem kümmerte ihn das kulturelle und geistige Leben seiner Untertanen gerade in späten Regierungsjahren wenig. Dadurch erst entstanden jene Freiräume, in denen sich private Aufklärungs- und Lesezirkel entwickeln konnten.
Vielleicht acht Salondamen laden um 1800 in Berlin regelmäßig zu Tee und Schnittchen. En privé wird dabei das neue Ideal der gemeinschaftlichen Bildung gepflegt, wie es vor allem der Philosoph und Sprachwissenschaftler Wilhelm von Humboldt 1792 definiert hat: „Der wahre Zweck des Menschen ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“
Die Selbstbildung könne jedoch nur im Wechselspiel mit der Umwelt erreicht werden. Jeder Einzelne müsse sich immerfort und zum Guten von Gesellschaft und Nation „den Reichtum des anderen“ zu eigen machen.
Ein Gelehrter, der sein Wissen für sich behält, ist nicht im Sinn des Neuhumanisten. Und so werden die Kreise zu avantgardistischen Laboratorien für die Reformen des Bildungswesens – und auch zu Foren für den Bildungsroman, jener einzigartigen deutschen Literaturform, deren Protagonisten sich mit der gesellschaftlichen Realität auseinandersetzen und dadurch fortentwickeln.
In die Runden aufgenommen wird, wer die Kunst der Konversation beherrscht, wer Begabung, Geist und Persönlichkeit besitzt. Ein neuer Gast muss von einem bereits etablierten Mitglied des Zirkels eingeführt werden.
Henriette Herz führte ersten literarischen Salon der Stadt
Die meisten Gastgeberinnen sind in mehreren Sprachen beredt und Kinder der Sturm-und-Drang-Zeit, in der junge deutsche Literaten wie Johann Wolfgang Goethe oder Johann Gottfried Herder als Gegensatz zur kühlen Vernunft der Aufklärung Gefühl, Volksnähe und „Empfindsamkeit“ gefeiert haben.
Den ersten literarischen Salon der Stadt führt Henriette Herz. Zu den Gästen der Professorengattin gehören die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, der Bildhauer Gottfried Schadow, der Theologe Friedrich Schleiermacher sowie der Schriftsteller und Kritiker Friedrich Schlegel.
Während ihr 17 Jahre älterer Mann Marcus Herz Studenten und Gelehrte zu philosophischen und physikalischen Vortragsabenden in seinem Haus empfängt, lädt die erst 16-jährige Henriette ab 1780 zu „ästhetischen Dienstagen“. Hier diskutiert sie mit Gleichgesinnten über Literatur, werden neue Romane besprochen.
Neben den Geburtsadel tritt der Geistesadel
Auch die berühmteste Berliner Salondame Rahel Levin und ihr späterer Mann, der Schriftsteller Karl August Varnhagen von Ense, verkehren bald bei Henriette Herz. Im Hause Levin in der Jägerstraße 54 treffen sich Prinz Louis Ferdinand von Preußen und dessen Geliebte Pauline Wiesel, dazu die Dichter Jean Paul und Ludwig Tieck sowie der schwedische Diplomat und Poet Karl Gustav von Brinckmann.
Neben den Geburtsadel tritt jetzt der Geistesadel. In den Salons wird poetisiert und musiziert, streiten Berliner Spätaufklärer mit Jenaer Frühromantikern, werden die Werke Goethes gefei- ert, Theaterstücke kritisiert – aber auch Ehen angebahnt. Weit mehr als die Hälfte aller Salongäste sind unverheiratet, geschieden oder leben in ungeklärten Verhältnissen.
Konservative Kreise empfinden diese jeunesse dorée als unbürgerlich und unpreußisch. Tatsächlich schafft die Salonszene die ersten gesellschaftlichen Freiräume, in denen Frauen und Juden, vor allem aber jüdische Frauen sich und ihre literarischen Talente entfalten können.
Die Salons bieten Humboldt eine Bühne für sein Bildungsideal; 1809 wird es mit der Gründung einer Berliner Universität etabliert. Politische Orte aber, Zentren der Frauen- oder der Juden-Emanzipation sind die Berliner „Teetische“ um 1800 nicht. Zu gering noch ist ihre Strahlkraft nach draußen.
Aufkommender Nationalismus zerstört Salons
Nur wenige Salons überdauern die Besatzung Berlins durch Napoleons Truppen 1806 – die schwärmerisch unpolitischen Kreise passen nicht mehr zur neuen Zeit unter dem französischen Joch, passen auch nicht zum aufkommenden Nationalismus.
Henriette Herz veranstaltet nach dem Tod ihres Gatten 1803 immer seltener ihre „ästhetischen Tees“. Das gesellige Leben hat das gesamte Vermögen ihres Mannes aufgezehrt. Ihren Lebensunterhalt verdient sie fortan als Fremdsprachenlehrerin für höhere Töchter. Sie stirbt am 22. Oktober 1847.
Der Salon Rahel Levins zerbricht 1806 – in jenem Moment, als auch das alte Preußen untergeht. 1814 konvertiert sie zum Christentum, um den 14 Jahre jüngeren Karl August Varnhagen von Ense zu heiraten. Zur gleichen Zeit finden sich nach den Befreiungskriegen alte und neue Teegesellschaften in Preußens Kapitale zusammen.
Von 1819 bis 1833 führt auch Rahel Varnhagen noch einmal einen Salon in Berlin, wo etwa Heinrich Heine und Franz Grillparzer verkehren. Aber die Leichtigkeit des ersten Zirkels ist perdue. Rahel Varnhagen stirbt am 7. März 1833.
Ihr Mann überlebt sie um 25 Jahre und gibt ihre Briefe heraus. Darunter auch diese Zeilen: „Wo ist unsere Zeit! Wo wir alle zusammenwaren. Sie ist Anno 6 untergegangen. Untergegangen wie ein Schiff: mit den schönsten Lebensgütern, den schönsten Lebensgenuss enthaltend. Und viele teure belebende Freunde mit: 1000 Bekannte, adieu, adieu.“