In Neutornow geht es steil hinauf zur kleinen Kirche. Drunten die Ebene in Dunkelgrün, .ach wie ein Brett. Die Neuenhagener Insel hier im Norden ist neben dem Reitweiner Sporn im Süden die einzige Erhebung mitten in dieser melancholischen Landschaft unter einem endlos weiten Himmel. Es gibt keinen schöneren Blick übers Oderbruch.
Vor der Kirche hat Theodor Fontane seinen Vater begraben, den Lebemann, Spieler und Apotheker Louis Henri F. "Und ein andrer Platz, dem ich verbunden bin: Berglehnen, die Oder fließt dran hin..." Späte Wehmut des verlorenen Sohnes. Denn das Verhältnis zum Altvorderen, dessen Wohnhaus in Schiffmühle noch steht, war Zeit seines Lebens kühl.
Das Oderbruch: Eine der schönsten Landschaften Deutschlands
Fontanes Fluss zu Füßen des Hügels - heute nicht mehr als ein Bach. Es ist die Alte Oder, die sich in einem weiten Bogen durchs Land zieht, an Wriezen und Bad Freienwalde vorbeischlängelt und bei Hohensaaten in den großen Strom mündet, den wir heute kennen. Junges Land, von Menschenhand geschaffen, durchzogen von Gräben und Drainageröhren.
Vor der Trockenlegung im 18. Jahrhundert sah das Oderland aus wie der Spreewald: Kahn und Kanäle, Moor und Sumpf, Fischerdörfer wie Altreetz oder Altwustrow als Inseln im Überschwemmungsland. Zweimal im Jahr die große Flut. Hechte ließen sich mit Händen greifen. Tonnenweise füllten sich die Netze mit Aal, Stör, Quappe und Neunauge. Im Busch Trappen und Schnepfen, reiche Beute.
Dann das Heldenepos, Fridericus Rex mit seinen Dammbauern. Gerader Durchstich nach Norden, abgeschnitten die Windung. Ein Deich, noch heute sichtbar, blockte die Oder an der Güstebieser Loose. Ausnahmsweise mal ohne Krieg gewann Friedrich der Große zwischen 1747 und 1753 seinen Preußen eine Provinz von 60 mal 10 bis 18 Kilometern.

Die Zeit steht nicht still
Fruchtbarer Boden, aber zu wenige Menschen. Kolonisten mussten angeworben werden und kamen aus Böhmen, Polen, Schwaben, Holstein, Hessen, Schweden, Österreich, Frankreich, der Schweiz und dem Harz. Meist waren es bedrängte Protestanten. Hier winkten zehn bis 90 Morgen Acker, je nach Größe der Familie, dazu Religions- und Steuerfreiheit. Freilich, krittelt Fontane, hätten bei diesem Völkergemisch "Bildung und Gesittung mit dem rasch fortschreitenden Vermögen nicht Schritt gehalten".
Nur Viertel- und Halbkultur trotz Dienern in Livree und Pferden in silberbeschlagenem Geschirr. Die Dielen mit Zucker bestreut, um Fliegen von der Tafel fernzuhalten. Von Wriezen nach Altwriezen, auf dem ehemaligen Deich des Königs, fahren heute Autos. Die Alte Oder verschilft. Nur ein Bruchteil der Alleen ist erhalten, Hecken und Auenwälder sind verschwunden wie die kleinteilige Landwirtschaft. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Sie steht nicht mal still.
Und doch: Windschiefe Heuschober. Eine lange Lindenallee von Neubarnim nach Ortwig. Die Fachwerkkirche von Neulietzegöricke, dem ältesten Kolonistendorf im Bruch, mit blauem Holzaltar und bemalten Säulen. Verlorene Bahnhöfe an stillgelegten Schmalspurstrecken. Irgendwo steht mal ein Lama auf der Wiese. An der Kienitzer Fährbuhne sitzen Angler am großen Strom. Die Fähre geht seit dem Krieg nicht mehr.
Auch drüben war einmal Brandenburg, die Neumark, heute Polen. Die alten Frauen auf dem Friedhof von Kienitz kennen noch die deutschen Ortsnamen jenseits der Grenze - vergilbte Erinnerungen. "Wenn das Wasser kam, schwamm bei Kruses der Nachttopp durch die Wohnung, und auf dem Hof sind wir Kahn gefahren." Im unbekannten Land auf der anderen Seite, so heißt es, leben nur noch alte Leute. Doch Landflucht gibt es auch im Oderbruch, es fehlt an Arbeitsplätzen. "Alle finden alte Fachwerkhäuser schön", sagt Horst Wilke, Bürgermeister von Neulietzegöricke, "aber die Kosten für den Erhalt kann kaum jemand aufbringen."

Im Dorf, 234 Einwohner, sind in den letzen drei Jahren drei Kinder geboren worden. Neue Kolonisten würden dringend gebraucht. Doch was hier von weit her kommt, ist nur auf der Durchreise und treibt nachts in Schlauchbooten über die Oder, schemenhaft erkennbar in den Nachtsichtgeräten der Grenzschützer.
Erna Roder wohnt in Kienitz dicht am Deich, sie hört die Hubschrauber knattern auf der Jagd nach Schleusern und Asylsuchenden. Die Pastorenwitwe malt wunderschöne naive Bilder, auch wenn die Augen langsam nicht mehr mitmachen wollen. Einst ist sie aus Schlesien hierher geflohen; den Umgang mit Papier und Pinsel schaute sie sich von der Großmutter ab. Erna Roder lebt im Vorderteil der Kienitzer Kirche, hinter ihrer gemütlichen Wohnung erstreckt sich ein leeres Kirchenschiff ohne Dach, zerstört im April 1945. Kahle Seitenwände ragen ins Nichts. Unter der Kirche war ein Bunker, mit Grabsteinen befestigt.
Das "Hoffnungsland" Oderbruch
Zehn Wochen, länger als irgendwo in Deutschland, wütete vor 60 Jahren der Krieg im Oderbruch. Über 100.000 Soldaten auf beiden Seiten fielen, noch heute werden Überreste geborgen. In den Hügeln des Reitweiner Sporns sind Laufgräben, Bunker und Geschützstellungen erhalten. 16 000 Schuss Infanteriemunition, erzählt der Imker Erwin Kruse in Kuhbrücke, habe er nach und nach in seinem Garten gefunden.
Die Dörfer wechselten mehrfach ihren Besitzer, bis alles in Trümmern lag. Heute sind sie wieder herausgeputzt. Kaum noch Spuren der Verwüstung, wenn die Kirchen nicht wären. In Letschin steht nur der Turm, in Reitwein eine Ruine, in Alt Tucheband blieb ein Ziegelhaufen, in Golzow nicht mal das. Auch in Buschdorf wächst Gras über die Fundamente. Eine Glocke an einem Gerüst erinnert an das Gotteshaus.
Für den Wiederaufbau fehlt es überall an Geld - und nach über 40 Jahren Sozialismus auch an gläubigen Seelen. Zwischen den Mauern und leeren Fensterhöhlen der Marienkirche von Wriezen, einem Bau von imposanter Größe, singen sie. Ein Chor, junge Leute, probt für das Musical "Hoffnungsland", das den Auszug aus dem alten Ägypten zum Thema hat, aber mit seinem Titel auch aufs Oderbruch passen würde.

Hoffnung, dass mehr Ausflügler aus Berlin kommen, mehr Fahrradgruppen, mehr Touristen. Besucher, die noch staunen können über Sumpfdotterblume und Adonisröschen, den seltenen Eisvogel oder Störche auf Dächern, Streuobstwiesen und Deichen. Kraniche, See- und Fischadler. Gemütliche Gasthöfe, die "Zum Feuchten Willi" heißen.
Im idyllischen Reitwein, wo ein verzweifelter Friedrich der Große nach der verlorenen Schlacht von Kunersdorf dem Thron entsagen wollte, kann man sich auf dem jährlichen Heiratsmarkt für 24 Stunden trauen lassen.
Oder einfach nur am Oderufer sitzen und die Flusslandschaft genießen, von Weiden gesäumte Auen, kleine Häfen, längst ohne Funktion, in denen Seerosen wachsen. Kilometerweit kein Mensch, nur auf dem Strom mal ein Schubverband, der Kohle von Breslau nach Stettin befördert. Obwohl es von einem Dorf zum nächsten selten mehr als fünf Kilometer sind, bildet jedes eine Welt für sich.
Refugien für Künstler, Handwerker, Fischer. In Zollbrücke führen der Akkordeon-Musiker Tobias Morgenstern und der Schauspieler Thomas Rühmann in ihrem "Theater am Rand" Kafka und Coelho auf. Die gute Stube mit den 55 Plätzen ist meist ausgebucht, den Preis bestimmt der Zuschauer nach der Vorstellung.

Kiepen und Kartoffelkörbe
Thea Müller ist die letzte gewerbliche Korbmacherin in der Region. In ihrem kleinen Museum hat sie Schätze angehäuft, Stiefelüberzieher aus Flechtwerk, Babywiegen und Kinderwagen. Einkaufskörbe, die in unserer Konsumwelt durch Plastiktüten ersetzt worden sind. Frau Müller zeigt ihre Hände vor: hornhautfrei. Als Weißkorbmacherin kann sie mit gekochten und geschälten Weidenruten arbeiten. Die Grünkorbmacher sind fürs Grobe zuständig, sie flechten Kiepen und Kartoffelkörbe aus Ruten mit harter Rinde.
Thea Müller kennt einen, der konnte sich die Zigarette in der blanken Hand ausdrücken. Ein Grünkorbmacher kennt keinen Schmerz. Der Imbissstand des Fischers Detlef Schneider in Küstrin- Kietz ist der letzte Vorposten auf der Straße zur Grenze. Danach kommt Niemandsland, leer stehende Kasernen und ein Bahnhof, von dem kein Zug mehr fährt. Bundesstraße 1, früher die Reichsstraße 1 von Aachen bis Königsberg. Fischer Schneider geht mit dem Kahn auf Zander, Wels, Aal, Hecht und Quappen, einen bis zu sieben Pfund schweren Raubfisch, früher so zahlreich, dass es im Oderbruch sogar ein Quappendorf gibt. Aber die Bestände in der Oder nehmen ab, sagt der Fischer, obwohl die Wasserqualität nach der Wende besser geworden ist. Er hat sich in Kuhbrücke eine Pension gebaut und hofft auf Touristen, die den Fluss befahren wollen.

An der Fischerbude vorbei ziehen die Fahrzeugkolonnen auf dem Weg nach Polen. Hinter der maroden Oderbrücke, direkt am Grenzübergang, steht rechts ein alter Torbogen im Wall hinter dem Maschendrahtzaun. Dahinter liegt die einzige deutsche Stadt, die im Krieg komplett vom Erdboden verschwunden ist, die Festungsstadt Küstrin. Das Tor ist gesperrt, nach dem Zugang muss man suchen. Hinter dem neuen Hotel "Bastion" geht es ins Gebüsch.
Zweisprachige Schilder warnen: "Uwaga - Achtung. Eintritt auf das Gebiet nur mit Genehmigung des Stadtamtes." Darum kümmert sich niemand, polnische Fischer in Tarnkleidung stapfen ins Niemandsland. Sonst kommt kaum jemand. Deutsche Polenfahrer interessieren sich nur für Tankstellen, Friseure und den riesigen Basar. Küstrins Vergangenheit versteckt sich, als ob sie sich schämte. Im Februar und März 1945 sank die Kleinstadt durch Artillerie- beschuss und Straßenkämpfe in Schutt und Asche. Tausende starben, Soldaten wie Zivilisten. Die wenigen Deutschen, die nach dem Inferno zurückgekehrt waren, wurden vertrieben, die Ruinen abgetragen.
Küstrin: Das "deutsche Pompej"
Ab 1994 wurde "das deutsche Pompeji" freigelegt - so nennen die Polen heute den Unort. Stufen führen nun zu verschwundenen Häusern, Plätze und Gassen sind vom Strauchwerk befreit. In der Schulstraße steht Horst Hermann, Jahrgang 1931, der als Kind in der Altstadt noch die Zeitung ausgetragen hat, und zeigt ins Nichts: "Da war die Fahrschule Hans, dort die Wohnung des Müllkutschers Lange, hier die Mädchenschule und daneben das Elternhaus mit Stall und Außentoilette." Sogar die Hausnummer weiß er noch: 50. Tabula rasa. Ein paar Ziegel und Gestrüpp sind alles, was geblieben ist.
Über den Schlossfundamenten weht die polnische Flagge. Im Schloss stand im November 1730 der Kronprinz und spätere König Friedrich II. an einem Fenster und sah zu, wie sein Freund, der Leutnant Hans Hermann von Katte, für den gemeinsamen Fluchtversuch büßen musste. Fontane hat es beschrieben: "Ward das erlöste Haupt mit einem glücklich geratenen Streich durch die Hand und Schwert des Scharfrichters Coblentz vom Leibe abgesondert." Deutsche Geschichte, polnische Gegenwart. Die Stadtverwaltung Kostrzyn möchte die Altstadt wiederaufbauen, Schloss, Marienkirche und Rathaus rekonstruieren, den Rest der Fläche entlang der alten Straßenzüge parzellieren und an Investoren verkaufen. Die sollen dann historisierende Häuser errichten. Dem "Verein für die Geschichte Küstrins" auf der deutschen Seite ist diese Vorstellung ein Graus. Er möchte - wie es viele ehemalige Küstriner wollen - das Gelände als Mahn- und Denkmal so erhalten, wie es ist. In den Vitrinen des kleinen Heimatmuseums liegen Souvenirs aus dem verschwundenen Küstrin - Kleiderbügel des Kaufhauses Paul Wiener, eine Kinokarte des Apollo-Lichtspieltheaters, eine Schale mit der Aufschrift "Salon-Motorschiff Joachim".

60 Jahre her. Nirgendwo ist Erinnerung so frisch wie hier, die Wunden so sichtbar, die Ressentiments auf beiden Seiten. Die Grenze ist offen, das Miteinander noch immer belastet. Eine Fahrt entlang der polnischen Oderseite führt durch weite Wälder und abgeschiedene Dörfer. Anders als im Oderbruch reichen die Hänge meist bis dicht an den Fluss, Deiche und Deichstraßen gibt es nicht. Immer wieder führen Straßen weg vom Fluss. In Szumilowo, einst Alt Schaumburg, ein verwilderter Friedhof, ein rostiges Kreuz mit deutscher Inschrift: "O genieß den ewigen Frieden, ob auch groß ist unser Schmerz."