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Infernalischer Lärm
Der Bahnhof hat keinen Namen, aber jemand hat eine Zahl auf die Betonwand gesprüht: 9703. So viele Meter trennen diesen Ort vom Tageslicht, vom südlichen Tunneleingang in der Gemeinde Bodio. Eine halbe Stunde braucht die Schmalspurbahn, um die Arbeiter und Material in das Innere des Berges zu bringen. Die Männer haben während der Fahrt noch ein wenig gedöst. Jetzt stapfen sie die letzten Meter zu Fuß über Eisenstege, klettern Treppen hinauf und wieder hinunter bis in den Bauch einer Maschine. Sie ist ein Monster aus Stahl, ein Steine fledderndes Ungetüm: die Tunnelbohrmaschine, kurz TBM. Arbeiter haben sie "Heidi" getauft.
Infernalischer Lärm

Gerade steht Heidi still, weil zwei Monteure einen undichten Hydraulikschlauch auswechseln. Dann reckt einer den Daumen zum Führungsstand der Bohrmaschine hinüber, "pronto!" - fertig. Es ist für lange Zeit das letzte Wort, das man hören wird. Wer jetzt nicht schnell genug die Gummistöpsel in die Ohren drückt und breitbeinig auf der Eisenplattform Halt sucht, den werden Lärm und Erschütterung in Panik versetzen. Der Berg wird angegriffen. 58 Rollenmeißel drücken mit der Wucht von jeweils 26 Tonnen gegen den Fels und zermalmen, was über 300 Millionen Jahre gehalten hat: den harten Gneis der Zentralalpen.
Der längste Eisenbahntunnel der Welt
Der Tunnelbau hat Tradition in der Schweiz, Verkehrsröhren löchern das Land. Zählt man allein die zurzeit betriebenen, kommt man auf fast 900. Seit 2002 aber graben die Eidgenossen nicht irgendein weiteres Loch, sondern den längsten Eisenbahntunnel der Welt, voraussichtlich 4,6 Milliarden Euro teuer: Über eine Distanz von 57 Kilometern soll der Gott-hard-Basistunnel das im Tessin gelegene Bodio mit Erstfeld im Kanton Uri verbinden und die Reisedauer von Zürich nach Mailand auf zwei Stunden und 40 Minuten, das heißt um rund eine Stunde, verkürzen. Der Bau ist ein kühnes Unternehmen; seine Notwendigkeit von jeder Straßenkarte Europas abzulesen. Nördlich und südlich der Alpen entspinnt sich ein dichtes Netz von Verkehrsadern. Doch bislang verbindet die Zentren Basel-Zürich-Luzern mit Oberitalien nur ein großer Weg für den Autoverkehr: der 1980 eröffnete Gotthard-Straßentunnel. Täglich zwängen sich etwa 3500 Lastwagen durch diese Engstelle.
Oben sorgt der Tunnel für Ruhe und saubere Luft

Die "Neue Eisenbahn-Alpentransversale" (NEAT) soll ab 2015 den Warentransport von der Straße auf die Schiene bringen und für mehr Ruhe und bessere Luft in den Tälern von Reuss und Leventina sorgen. Zwar durchquert auch ein Eisenbahntunnel den Gotthard. Unmöglich aber, die Verkehrsströme des 21. Jahrhunderts auf die alte, Ende des 19. Jahrhunderts eröffnete Röhre ausweichen zu lassen. Ihre Portale liegen auf 1200 Meter Höhe. Eine zusätzliche Lokomotive muss die Züge, die sich aus der Mailänder Tiefebene oder dem Zürcher Unterland hier hinauf- quälen, von hinten schieben. Im Winter durch Lawinen bedroht, wird die Strecke zudem immer wieder gesperrt.
Die Geologie des Bergmassivs ist weitgehend unbekannt
Der neue Tunnel dagegen quert das Bergmassiv im Erdgeschoss. An seiner höchsten Stelle liegt er gerade einmal 550 Meter über dem Meeresspiegel und damit etwa auf dem Niveau der Stadt München. 57 Kilometer - eine Trassenführung nicht ohne Risiko. Denn ein Berg lässt sich nicht röntgen. Erst beim letzten Durchschlag werden die Wissenschaftler mehr erfahren haben über die Geologie, die dem Gotthard innewohnt. In neun Jahren, hoffen die Manager von der Alptransit AG, einer Tochter der Schweizer Bundesbahnen (SBB), werden die ersten Züge durch den neuen Tunnel rollen. Um den Zeitplan einzuhalten, wird an fünf Stellen gleichzeitig gebohrt, gesprengt, gegraben: Neben den Eingangsportalen in Bodio im Süden und bei Erstfeld auf der Nordseite des Gotthard gibt es in den Orten Faido im Tessin, von Sedrun in Graubünden und von Amsteg im Kanton Uri Tunnelzugänge von oben. "Zwischenangriffe" nennen das die Mineure, die Tunnelbauer.
Angriff von zwei Seiten

Die Tunnelbohrmaschine Heidi arbeitet sich nun schon seit drei Jahren in Richtung Norden vor. Sie bohrt die Weströhre aus, "Sissi", ein baugleiches Modell, von Norden her die Oströhre. Der Basistunnel besteht aus zwei parallelen Röhren. Denn Eisenbahnen bauen bei rascher Fahrt eine starke Luftdruckwelle vor sich auf. Begegneten sich zwei 250 km/h schnelle Personenzüge, würden ihre Druckwellen den jeweils anderen wie ein Schlag treffen und schwer beschädigen. Alle 325 Meter sind die Röhren durch Stollen miteinander verbunden: Im Notfall können sich Passagiere so in die jeweilige Nachbarröhre retten. An guten Tagen schaffen die Tunnelbohrmaschinen 40 Meter Vortrieb, an schlechten nur fünf oder sechs. Sie arbeiten umso effektiver, je härter der Fels ist. Am schnellsten schlagen sie sich durch Granitgneis. Nicht größer als Frühstücksteller sind die Steinbrocken, die Heidi und Sissi mit ihren Meißeln aus der "Tunnelbrust" treiben. Ein Förderband schafft den Abraum mehrere hundert Meter nach hinten und lädt ihn in große Loren.
Silbrig funkelndes Gestein
Nur jeweils sechs Arbeiter bedienen am Kopfende die Apparaturen der TBM. Die Männer bereiten die Betonierung der Tunnelwand vor. Sie setzen Felsanker in das gerade freigelegte Gestein: bis vier Meter lange Rohre aus Edelstahl, die in zuvor gebohrte Löcher geschoben, mit Wasser unter gewaltigem Druck "aufgeblasen" und so fixiert werden. An diesen Dübeln finden Armierungsgitter Halt. Sie sichern die frisch ausgebohrte Röhre. Alles folgt einer computergesteuerten Regie. Der frisch geschlagene Gneis funkelt silbrig im Licht der Baustellenlampen. Man möchte ihn streicheln, so glatt ist er ausgebohrt. Dann pappen Spritzbetonpumpen ihn mit grauer Masse ein.
Ein Bauwerk der Superlative
Es gibt Zahlen von diesem Bauwerk, die der Mensch kaum noch begreifen kann. Über 3000 Tonnen wiegt eine Tunnelbohrmaschine. Aber was soll man sich darunter vorstellen? Das Gewicht eines gigantischen Containers, in dem 2400 VW-Golf gestapelt sind? Mit der Leistung von 3500 Kilowatt, fast 5000 PS, bohrt sich dieser mehr als 400 Meter lange Koloss in den Fels. Über 13 Millionen Kubikmeter Abraum werden Förderbänder und Waggons im Laufe der gesamten Bauzeit ins Freie transportieren. Das sind fünf Cheops-Pyramiden nebeneinander. Dennoch sieht man in den Tälern von Uri und im Tessin keine Berge in den Himmel wachsen. Rund ein Fünftel des Ausbruchs bereiten Arbeiter in Steinmühlen gleich wieder zu Sand und Kies auf und verfrachten sie als Betonbeimischung zum Teil zurück in den Berg. Mit dem restlichen Material werden im Tessin alte Steinbrüche aufgefüllt, in Sedrun Geländemulden eingeebnet, im Vierwaldstätter See sechs Inseln aufgeschüttet.

Planung und Bau erfordern höchste Präzision
Die Ingenieure standen bei der Planung der Trasse vor einem heiklen Problem: Wie lässt sich die oberirdisch ermittelte Route möglichst genau auf das Niveau des Tunnels übertragen? Wenn sich die Schweizer auch jeder Menge internationalen Know-hows bedienen, etwa indem sie die Tunnelbohrmaschinen bei einer deutschen Firma erwarben und die Mineure aus einem Dutzend Nationen rekrutierten - diese höchste Präzision erfordernde Aufgabe haben sie nicht aus der Hand gegeben. Hilmar Ingensand, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, zählt zu dem Kreis der Spezialisten, die mit der Routenfindung unter Tage betraut sind. Zunächst einmal, erläutert er, haben die Vermessungsingenieure Fixpunkte geschaffen, deren Koordinaten bekannt sind und die, so Ingensand, "wieder und wieder überprüft wurden": Betonpfeiler in der Nähe der Tunnelportale.
Vermessung mit Hilfe von GPS
Es ist nun für die Vermesser möglich, ausgehend von diesen überirdischen Koordinatenfixpunkten dreidimensionale Koordinaten unter der Erdoberfläche zu bestimmen und den Tunnelbohrmaschinen die Richtung exakt vorzugeben. Die ermittelte Vortriebsrichtung macht ein roter Laserstrahl sichtbar: Wo dieser auf den Fels trifft, greift die Tunnelbohrmaschine weiter an. Hat sie ein paar Meter ausgebohrt, wird der Laserstrahl neu justiert; der jeweils letzte Standort der Maschine gilt als aktueller Referenzpunkt. "Im Tempo der Tunnelbohrmaschine hangeln wir uns durch den Berg", sagt Ingensand.
Die Route für den Gotthard-Basistunnel ist nicht schnurgerade, sondern verläuft in einem leicht geschwungenen "S". So werden die höchsten Gipfel der Region umkurvt und geologisch schwierige Zonen möglichst umgangen - soweit diese bekannt sind. Lange bevor die großen Baumaschinen zum Gotthard-Basistunnel anrückten, stieg Yves Bonanomi mit Hammer und Karte im Rucksack durch die Berglandschaft. Der Schweizer Geologe klopfte die Felsen ab.
Bröseliges Gestein macht dem Bohrer zu schaffen
Aus der Oberfläche des Gotthard-Massivs können Geologen relativ gut auf die Verhältnisse in der Tiefe schließen: Durch die Alpenfaltung haben sich die Gesteinsschichten in der Gegend senkrecht aufgestellt. Die Formationen, die Bonanomi bei seinen Erkundungen auf den Bergrücken
gefunden hatte, durften also mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Berginneren zu erwarten sein.
Vor ein Problem stellten den Wissenschaftler und seine Kollegen aber die Verhältnisse in der so genannten Piora-Mulde, etwa sechs Kilometer nördlich von Faido. Hier findet sich Dolomit von zuckriger Konsistenz. "Das Material zerbröselt einem in der Hand", sagt Yves Bonanomi. Wären die Tunnelbauer auf dieses "schwimmende Gebirge" gestoßen, es hätte den Fortgang der Arbeiten nicht nur erschwert, sondern den Bau insgesamt gefährdet.
Darum war die Verlässlichkeit der geologischen Prognose so ungeheuer wichtig: Würde sich der zuckerkörnige Dolomit bis tief in den Berg fortsetzen? Oder handelte es sich nur um einen Keil? Die seismischen Messungen sowie erste Probebohrungen hatten ein widersprüchliches Bild ergeben. Als Sondierer versuchten, die Piora-Mulde anzubohren, schoss ihnen ein Strahl von Gesteinskörnern und Wasser mit hohem Druck entgegen. Das Bohrgestänge wurde aus dem Loch katapultiert. Ein Fiasko drohte. Pessimisten hielten nach dieser Probebohrung einen Durchstoß der Piora-Mulde nur unter enormen Kosten für machbar. Andere vermuteten, dass sich der gefährliche Keil aus Steinmehl nicht bis zum Basistunnel hinunter fortsetzen würde - und behielten Recht. Die Grenze zwischen dem Zucker-Dolomit und festerem Gestein verläuft 200 Meter über dem Niveau des neuen Tunnels.

Störzone im Tavetscher Zwischenmassiv
Hier gab es also Entwarnung. Im Herbst 2005 aber stießen die Mineure in einen Abschnitt vor, der sich tatsächlich als kritisch erwies. Diese Störzone im Tavetscher Zwischenmassiv - es liegt unterhalb des Wintersportortes Sedrun - ist ungefähr einen Kilometer breit und besteht aus tektonisch zermahlenem Gestein. Geologen nennen das Gemisch "Kakirit". Die Gesteinsmasse ist derart weich, dass man sie mit der bloßen Hand wegschaben kann. Für Tunnelbohrmaschinen ist Kakirit zu teigig. Es muss herkömmlich gesprengt und im Extremfall mit Baggern ausgekratzt werden.
Südafrikaner brachten die Lösung
Ein südafrikanisches Unternehmen, erfahren im Ausschachten von Goldminen, hat von Sedrun aus zwei senkrechte, 800 Meter lange Zugänge zur zukünftigen Tunnelsohle gebohrt. Zwei Schachtlifte verkehren in der Senkrechten, mit denen auch Yves Bonanomi schon viele hundert Mal in die Tiefe gefahren ist. Er kommt in einer unterirdischen Halle an, in der es nach Ammoniak stinkt. "Hier wurde gerade gesprengt", erklärt das Bonanomi. Der Sprengstoff SL 700 besteht zu 98 Prozent aus Essigsäure - und zu einem Prozent aus Ammoniumnitrat. Das restliche Prozent ist eine Matrix, die dazu dient, den Sprengstoff beim Einfüllen in die Bohrlöcher aufzuschäumen, um ihm eine gute Verbindung zum Fels zu geben.
35 Grad herrschen im Inneren des Gebirgsmassivs
Nach ein paar Kilometern in Richtung Süden wird der beißende Geruch stärker. Schaufellader kippen frisch gesprengte Gesteinstrümmer in einen offenen Bahnwaggon. Aus großen Lüftungsrohren bläst wassergekühlter Wind den Staub von der Baustelle weg. Ohne Kühlung herrschten hier Temperaturen von mehr als 35 Grad Celsius: Pro 100 Meter Tiefe nimmt die Temperatur der Erde im Schnitt um drei Grad Celsius zu. Und im Tavetscher Zwischenmassiv türmt sich das Gebirge 1300 Meter hoch. Das Gestein in diesem Abschnitt ist außergewöhnlich weich und leicht verformbar. Kaum ist die Röhre vorgetrieben, dehnt es sich aus und verengt sie. Von vornherein brechen die Mineure hier deshalb die Tunnelröhren weiter aus als an Stellen mit hartem, standfestem Gestein üblich, und ziehen zur unmittelbaren Sicherung des Stollens Stahlbögen ein.
Eine Methode aus dem deutschen Steinkohlenbergbau

Die ringförmigen Träger geben bei hohem Druck ein wenig nach und verschieben sich allmählich ineinander. Sie tragen bis zu 100 Tonnen auf den Quadratmeter - das Gewicht einer Lokomotive. Erst wenn sich der Berg stabilisiert hat, wird eine Betonschale eingezogen. Ein zeitraubendes Verfahren. Nur durchschnittlich einen Meter beträgt die tägliche Vortriebsleistung im Abschnitt des Tavetscher Zwischenmassivs.
Unvorhersehbare Folgen
Niemand kann vorhersagen, welche Folgen die Eingriffe in seinem Inneren auf die Oberfläche des Gotthard-Massives dauerhaft haben werden. Indizien für Veränderungen aber gibt es. So hat sich das Gebirge oberhalb des Straßentunnels jüngsten Messungen zufolge mit den Jahren um zwölf Zentimeter gesenkt. Experten erklären sich diesen Vorgang mit dem Austreten von "Kluftwasser" in den Tunnel: Wenn sich die zuvor wassergesättigten Klüfte schließen, verringert sich das Volumen des Gebirges.
"Wir liegen gut im Zeitplan"
Sollten die Berge auch über dem Gotthard-Basistunnel schrumpfen, drohte den Schweizern womöglich eine immense Gefahr. Denn über dem Tunnel erstrecken sich drei Stauseen. Das Schweizer Bundesamt für Wasser und Geologie hat die Gebiete deshalb unter ständige Beobachtung gestellt. Falls das Gelände tatsächlich absacken sollte, wird man das gestaute Wasser ablassen, ehe die Mauern bersten und die Fluten in die Täler stürzen könnten.Mehr als die Hälfte der insgesamt 153 Kilometer langen Röhren und Schächte sind inzwischen gebohrt und gesprengt. "Wir liegen gut im Zeitplan", sagt Yves Bonanomi. Die nächste Durchschlagsmeldung vom Gotthard-Basistunnel hofft er noch 2006 geben zu können: Bis zum Herbst soll Heidi den rund 16 Kilometer langen Teilabschnitt zwischen Bodio und Faido durchbohrt haben.