Vor der Alpina-Hütte dampft die Hühnersuppe in der kalten Luft. Der Wirt hat frisch gezapftes Bier serviert, eine freundliche Wintersonne strahlt auf die tief verschneiten Berge. Man genießt die Mittagspause. Brigitte aus Potsdam ist sehr zufrieden mit dem ersten Skiurlaub ihres Lebens: Ihr gefällt das Hotel, ihr gefallen die anderen Gäste, und ihr gefällt Todor, der Skilehrer. Der ist braun gebrannt, trägt eine verspiegelte Sonnenbrille und lächelt nett. Vor allem aber: "Der Todor hilft mir immer beim Aufstehen." Wenn sie mal wieder die Kurve nicht gekriegt hat.
Brigitte und ihre Gruppe haben den Anfängerkurs in Borovez gebucht. Der bulgarische Skiort liegt etwa auf der geografischen Breite von Rom - was erstmal nicht nach Winterfreuden klingt. Doch hier, im Rila-Gebirge an den Grenzen zu Griechenland und Mazedonien, wirkt die Landschaft hochalpin, in der kalten Jahreszeit schneit es oft kräftig und ausdauernd. Der Mussala, mit 2925 Metern höchster Balkangipfel, ist eine elegante Pyramide mit gleißenden Flanken, die auch im Engadin oder über Garmisch eine gute Figur machen würde. Von der Hauptstadt Sofia sind es 70 Kilometer bis Borovez. Die Landstraße durchquert graue Dörfer, durch die Eselskarren rumpeln, frierende Gestalten auf dem Bock. Im Industriestädtchen Samokov fahren wir rechts ran, damit wir in Ruhe die Wegweiser entziffern können: Sie sind ausschließlich kyrillisch beschriftet. Dann geht es in die Berge. Borovez liegt auf 1350 Meter Höhe in einem schönen, dichten Fichtenwald, die Äste sind üppig mit Schnee bepackt. Aber schon die Anreise hat deutlich gemacht: Dies sind nicht die Alpen mit ihrem überall gleichen Angebot an Sporthotels, Schirmbars und Saunalandschaften. Dies ist Bulgarien. Das Land möchte zwar 2007 in die EU aufgenommen werden, der Monatslohn liegt im Schnitt aber erst bei mageren 300 Lewa - ungefähr 150 Euro. Dafür bekommt man oben in den Bergen gerade mal einen Sechstage-Skipass.
Retortenstation Borovez
Borovez, ältestes Skiresort des Landes, wurde in den 1970er Jahren als Retortenstation aus dem Boden gestampft. Hier und da stößt man noch auf ein paar alte, verfallene Villen, Relikte jener aristokratischen Sommerfrische, die Prinz Ferdinand Ende des 19. Jahrhunderts hatte errichten lassen. Heute prägen große Hotels das Ortsbild: bis zu zehn Etagen, steile Pultdächer, die an Berghänge erinnern - man kennt den Stil aus Frankreich. Das Hotel "Rila" verfügt über 522 Zimmer, drei Restaurants, acht Aufzüge und ein eigenes Einkaufszentrum. Das "Samokov" ist etwas intimer: nur 294 Zimmer und vier Lifte, dafür ein Speisesaal, unter dessen bombastischer Decke aus polierten Aluröhren man sich gut einen Auftritt des DDR-Fernsehballetts vorstellen könnte. Die beiden Hotels bilden die Eckpunkte von Borovez. Zwischen ihnen blühen Gastronomie und Einzelhandel in zwei vereisten Budengassen, die nach Landessitte nicht gestreut werden. Die Skier unter die Arme geklemmt, schlittern Urlauber und Wintersportler zwischen Grillhütten, Erotikbars, Wechselstuben und Sportartikelgeschäften hin und her. Vor den Läden stehen Schlepper Spalier, die mit "Eat, drink, special price!" lautstark in Pubs und Pizzerien locken. Daneben bieten alte Frauen, in mehrere Lagen Kopftücher und Schals gehüllt, selbstgestrickte Socken an. In der Nähe des Anfängerlifts wird über einem offenen Feuer ein Spanferkel geröstet. Balkan on Ice.
Nichts ist teuer im Souk von Borovez, und verblüffend billig sind die großen Namen. Anoraks mit Logos von "The North Face" und "Spyder" gibt es schon für 98 Lewa, rund 50 Euro. "Ich importiere direkt aus China!", lässt der Betreiber der voll gestopften Bretterboutique stolz wissen. Auch Rolex-Uhren, Dior-Portemonnaies und Pop-CDs, überall feilgeboten, sind meist Raubkopien. Die Preise - ein starkes Argument für Skiferien in Bulgarien. TUI bietet eine Woche Borovez im Drei-Sterne-Hotel mit Halbpension, Flug und Transfer für 499 Euro an. Nach solchen Angeboten sucht man im Alpenraum vergeblich. "Wir laufen zum ersten Mal Ski und wollten nicht so viel ausgeben", erklären Martin und Irene aus Basingstoke bei einem Guinness in der Bar des Rila. Engländer machen den Großteil der Borovez-Gäste aus, sie prägen die Szenerie. Am Frühstücksbüffet dominieren Gebrutzeltes und Eierspeisen, am Anfängerlift stehen die Skifahrer brav einer hinter dem anderen an, als warteten sie in London auf den Bus.
Skipasspreise mit alpinem Niveau
Auch Holländisch, Dänisch oder Hebräisch wird hier gesprochen. "Fast 85 Prozent unserer Kunden sind völlige Anfänger", erzählt Luboslav Kocov, Chef der Skischule im Hotel "Samokov". Morgens trifft man sich im hoteleigenen Skiverleih, einem großen, mit Spitzengardinen geschmückten Kellerraum. Dort werden die Turnschuhe gegen Mietstiefel und ein Paar "Orion"-Carving-Skier aus bulgarischer Produktion getauscht; die wenigsten Gäste reisen mit eigenem Equipment an. "Das Modell wurde von Atomic entwickelt", beruhigt Luboslav eine Kundin, die zweifelnd die Stirn runzelt. Eine betagte Kabinenbahn schaufelt die Sportler dann ohne Hektik zur Bergstation auf 2363 Meter Höhe. Dort übernimmt ein ruckelnder Schlepplift den Weitertransport. Veraltete Technik und manchmal entnervend lange Wartezeiten: So war es in den Alpen vor 20 Jahren, was die Neulinge aus Den Haag und Ipswich freilich nicht wissen. Die Preise für den Skipass - umgerechnet 28 Euro für die Tageskarte - haben hingegen nahezu aktuelles alpines Niveau erreicht, werden aber ebenfalls klaglos hingenommen.
Die 40 Kilometer Pisten sind gut gepflegt und ziehen sich durch eine stille, fast unberührt wirkende Berglandschaft. Latschen säumen die sanften Hänge, auf denen Skilehrer ihren herumpurzelnden Schülern mit Engelsgeduld den Schneepflug beibringen. Im steileren Gelände schwingen Könner durch dick verschneiten Fichtenwald bis zur Talstation des Vierer-Sessellifts, wo im Samovar heißes Wasser dampft. Die Liftburschen haben als Nebenverdienst einen kleinen, gemütlichen Teeausschank improvisiert. Bei allen Unzulänglichkeiten strahlt das Skigebiet von Borovez eine unschuldige Schönheit aus - wie ein Dorfkind, das noch nicht gelernt hat, professionell zu lächeln. Das könnte sich bald ändern. Wenn die Parlamentarier in Sofia grünes Licht geben, entsteht nördlich von Borovez in den nächsten Jahren "Super Borovez" - mit mehreren tausend Gästebetten, Pisten und Liften, Golfplatz, einem "Aquapark" und weiteren Attraktionen. Geschätzte Kosten: 400 Millionen Euro.
So will man Bansko schlagen, das konkurrierende Skigebiet im Pirin-Gebirge. Dort, zwei Stunden Fahrt von Borovez unweit der griechischen Grenze gelegen, sind die schönen, neuen Wintersportzeiten bereits angebrochen. Der moderne Skiverleih wartet mit neuesten Rossignol-Modellen auf, Flachbildschirme zeigen die Pistenverhältnisse, und neben dem Skischulbüro steht ein funktionierender Geldautomat. Von der Talstation in 936 Meter Höhe gleiten die Gäste in einer nagelneuen Kabinenbahn hinauf ins Skigebiet. Nur etwa 20 Minuten brauchen die Kabinen zum Plateau Banderischka poljana, wo in 1600 Meter Höhe die Lifte starten. Vor den neuen Skihütten sonnen sich Faulenzer bei einem Tässchen Nescafé. Hoch über dem Plateau ragt das Wahrzeichen des Skigebietes in den Himmel: der 2746 Meter hohe Todorka, benannt nach einer Königstochter, die sich im 14. Jahrhundert auf der Flucht vor den türkischen Besatzern vom Berg in die Tiefe gestürzt haben soll. Die einzige schwarze Piste Banskos trägt den Namen einer weit weniger tragischen Gestalt: "Alberto Tomba". Das italienische Ski-Genie rührt die Werbetrommel für den Ort, deshalb ist seine Behauptung, Bansko sei das "beste neue Skiresort Osteuropas", mit Vorsicht zu genießen. Andererseits sind da 65 Kilometer superb präparierte Pisten, 40 Schneekanonen, Vierer-Sessellifte von Doppelmayr und Pistenwalzen von Kässbohrer - auf so viel High-Tech wäre auch manches Alpendorf stolz.
Mittags wird's balkanisch
Auf den Pisten geht es lebhaft zu: Internatsklassen aus Dänemark, junge Russinnen in schicken Overalls, wohlhabende Bulgaren und griechische Familien schwingen mit souveräner Eleganz über die weiten Hänge. Unverkennbar balkanisch wird es dann zum Mittag, wenn vor den Hütten die Grillkohlen glühen und es würzig nach Würsten und Kebab durftet. Dazu ein Bier und ein feiner bulgarischer Salat: mehr als fünf Euro kostet das Vergnügen selten. Rund 40 Millionen Euro hat die Liftgesellschaft in das Skigebiet investiert. Ein Wald von Kränen umgibt die kleine Stadt: In Windeseile werden Hotels und Apartmenthäuser hochgezogen, die "The Monastery" heißen oder "New Inn". Alle wollen dabei sein und mitverdienen, wenn Bulgarien den Anschluss an den internationen Wintertourismus übt und vielleicht sogar die Olympischen Winterspiele 2014 nach Sofia holt - ein Traum, den Bansko und Borovez gemeinsam träumen.
Noch sind die Straßen Banskos mit tiefen Schlammlöchern übersät, der Asphalt ist aufgeplatzt. Das gewachsene, traditionsreiche Städtchen wirkt, als sei es vor langer Zeit eingeschlafen und habe mit dem Skirummel vor seinen Toren absolut nichts zu schaffen. Alte Frauen mit Kopftuch und Gummigaloschen schlurfen durch Kopfsteingassen, Pope Konstantin läutet die Glocken seiner Dreifaltigkeitskirche. Die Häuser sind aus Flusskieseln und Holzbalken gebaut, über geschnitzten Eingangstoren ranken sich armdicke Klematisstämme. Es riecht nach Kuhmist und Holzfeuer. Ein rustikales Idyll. Allerdings hört man abends beim Pflaumenschnaps, dass der Bürgermeister auf EU-Gelder aus Brüssel hofft. Er will die Straßen neu asphaltieren lassen und Abwasserkanäle unter die Erde verlegen. Man geht ja mit der Zeit.