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Mord im Schneesturm
Unsere Nachbarn Jewdohija Balachonowa, die im Dorf nur "Trofimowna" genannt wurde, ist vor drei Tagen gestorben. Allerdings hat das zunächst niemand bemerkt, da sich ganz Tschuchrai gegen den ersten Schneesturm dieses Winters verbarrikadiert hatte. Aber heute morgen ist mein Mann Igor vor der Hütte unserer Nachbarin stehen geblieben. "Aus Trofimownas Schornstein kommt kein Rauch!", rief er. Das war seltsam, denn über die vergangenen Jahrzehnte hinweg hatte Trofimowna ihren Ofen morgens immer als Erste im Dorf angezündet, vor Tagesanbruch. Igor hat an die verschlossene Tür geklopft, aber keine Antwort erhalten. Dann ist eine Katze am Fenster erschienen und hat an der Scheibe gekratzt. Igor hat eines der Wandbretter losgerissen. Mit einem panischen Sprung ist das Tier ins Freie geschossen.
Mord im Schneesturm
"Trofimowna ist tot!" Igors Ruf war laut genug, dass alle in Tschuchrai ihn hören konnten. Er hat über Funkradio eine Meldung an die Polizei durchgegeben. "Ist doch möglich, dass jemand die Trofimowna umgebracht hat", sagte Igor. Obwohl dies eher in den Bereich purer Krimi-Hypothesen fiel. Wer sollte schon, mitten in einem Schneesturm, eine mittellose Greisin am Rande eines entlegenen Waldes ermorden? Die Polizei schickte eine Rückmeldung: Nichts anfassen, die Beamten treffen in kürzester Zeit ein! Dann haben wir den ganzen Tag vergeblich gewartet. Mag sein, dass der Polizei das Benzin fehlte, das kommt in Russlands Provinzen häufiger vor. Auf jeden Fall beschlossen wir, uns selber um Trofimowna zu kümmern.
Ein schwarzer Tag, mein schwärzester, seit ich, Laura Williams aus Denver im US-Staat Colorado, 1997 den Russen Igor Shpilenok, Direktor des Naturreservats Brjansker Wald, geheiratet habe und zu ihm in das Dorf Tschuchrai gezogen bin. In eine totale Wildnis, wie es schien. Unser Dorf, rund 400 Kilometer südwestlich von Moskau, liegt eine Autostunde vom nächsten Bahnhof entfernt, sofern der Weg durch den Wald nicht zugeschneit ist; von dort sind es dann bis zur Hauptstadt noch acht Zugstunden mit dem "Express".
In Zwangsharmonie mit der Natur leben
Man kann sich sehr verlassen fühlen in Tschuchrai. Aber es ist die Art von Leben, die ich mir von klein auf gewünscht habe: in Zwangsharmonie mit der Natur und im Fluss sich fast unverändert wiederholender Jahreszeiten. Ein Leben mit 18 Nachbarn. Die meisten von ihnen sind über 80 Jahre alt, ihre Kinder sind in die Stadt desertiert. Tschuchrais "Jugend" besteht aus Chowrjatsch und Kiset, zwei Säufern um die 40, die ihren Eltern bis an deren Lebensende auf der Tasche liegen werden.
Ein Auto für das ganze Dorf
Wie gesagt, Tschuchrai folgt einem von den Jahreszeiten vorgegebenen Rhythmus. Unser Frühling beginnt oft erst im Mai. Bis dahin nehme ich von den Nachbarn häufig nicht mehr als die Rauchsäulen über ihren Zwei-Zimmer-Hütten wahr. Manchmal sehe ich einen der Greise mit Angelrute vor einem aufgehackten Loch im vereisten Fluss hocken. Ansonsten zeugen nur Spuren im Schnee von ihrer Aktivität, zum Beispiel die Linien der Pferdeschlitten, mit denen die Männer meist in der Frühe Brennholz aus dem Wald holen. Dann reißt der erste milde Sonnenschein Tschuchrai aus dem Winterschlaf und rückt Igor und mich für einen Tag in den Mittelpunkt des Geschehens. Wir besitzen das einzige Auto im Dorf, einen russischen Geländewagen, und Tauwetter ist das alljährliche Signal für unsere erste Expedition in die Außenwelt.
Wie die Murmeltiere kommen sie aus den Häusern
Also kommen monatelang nicht gesehene Nachbarn wie Murmeltiere aus ihren Behausungen hervor, um uns die Liste ihrer Bestellungen zu überreichen: säckeweise Mehl fürs Brotbacken; Zucker zum Einmachen von Beeren und zum Brennen von Schnaps; Mohrrüben, Gurken und Dill-Saat; Hühner für die Zucht und frische Eier; Ferkel zum Mästen für den "salo", den Speck, ohne den es offenbar kein Russe durch den Winter schafft. Ausgerüstet mit Axt, Motorsäge, Stemmeisen und Gummistiefeln machen wir uns auf den Weg. Zehn Kilometer sind es bis zur asphaltierten Überlandstraße. Wie ein Eisbrecher rammt unser Auto durch noch gefrorene Pfützen. Manchmal umspülen Ströme von Schmelzwasser den Wagen bis fast auf Türhöhe. Dann stottert der Motor. Aber ein russischer Geländewagen lässt dich nie im Stich, lautet ein gängiger Witz: Um nicht neue Straßen anlegen zu müssen, baue Russland immer solidere Autos.
Die Distrikthauptstadt Susemka, 7000 Einwohner, liegt 65 Kilometer von Tschuchrai entfernt. Sie ist unsere "Zivilisation". Sind nach zwei Stunden alle Bestellungen erledigt, machen wir uns gleich auf den Rückweg. Daheim warten ungeduldige Nachbarn. Beim Vernehmen des ersten Motorbrummens laufen sie zum Ortseingang. Immer wollen sie uns Geld fürs Benzin zustecken, immer lehnt Igor ab. Doch kein Protest kann sie davon abhalten, uns mit Kartoffeln und Speck einzudecken. "Wir wollen keinem etwas schuldig bleiben", pflegte Trofimowna zu sagen.
Mit 90 Jahren noch Zäune reprarieren
Trofimowna. Hatte Tschuchrai ein Wahrzeichen, dann unsere Nachbarin. Mit ihren 90 Jahren verkörperte sie das Wesentliche hier, jene Eigenheiten und Eigenschaften, die das Überleben im Dorf gewährleisten. Denn um "keinem etwas schuldig zu bleiben", bewältigte sie alles aus eigener Kraft. Sobald der Boden aufzutauen begann, reparierte sie die Zäune, die ihren Garten gegen Kühe und Wildschweine schützten. Musste gepflügt werden, borgte sie Kudinjonoks Pferd und beschäftigte einen Tag lang die beiden Säufer, im Tausch gegen Speckstullen und einen Liter Schnaps. Während die "Jungen" mit Pferd und Pflug voranzogen, streute die Greisin Dünger in die Furche.
Die Säufer heben das Grab aus
Jeden Tag beackerte Trofimowna ihren Garten. Manchmal folgte ich ihr zum Waldrand, der auch Dorfrand ist. Dann suchte sich jede von uns eine dicke Birke, schnitt eine Kerbe in den Stamm, steckte einen geschnitzten Zapfen in die Kerbe und stellte einen Eimer darunter. Am darauffolgenden Tag kamen wir wieder und holten den frischen Birkensaft. Wärme durchflutete dann meinen Körper. Es war das Glück, glaube ich. Es war der Frühling. Jetz aber ist Winter, und Trofimowna ist tot. Kudinjonok zieht mit seinem Pferd los, um den Sarg zu holen. Bis er zurückkommt, sollen Chowrjatsch und Kiset, die Säufer, das Grab ausheben. Zwei Frauen waschen die Leiche und kleiden sie in einen blauen, nagelneuen Anzug. Sie haben ihn im Schrank der Toten gefunden, zusammen mit anderen nie benutzten Kleidungsstücken.
Gegen Mittag klopft Kudinjonoks Frau an meine Tür. Eine kleine Gestalt mit einem freundlichen Gesicht, das jetzt Tränen überschwemmen. "Was ist los?", frage ich. "Bleib nicht heulend vor der Tür stehen!" Sie tritt schüchtern in den Flur. "Wir wissen nicht, wo wir die Totenwache abhalten sollen", schluchzt Kudinjonoks Frau. "Trofimownas Hütte ist zu klein. Und wer soll das Essen zubereiten? Laura, Loroschka, kannst du nicht helfen? Du könntest doch etwas kochen und die Leute auf ein Glas einladen. Nur ein Glas, Ehrenwort. Danach wirfst du uns einfach hinaus." Sie vergießt frische Tränen. "In Ordnung", sage ich schnell. "Wir besorgen das. Wann kommen die Gäste? Was soll es zu essen geben?
"Wir beerdigen sie, sobald du mit dem Kochen fertig bist", antwortet Kudinjonoks Frau. Und fügt hinzu: "Gewöhnlich gibt’s bei Beerdigungen Borschtsch, Bliny und Kartoffeln. Und Fruchtsaft. Aber mach nur, was immer du gerade zur Hand hast." Als alles fertig auf dem Küchentisch steht, gehe ich hinüber in die Nachbarhütte. Vier Männer tragen den Sarg aus der Hütte und stellen ihn auf einen Schlitten. Ich habe einen Kranz aus künstlichen Blumen auftreiben können, weswegen mich Kudinjonoks Frau an der Spitze der Prozession postiert, gleich hinter der tauben Gluchaja, die eine in weißes Tuch gehüllte Ikone vor sich herträgt. Zwei legen Tannenzweige aus, damit sich Trofimownas Seele auf dem Weg zum Grab nicht verirrt. Der eingezäunte Totenacker liegt im Dorfzentrum. Seit seiner Gründung hat Tschuchrai hier alle seine Einwohner begraben. Dennoch besitzt der Friedhof noch immer dieselben bescheidenen Ausmaße wie vor 300 Jahren.
Jede Familie hat ihre eigene Friedhofsecke
"Trofimownas Verwandschaft", flüstert die 83-jährige Olga Iwanowna, die mein Erstaunen bemerkt hat. "Jede Familie hat ihre eigene Friedhofsecke. So braucht niemand seine Ewigkeit mit den Überresten von Leuten zu teilen, zu denen er möglicherweise im Leben keinen Kontakt pflegte." Ich verstehe ihre Sorgen, weiß auch, wer im winzigen Tschuchrai nicht mit wem verkehrt. Nur 20 Leute, aber nicht jeder spricht mit jedem. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dies im Laufe vergangener Generationen anders gewesen sein könnte. Menschen, die in die Einsamkeit hineingeboren werden, kompensieren diesen Umstand nicht unbedingt mit einem Hang zum Schwatzen. Im Gegenteil, die meisten von ihnen werden mit den Jahren nur verschlossener.
Kreuze tragen keine Namen
Einer nach dem anderen treten die Dörfler neben den Sargschlitten. Ihr Adieu an Trofimowna, die üblichen Worte: "Möge die Erde weich wie Federn sein!" Dann bekreuzigen sie sich. Ich kann meinen Blick nicht von Trofimownas Händen lösen. Sie liegen gefaltet auf ihrem Bauch, nicht etwa fahl oder blau, sondern so, als wären sie noch voller Blut und Leben. Es sind starke Hände, knochig und muskulös, die Finger jetzt zwar krallenhaft gekrümmt, aber doch irgendwie harmonisch. Diese Hände haben sie ernährt. Sie haben Saat gestreut, Unkraut gejätet, Brotteig geknetet, Brennholz geschlagen, die Kuh gemolken. Wie kann es angehen, dass sie plötzlich so ruhig daliegen?
Von den Stechmücken bis aufs Blut gepeinigt
Ich denke an den Sommer. An die Mühe im Garten. Ich will mir nichts vormachen. Selbst, wenn es mir nicht gelänge, mehr als drei Kartoffeln aus eigener Zucht zu ernten, würde ein solches Versagen nicht meine Existenz gefährden, ja sie nicht einmal ernsthaft erschweren. Wir Shpilenoks sind die Einzigen im Dorf, die von einem Gehalt leben. Igor als Direktor des Naturschutzparks, ich als Mitarbeiterin des World Wildlife Fund. Aber die anderen, die Alten! Im Juli, wenn sie den ganzen Tag im Garten verbringen, werden sie von den Stechmücken und Bremsen bis aufs Blut gepeinigt. Trotz der Hitze hülle ich mich dann in einen Mantel, hänge mir ein Moskitonetz über den Kopf. Jeden Abend, wenn Trofimowna Spaten und Rechen in die Hütte räumte, erkannte ich über zwei Zäune hinweg ihr von vielen Stichen aufgedunsenes Gesicht.
In 65 Jahren nur zwölf Mal gewaschen
Der Juli ist auch der Monat fürs Heuen. Die Dörfler sind dann mit Sensen in den Wiesen am Waldrand zu sehen. Der Heuwoche folgt das Bad im Fluss. Ohne fließend Wasser in den Hütten waschen sich die Dörfler nur gelegentlich, einige von ihnen über Monate hinweg nicht. Der 65-jährige Wassili, geht das Gerücht, habe sich in seinem bisherigen Leben keine zwölfmal gewaschen. Vor zwei Jahren hat er es in einer Holztonne versucht und sich dabei eine so böse Erkältung zugezogen, dass er weiteren Waschversuchen auf ewig abgeschworen hat. Regelmäßig bieten wir ihm freien Zutritt zu unserem Badehaus an, aber Wassili lehnt ab.
Kreuze tragen keine Namen
Ächzend lassen die Männer den Sarg hinab ins Grab. Dann schaufeln sie es zu. Kudinjonok zieht ein krummes Eichenkreuz aus einem Nachbargrab, rammt es in den Boden über Trofimownas Haupt. In Tschuchrai tragen Kreuze keine Namen. Wir stapfen durch den Schnee nach Hause, unsere verbliebenen 17 Nachbarn drängeln sich zur Totenwache in meine Küche. Ich fülle ihre Schalen mit Borschtsch. Igor gießt Schnaps in die Gläser. "Auf Trofimowna!", toastet er. "Sie hat hart gearbeitet." Die Männer trinken, wischen sich den Mund mit Brot ab. Der "junge Chowrjatsch" erhebt sich, will ebenfalls etwas Gutes über Trofimowna sagen. Aber er kippt um und schlägt in voller Länge auf den Küchenboden. Kiset ist ebenfalls blau. "Wie haben sie es nur geschafft, sich so schnell zu betrinken?", frage ich. Igor hebt hilflos die Schultern: "Sie haben schon vorgestern mit dem Saufen begonnen, es hat nur keiner gemerkt." Ein lautes Schluchzen. Mein Gott, Kudinjonoks Frau bricht erneut in Tränen aus.