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Rio de Janiero: Sambacity

Abseits von Copacabana und Zuckerhut entdecken die Cariocas, die Einwohner von Rio de Janiero, ihre alten Viertel wieder. Und den traditionellen Samba, der dort überlebt hat. Johannes Strempel verliert sich in schmalen Gassen, kolonialen Villen und melancholischen Liedern. Mit Audio

Inhaltsverzeichnis

Auf einer winzigen Bühne der "Carioca da Gema" steht eine schmale, feingliedrige Frau in geblümtem Kleid und blickt zu Boden. Hebt nicht den Kopf, als die Gitarre mit ein paar Moll-Akkorden das Tempo vorgibt und vier Takte später die Perkussionisten einsetzen. Erst als die Cavaquinho, eine Art Ukulele, ein zartes, leichtes Motiv spielt, richtet Teresa Cristina den Blick ins Publikum, ihr Körper strafft sich und mit weit geöffneten Augen beginnt sie "Vai minha tristeza" zu singen, "Verlass mich, meine Traurigkeit", die erste Zeile eines berühmten Liedes. Und durch die Zuschauer, über denen gerade noch eine geheimnisvolle Anspannung lag, ein freudiges Erwarten, geht eine Welle der Gelöstheit, ein Ausatmen, ein kollektives Strahlen.

Lapa - Rückkehr ins Zentrum

Es ist Freitagabend in Lapa, einem der alten Viertel Rio de Janeiros, und die grellen, seelenlosen Diskotheken der Copacabana sind weit, sehr weit. Vor ein paar Minuten prasselte ein schneller, plötzlicher Regen auf die Stadt, der die schmutzige Straße vor der Bar glänzen machte und jetzt als feiner Dampf von den überhitzten Menschen aufzusteigen scheint, die sich am Eingang drängen. Wie bei jedem Auftritt Teresa Cristinas ist die kleine "Carioca da Gema" bis zum Bersten gefüllt. Wer keinen Platz vor der Bühne fand, hat sich auf den Stufen einer Wendeltreppe niedergelassen oder oben auf der Galerie, wo die Sängerin nicht mehr zu sehen, nur noch zu hören ist. Der kurze Regenguss hat der Nacht in Lapa etwas unerwartet Festliches gegeben, er hat das Leben in den Gassen für einen Moment angehalten, um es nun mit noch stärkerem Schwung wieder freizulassen.

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Familiäres Ambiente: Teresa Cristina, einer der Stars des Samba, singt im "Carioca da Gema"
Familiäres Ambiente: Teresa Cristina, einer der Stars des Samba, singt im "Carioca da Gema"
© Gunnar Knechtel

Lapa liegt im alten Zentrum Rios, an Wochenenden drängen sich hier Arm neben Reich, Schwarz neben Weiß, aufgedrehte Teenager und gesetzte ältere Paare stehen Schlange vor den Clubs und Bars, Arbeiter aus der "Zona Norte", den nördlichen Stadtteilen, teilen sich die Tanzflächen mit vornehmen Töchtern aus Ipanema - und versprengte Touristen sehen ein wenig schüchtern zu.

Es ist noch nicht lange her, da trieben sich in Lapa Huren, Junkies und Straßenkinder herum, die bunten Art-déco-Häuser verfielen, und nach jedem Regen stand das Abwasser einen halben Meter hoch in den Straßen. Die Bewohner von Rio, die Cariocas, hatten ihr historisches Zentrum fast ein halbes Jahrhundert lang gemieden. Sie waren fortgezogen nach Copacabana, dann nach Ipanema, Leblon und weiter Richtung Westen; Rio de Janeiro bahnt sich unermüdlich seinen Weg an den Stränden entlang, verleibt sich Flecken von Urwald ein und fließt um steile, nackte Granitberge. Seit einigen Jahren aber kehren die Menschen zurück, und das historische Herz von Rio de Janeiro beginnt wieder zu schlagen. Nicht nur in Lapa, auch in Gamboa am alten Hafen und in dem kleinen Santa Teresa oben auf den Hügeln.

Wiedergeburt eines Viertels

Hier oben, sagt man, habe die Wiedergeburt begonnen, in Santa Teresa, das mit Lapa verbunden ist durch eine steile Treppe. Das Viertel ist Rios Künstlergemeinde, ein verwinkeltes Dorf mitten in der Stadt, ein brasilianischer Montmartre, umgeben von dichtem, Feuchtigkeit atmendem Dschungel. Im 19. Jahrhundert waren reiche Bürger hinaufgezogen, um der Hitze und dem Gelbfieber am Meer zu entfliehen, und hatten weiße und himmelblaue Villen in die Hügel gesetzt. Nach einem schweren Sturm 1966 verkam das Viertel. Hippies und Künstler waren die ersten, die sich vor ein paar Jahren wieder der verwaisten Häuser annahmen, inzwischen hat ein regelrechter Boom eingesetzt: Brasilianer, aber auch Europäer, vor allem Franzosen, sind verzaubert vom kolonialen Charme des Stadtteils und sanieren die alten Gebäude

Durch die Gassen zuckelt quietschend die letzte Trambahn der Stadt - ein einzelner, knallgelber, offener Waggon, an dessen Haltestreben sich Trauben von feixenden Schuljungen in weißen Hemden klammern. Verrostete VW Käfer parken kreuz und quer auf dem aufgeworfenen Kopfsteinpflaster, im Himmel spannt sich ein wildes Geflecht aus Kabeln und Telefonleitungen. Aus einem der geduckten Häuschen am "Largo dos Guimarães", dem zentralen Platz des Viertels, weht der Klang einer Klarinette, ein kräftiger Müllmann in blauer Trägerhose fegt davor mit einem winzigen Reisigbesen und ohne jede Eile den Gehweg - hier oben gibt Rio, dieses Stadtmonster, Pfötchen.

Bett und Kaffee in Santa Teresa

Wer Santa Teresa besser kennen lernen will, sollte sich an Carlos Magno wenden, den Türöffner des Viertels. Sein Nachname - übersetzt "Groß" - täuscht, Carlos ist ein kleiner, lebhafter Mann Ende zwanzig und sitzt in einem hellen Büro, in dem unablässig das Telefon klingelt. Alle paar Minuten weht ein kräftiger Windstoß durch die geöffneten Fenster, wirbelt die Papiere auf dem Schreibtisch durcheinander und wischt Stadtpläne von den Wänden. Jedes Mal lächelt Carlos nachsichtig und sortiert aufs Neue seine Unterlagen. Vor vier Jahren hat er zusammen mit zwei Freunden aus Schultagen die erste Bed-and-Breakfast-Agentur Brasiliens gegründet.

"Am Anfang haben wir einfach unsere Bekannten gefragt, ob sie nicht hin und wieder Touristen aufnehmen wollen", erzählt Carlos. "Das hat sich herumgesprochen." Inzwischen bietet sein Unternehmen "Cama e Café" ("Bett und Kaffee") gut 50 verschiedene Unterkünfte in Santa Teresa an. Mit etwas Glück zieht der Besucher bei beim Bäcker Guido Sant’ Anna ein, in einer zweistöckigen, weißen Kolonialvilla mit Blick auf einen großen Mangobaum, auf Lorbeerbüsche und Papyrusstauden. Oder er kommt bei Marcio Lomba unter, in einer Art Hazienda mit Tropenholzparkett und einem Garten, aus dessen Früchten Marcio ebenso hochprozentige wie süffige Schnäpse destilliert. Oder er findet Unterschlupf bei Wanderley Figueiredo, der davon lebt, aus Bambus Leuchten zu biegen, die wie Skulpturen von Außerirdischen aussehen. Am liebsten würde man jeden zweiten Tag die Unterkunft wechseln und Santa Teresa durch die Wohnstuben von "Cama e Café" erkunden.

Schauer des Glücks

Carlos Magno legt allerdings wert darauf, dass Gast und Gastgeber zueinander passen. Besucher füllen vor ihrer Ankunft einen Fragebogen aus über Interessen, Sprachkenntnisse und Vorlieben. Einmal fanden sich auf diese Weise Eheleute, Carlos war zur Hochzeit eingeladen. "Im Hotel würde man nicht einfach mit dem Manager losziehen, um einen Caipirinha zu trinken", sagt Carlos. "Bei uns ist das genau das Ziel. Die Leute lernen sich kennen, gehen zusammen ins Kino, an den Strand oder hinunter in die Clubs von Lapa." Dort unten in Lapa ist im "Carioca da Gema" inzwischen kein Durchkommen mehr. Nur ein hünenhafter schwarzer Kellner mit Kopftuch und grauen Schläfen bahnt sich gelassen einen Weg durch die Menge, indem er mit einem schweren Fingerring im Rhythmus der Musik gegen einen silbernen Sektkübel schlägt, darin werden in Rio die Bierflaschen serviert. Nach nur zwei Songs hat Teresa Cristina die Tanzfläche gefüllt, obwohl die Musikerin wie in sich gekehrt auf der Bühne steht, fast schüchtern. Da ist nichts von den großen Gesten, die man bei einer Samba-Sängerin erwarten würde. Während sie mit dunkler Stimme singt, leicht nach vorn gebeugt, in den Händen eine kleine Trommel, verraten nur kleine, angedeutete Schritte den Rhythmus. Der Samba in Lapa hat wenig zu tun mit den wilden Rhythmen und halbnackten Mädchen, die den Karneval beherrschen. Es ist eine zarte, sinnliche Musik, die noch Stunden später kleine Schauer des Glücks durch den Körper schickt, wenn der Abend lange schon geendet hat.

Wer den anderen Samba sucht, den lauten, grellen, bunten, der muss nach Gamboa gehen - ein weiteres heruntergekommenes Viertel im Zentrum, das einen Aufschwung erfährt. Im vergangenen September hat dort die "Cidade do Samba" eröffnet, die "Samba City", ein zehn Fußballfelder großes Areal am Hafen, der neue Stützpunkt des Karnevals. Karneval ist in Rio nicht eine Sache von ein paar Tagen, sondern eine ganzjährige Angelegenheit: Die Vorbereitungen für den großen Umzug im Sambódromo, in dem die große Samba-Parade stattfindet, dauern das ganze Jahr.

An der Strandsichel von Copacabana geht auch nachts das Vergnügen weiter, bei Konzerten oder in kleinen Restaurants
An der Strandsichel von Copacabana geht auch nachts das Vergnügen weiter, bei Konzerten oder in kleinen Restaurants
© Gunnar Knechtel

Es gibt den offiziellen Samba-Dachverband "Liesa", Wettbewerbsdruck wie beim Profifußball und eine Liga der 14 besten Samba-Schulen Rios. Daraus abzusteigen bedeutet Schmach und Schande für betroffene Stadtteile. "Mit der Samba City ist ein Traum wahr geworden", sagt Vicente Datolli von der "Liesa" bei einer Führung durch die Hallen. Natürlich wolle man mit den Shows und Konzerten auf dem Gelände möglichst viele Gäste nach Gamboa locken, "aber vor allem profitieren unsere Samba-Schulen von der Anlage".

Der Samba kehrt zurück

Denn die kommen meistens aus den Favelas, den Slums der Stadt, und bisher mussten sie unter ärmlichen Bedingungen für die Paraden proben. In der Samba City hat jede der 14 Schulen ein eigenes Gebäude, in dem sie mietfrei die Kostüme schneidern, die Trucks dekorieren und die Tänze üben können. Es gibt Schreinereien, Büros, eine Mensa und saubere Toiletten. "Wissen Sie, seit dreißig Jahren arbeite ich jetzt in der Samba-Liga", sagt Herr Datolli, während er sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl fällen lässt, "und immer war ich auf der Suche nach einem anständigen Klo."

Teresa Cristinas Aufstieg als Sängerin fiel zusammen mit dem Aufstieg Lapas, sie hat das Viertel noch erlebt, als es am Boden lag. Seit neun Jahren steht sie regelmäßig auf der Bühne, zunächst in einer kleinen Bar in der Nähe eines weißen, zweistöckigen Aquädukts, des Wahrzeichens des Stadtteils, seit vier Jahren im "Carioca da Gema".

Zum Samba hat Teresa erst ziemlich spät gefunden - wie viele aus ihrer Generation. Sie ist Ende dreißig, sieht aber viel jünger aus, vor allem, wenn sie lächelt. "Als Teenager mochte ich die Soulsongs von Barry White und Funk von Earth, Wind and Fire ", erzählt sie. "Brasilianische Musik hat mich damals überhaupt nicht interessiert, und gesungen habe ich nur unter der Dusche." Das änderte sich, als sie in der angestaubten Plattensammlung ihres Vaters alte Samba-Aufnahmen entdeckte. Der traditionelle Samba war in Rio lange Zeit vergessen. In den Diskotheken tanzten die Jugendlichen zu Rock und Pop, Samba-Musiker fanden keine Clubs, in denen sie spielen konnten. Nur in einigen Bars des alten Zentrums war die Musik noch lebendig - und wurde dort von den Cariocas vor einigen Jahren wiederentdeckt: Melodien, lange nicht gehört und doch vertraut wie ferne Stimmen aus der Kindheit. Und so wurde aus dem Wunder von Lapa ein doppeltes: die Renaissance des Viertels und die Renaissance der alten brasilianischen Musik. "Damit schließt sich der Kreis", sagt Plinio Froés. "Der Samba ist wieder da."

Zeitreise nach Havanna

Plinio ist Besitzer eines anderen Clubs in Lapa, dem "Rio Scenarium", das nur ein paar Ecken entfernt liegt, in der Straße der Antiquitätenhändler. Lapa, erzählt er, sei schon in den zwanziger und dreißiger Jahren das Bohèmeviertel Rios gewesen, berühmt für seine Billardhallen und Cabarets, Tanzsäle und Musikbühnen. Unzählige der klassischen brasilianischen Songs sind hier entstanden. Das "Rio Scenarium" ist ein völlig anderer Club als das "Carioca da Gema". Hinter der unscheinbaren gelben Fassade eines alten Kolonialhauses mit schmiedeeisernen Balkonen verbergen sich riesige Säle auf drei Stockwerken; überall hängen Bilder und Uhren an den Wänden, die Räume sind vollgestopft mit kuriosem Plunder: Koffer und Radios, verstaubte Kronleuchter, ein Fahrrad, Spielzeugfiguren. Statt der sonst allgegenwärtigen Klimaanlagen zerschneiden schwere Ventilatoren die Luft, und der dunkle Dielenboden zittert von den Bewegungen der Tanzenden - Frauen in engen Kleidern und Männern mit weit offenem weißem Hemd. Es fühlt sich an, als würde man ins Havanna der vierziger Jahre eintauchen.

Bar "Belmonte" - tagsüber kommen Händler, abends Partygänger
Bar "Belmonte" - tagsüber kommen Händler, abends Partygänger
© Gunnar Knechtel

Plinio hat als Antiquitätenhändler angefangen, noch immer verleiht er sein Mobiliar an Theater-, Film- und Werbeproduktionen. Doch mittlerweile spielen bis zu 300 Musiker pro Monat in seinem Club, und wer den gutmütigen Bären mit Vollbart und Bauchansatz Abend für Abend zwischen seinen Gästen tanzen sieht, ahnt, dass er seine Berufung gefunden hat. Inzwischen ist es drei Uhr morgens, und in Lapa sind die Straßen noch immer voll. Ein blinkender Lastwagen der Stadtreinigung biegt langsam um eine Ecke, Teresa Cristinas Konzert ist gerade zu Ende gegangen, jetzt steht sie vor dem Eingang und raucht eine ihrer vier täglichen Zigaretten. Sie hat es in den letzten Jahren zu einer der bekanntesten Sängerinnen Brasiliens gebracht mit Auftritten in vielen Ländern. Auch nach Deutschland ist sie gereist, während der Fußballweltmeisterschaft gab sie ein Konzert im Berliner Haus der Kulturen. Am liebsten aber singt sie noch immer in den kleinen Clubs hier in der Gegend. "Ich habe dem Viertel viel zu verdanken", sagt Teresa. "Lapa hat mich zu der gemacht, die ich heute bin." Und ein bisschen gilt das auch umgekehrt.

Info Rio de Janeiro

Check-In

Telefon: Vorwahl Rio 0055-21.

Anreise: Die nach dem Konkurs 2006 neugegründete brasilianische Fluggesellschaft Varig und die Lufthansa (www.lufthansa.de) fliegen nonstop von Frankfurt/M. nach Rio.

Zeitunterschied: Berlin 12 Uhr = Rio 8 Uhr

Geld: Brasilianische Real (BRL)

Einreise: Reisepass, kein Visum erforderlich.

Sprache: Amtssprache ist Portugiesisch. In der Regel kommt man mit Englisch gut zurecht.

Beste Reisezeit: Frühling und Herbst, in den Sommermonaten (Dez. bis Feb.) ist es sehr heiß.

Sicherheit: Die Kriminalitätsrate ist hoch. Doch der Ruf der Stadt ist schlechter, als sie es verdient hat: Wer Favelas sowie gefährliche Viertel meidet und Wertsachen nicht sichtbar bei sich trägt, kann sich so sicher wie in anderen Großstädten bewegen. Nachts Taxis nehmen.

Rio de Janiero: Sambacity
© Stephan Hauf
GEO SAISON Nr. 04/2007 - Deutschland per Rad

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