Anzeige
Anzeige

Norwegen: Ein Ohr für die Orcas

Auf den Lofoten untersucht eine Deutsche die Sprache der Schwertwale. Touristen dürfen im Schlauchboot mitfahren, wenn die Forscherin den neugierigen Raubtieren lauscht

Inhaltsverzeichnis

Das schwarze Dreieck einer Rückenflosse durchschneidet den Wasserspiegel. Plötzlich ist es ganz still in unserem Schlauchboot, das von kabbeligen Wellen durchgerüttelt wird. Die Finne eines Orcas. Wir klammern uns fest und starren sprachlos auf den ersten Schwertwal, den wir zu Gesicht bekommen. Eine weitere Finne taucht auf, dann noch eine. Ein Orca kommt selten allein: Die schwarz-weißen Wale leben in Familienverbänden. Das habe ich von der Frau gelernt, die jetzt zu einem Fernglas greift - Modell Großvaters Jagdausstattung - und die aufgetauchte Schule ins Visier nimmt. Heike Vester ist Biologin, Expertin für Orcas. Ihr Freund Odd Petter Hovde sitzt am Steuer des Zodiacs. Sie gibt ihm ein Zeichen, und er steuert das Boot fast lautlos auf die Meeressäuger zu.

Orcagesang

Wasser und Luft sind eiskalt. Wir sind östlich der norwegischen Inselgruppe im Nordmeer unterwegs, in Sichtweite der Küste und etwa 30 Seemeilen vom Fischerdorf Henningsvær entfernt. Doch niemand mehr spürt die beißende Kälte - dank der Hightech-Thermoanzüge, in denen wir stecken, und dank der Faszination, die das Naturschauspiel auf uns ausübt. Immer wieder zerteilen die bis zu 1,80 Meter hohen Rückenflossen die tiefblaue Oberfläche des Atlantiks. Die schwarz-weiße Haut der Tiere glitzert im Sonnenlicht. Bevor ich mich völlig im Staunen verliere, berührt mich Heike Vester leicht am Arm.

Im Winter folgen hunderte dieser Schwertwale den Heringsschwärmen tief in die Fjorde hinein
Im Winter folgen hunderte dieser Schwertwale den Heringsschwärmen tief in die Fjorde hinein
© Tilman Wischuf

"Pack ein wenig mit an", bedeutet das. Wir lassen das Hydrofon ins Wasser, ein Spezialmikrofon für Unterseeaufnahmen, dick wie in ein Männerarm. Golden glitzernd verschwindet das Gerät in den klaren Fluten. Zufrieden nickt die Biologin. Sie hat den Rekorder eingeschaltet, den Kopfhörer aufgesetzt und lauscht konzentriert. Als sie uns später die Aufnahmen vorspielt, entfaltet sich ein Geräuschteppich aus Knurren und Brummen, Zirpen und Pfeifen, Zischen und Gurgeln. Heike Vester sammelt diese Orca-Laute, ganz systematisch. 125 verschiedene Töne hat sie bereits identifizieren und 16 Familienverbänden zuordnen können. "Vermutlich kommunizieren die Schwertwale in Dialekten. Bei ihren Artgenossen in Kanada hat man jedenfalls verschiedene ‚Mundarten‘ nachweisen können", erklärt sie. Die Orcas werden nicht nur abgehört, sondern auch fotografiert. So lässt sich jedes einzelne Tier identifizieren. Die Individuen tragen unverkennbare Muster aus Narben und Einkerbungen an der Finne, auch Größe und Form der weißen Hautflächen unterscheiden sich von Wal zu Wal.

Wissenschaft als Reiseziel

Fräulein Vesters Gehör für die See: Die Forscherin sortiert Orca-Rudel nach ihren Dialekten
Fräulein Vesters Gehör für die See: Die Forscherin sortiert Orca-Rudel nach ihren Dialekten
© privat

All diese Daten fließen in Heike Vesters Doktorarbeit ein. Sie will erforschen, ob und wie die Meeressäuger akustisch auf von Menschen verursachte Lärmquellen reagieren. Macht es sie nervös, ängstlich? Seit rund drei Jahren arbeitet die 37-jährige Biologin an diesem Thema. Ihr Basislager hat sie im Lofotendorf Henningsvær aufgeschlagen: ein zweistöckiges, grau getünchtes Haus, darin ein kleiner Saal mit meerblauem Boden, viel Kunst an den Wänden, Regale voller Fachliteratur, abseits ein Schreibtisch mit kleiner Leseecke. Das Wohn- und Arbeitshaus der deutschen Biologin ist eine Mischung aus Labor, Galerie und Touristenzentrum. Interessierte Gäste dürfen sie auf ihre Forschungsfahrten begleiten. Nur so ist die Doktorarbeit überhaupt finanzierbar. "Wissenschaft als Selbstzweck ist nicht meine Sache", sagt Heike Vester und deutet auf ein altes Predigerpult. Die Heilsarmee, der das Gebäude früher gehörte, hat das Möbel hinterlassen. Die Forscherin stützt sich bei ihren Vorträgen darauf. Eine Geste mit Symbolkraft: Heike Vester sieht sich nicht nur als Biologin, sondern als Aktivistin, die für den Schutz der Wale auf die Kanzel steigt. Aber können Touristen eine Hilfe sein, wenn man ernsthaft Wale erforschen will?

Die Wissenschaftlerin mit den grünen Augen und den hennaroten Haaren lächelt - und lässt die Frage diplomatisch offen. Mehr als vier Gäste, erklärt sie, passten ohnehin nicht ins Schlauchboot. Wenn Gruppen anreisen, begleitet Vester sie auf der "Alten Lofoten-Fähre", einem historischen Schiff, das heute zu Whale-Watching-Touren ausläuft.

Gefährliches Whale-Watching

Karges Land, reiches Meer: Henningsvær lebt heute von Fischfang und Waltourismus
Karges Land, reiches Meer: Henningsvær lebt heute von Fischfang und Waltourismus
© Tilman Wischuf

Da ist Heike Vester dann weniger Forscherin als hochqualifizierte Reiseleiterin. Sie schildert ihren Zuhörern etwa, dass die Gesellschaft der Orcas als Matriarchat organisiert ist: Nachkommen bleiben bei der Mutter und ziehen dort auch ihre eigenen Jungen auf. Ein solcher Familienverband kann aus bis zu 35 Tieren bestehen. Die Doktorandin gerät ins Schwärmen, wenn sie die akrobatischen Kunststücke der eleganten Raubtiere und ihr beziehungsreiches Familienleben schildert, wenn sie beschreibt, wie empfindlich die Haut der Kolosse ist und wie sensibel ihr Gehör.

Aber auch auf das konfliktreiche Verhältnis Mensch - Wal kommt die Biologin immer wieder zu sprechen. So ist etwa die Beziehung der lokalen Heringsfischer zu den Orcas äußerst angespannt. Die klugen Räuber haben nämlich herausgefunden, dass sie Heringe, ihre Lieblingsnahrung, leicht erbeuten können, wenn sie an die großen Fischerboote heranschwimmen und die Beute beim Einholen aus den noch geöffneten Netzen herausschnappen. "Dass die Orcas sich damit unter den Heringsfängern keine Freunde machen, ist durchaus nachvollziehbar", sagt Heike Vester. Die Bewohner der Inseln sind nach wie vor auf die Gaben des Meeres angewiesen, besonders im Winter. Zwischen Januar und März findet der traditionelle Lofotfang statt, dann zieht der Kabeljau von der Barentssee zum Laichen vor die norwegische Küste. Immer noch wird Kabeljau, der Norwegen über Jahrhunderte Wohlstand brachte, hier in Massen gefangen und an der salzigen, kalten Inselluft zu Stockfisch getrocknet - ein Produkt, mit dem schon die spätmittelalterliche Hanse reich geworden ist. Heute wird es meist als bacalao in Spanien und Portugal serviert. Heike Vester weiß nicht, wie Kabeljau schmeckt - seit ihrer Kindheit ist sie strenge Vegetarierin. Am Kabeljau interessieren sie nicht die kulinarischen, sondern die akustischen Eigenschaften. Der Fisch gibt Töne von sich - ein Klicken, um Feinde zu erschrecken, ein Brummen zur Brautwerbung. Die Biologin hat die Sprache des einst für sprichwörtlich stumm gehaltenen Fische zufällig entdeckt, als sie sich mit dem Verhalten von Robben beschäftigte. Noch vor dem Kabeljau wandern im September und Oktober die Heringe zur Küste. Dann fährt Heike Vester täglich im offenen Schlauchboot hinaus aufs Meer zu ihren Forschungssubjekten - ausgerechnet dann, wenn der nordische Winter mit seinem unwirklichen Dämmerlicht beginnt, wenn die Norweger es sich daheim gemütlich machen und überall Kerzenund Kaminfeuer flackern.

Denn den Heringsschwärmen folgen die Orca-Familien. Und die größten Raubtiere der Meere ziehen eine immer größer werdende Flotte von Booten mit Touristen an, die Wale ganz nah und live erleben wollen. Whale-Watching gehört inzwischen zu den Hauptattraktionen und -einnahmequellen der Lofoten. "Wir ahnen bisher nur", sagt Heike Vester, "welchen Einfluss der Bootslärm auf das empfindliche Ökosystem hat". Denn Wale orientieren sich unter Wasser mit Ultraschall-Lauten, wie wir mithilfe des Lichts auf unserer Netzhaut. Deshalb stellt die zunehmende Geräuschverschmutzung der Meere eine Bedrohung für sie dar - ganz so, als würden wir von überstarken Lichtquellen geblendet. Heike Vester hält respektvollen Abstand, versucht, die Tiere nicht beim Fressen zu stören. Dass die Meeressäuger hin und wieder dicht an das kleine Schlauchboot mit der Forscherin heranschwimmen, kann sie nicht verhindern. "Sie sind überaus neugierig", erklärt sie und fügt mit strahlenden Augen hinzu: "Manchmal singen sie dann direkt ins Hydrofon."

Info: Lofoten

Telefon: Intern. Vorwahl Norwegen: 0047

Währung: 1 Euro = 8,10 NOK (Norwegische Kronen), 100 NOK = 12,40 Euro, Stand: April 07

Reisezeit: Orcas sind von November bis Januar vor der nordnorwegischen Küste

Anreise: In etwa fünf Stunden mit SAS tägl. via Oslo nach Bodø, von dort mit der lokalen Fluggesellschaft Widerøe (www.wideroe.no) nach Svolvær auf den Lofoten. Mit Lufthansa, Norwegian Air oder Germanwings (ab Köln/Bonn) nach Oslo, Weiterflug mit Widerøe nach Bodø und Svolvær. Mit Bus, Taxi oder Mietwagen nach Henningsvær

Infos: Destination Lofoten, (www.lofotentourist.no; www.lofoten-online.de)

WAL-FAHRTEN

Heike Vester bietet kein Komplettprogramm an, hilft aber bei der Suche nach Unterkünften. Die Einnahmen ihrer Organisation "Ocean Sounds" fließen in die Forschung. Heike I. Vester, Hellandsgata 63, N-8312 Henningsvær, Tel. 76 07 18 28, www.ocean-sounds.com "Raue Ausfahrt": November bis Januar, Dauer: 3-8 Stunden, wetterabhängig. Mitfahren können max. 4 Personen im Alter ab zwölf Jahren. Eine gute körperliche Verfassung ist Voraussetzung. Das Forschungszentrum ist im Sommer täglich geöffnet. Von Juli bis August werden dort Foto- und Kunstkurse angeboten.

GEO SAISON Nr. 06/2007 - Europas schöner Osten

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel