Inhaltsverzeichnis
Hoch über den Dächern der Stadt lehnt Sashah Anton Khan an der gläsernen Brüstung der Terrasse und erwartet das junge, wohlhabende Istanbul. Noch ist sein Restaurant "360 Istanbul" leer und still. Ein Angestellter steht am Empfangspult und blättert im dicken Reservierungsbuch. Schöne Kellnerinnen in weißen Blusen rücken Stühle zurecht, der Barkeeper mixt gemächlich einen ersten Cocktail. Alles ist bereit für die kommende Nacht.
"Türken gehen nicht gern zu Fuß", sagt Khan, "aber hierher kommen sie trotzdem, obwohl man nirgends parken kann." Vor zweieinhalb Jahren hat er das "360" eröffnet, im Szenestadtteil Beyoğlu, der sich vom Nordufer des Goldenen Horns nach Nordwesten zum Bosporus erstreckt. Dort, direkt an der Meerenge zwischen Asien und Europa, befinden sich die exklusiven Diskotheken Istanbuls: das "Reina" oder das "Sortie", wo Film- und Popstars die Nächte durchtanzen. Vor den Eingängen liegen Paparazzi auf der Lauer, und wer auf sich hält, macht mit der Yacht am clubeigenen Bootsanleger fest. Das "360" kann als Prominententreff durchaus mithalten, denn es bietet etwas, das die Gebäude am Ufer nicht haben: eine berauschende Rundumsicht. Im Süden und Westen die dunklen Wasser des Goldenen Horns, die Altstadt und das Marmarameer; im Norden und Osten reicht der Blick über das Häusergeflecht der Neustadt, den Bosporus mit den Ozeanriesen und Sportbooten bis weit auf die asiatische Seite der 14-Millionen-Stadt. "Das neue Nachtleben spielt sich in Beyoğlu und den angrenzenden Vierteln ab", sagt Khan. "Denn die Hügel hier oben machen aus jeder Dachterrasse eine Aussichtsplattform." Sashah Anton Khan - weiße Baskenmütze auf dem kahl rasierten Kopf, Hornbrille, schlichte Trainingsjacke unter einem edlen, blauen Sakko - ist der Prototyp des kosmopolitischen, modernen Istanbulers.
Gebräu verschiedener Einflüsse
Die Mutter Österreicherin (daher Anton), der Vater Afghane (daher Khan), wuchs er in England und im Iran auf, lebte in Las Vegas, Los Angeles und Wien. Er wurde christlich getauft, ist zum Islam konvertiert, seit 2000 wohnt er in Istanbul. "Ich bin wie diese Stadt", sagt er in stockendem Deutsch, das mit breitem Wiener Akzent gefärbt ist. "Ein buntes Gemisch der Kulturen, ein Gebräu verschiedener Einflüsse. Darum passen Istanbul und ich so gut zueinander." Sein Restaurant hat sich gefüllt. Unermüdlich transportieren die beiden engen, quietschenden Fahrstühle Gäste die acht Stockwerke des Jugendstilhauses hinauf in den Glaspavillon auf dem Dach. Ein DJ legt entspannte Elektroklänge auf, im offenen Kamin knistert ein Feuer, das Publikum sitzt in Gruppen an langen Tafeln oder lümmelt in geschwungenen weißen und purpurroten Sofas. Später, nach dem Essen, werden Kellner die Tische beiseiterücken, um Platz für die Tanzfläche zu schaffen.
Auch auf die Terrasse strömen die Menschen, elegant gekleidet, Longdrinkgläser in der Hand, um einen Blick auf Istanbul im goldenen Abendlicht zu werfen. Das "360" könnte ein Restaurant in jeder westlichen Metropole sein, in London oder New York, lägen da nicht die orientalischen Kuppeln, die spitzen Minarette und die engen Gassen der Basare im Blickfeld. Dazu kommt das Rufen der Muezzins, das sich mit dem Dröhnen des Verkehrs und dem hysterischen Jaulen von Autoalarmanlagen mischt. Kahn stellt sich an die gläserne Brüstung, nickt und sagt: "Ich wollte immer in einer Stadt leben, zu deren Silhouette Moscheen gehören."
Wie der Bosporus den asiatischen Teil der Stadt vom europäischen trennt, so trennt das Goldene Horn Istanbuls Vergangenheit von seiner Zukunft: Am Südufer erstreckt sich die Altstadt - 3000 Jahre Geschichte; der kühle Marmor von Byzanz, die goldenen Kalligrafien des Orients, Sultanspaläste und Moscheen. Die jüngeren Stadtviertel am Nordufer - Beyoğlu, Karaköy, Cihangir - haben eine lange Tradition als Brutstätten des Neuen und Zufluchtsort für Einwanderer: Im 13. Jahrhundert gründeten genuesische Händler hier Stützpunkte, danach bauten Armenier, Juden und Griechen ihre Häuser in die Hügel mit den steilen Gassen. Europäische Kaufleute und Diplomaten errichteten im 19. Jahrhundert prächtige Geschäftshäuser entlang der Hauptstraße, der "La Grande Rue de Péra". In den Patisserien trafen sich die Damen zum Fünf-Uhr-Tee, und abends tanzten die Passagiere des Orientexpress Tango in den Sälen der Hotels. Heute heißt die Straße "İstiklal Caddesi" und ist Beyoğlus autofreier Einkaufsboulevard.
Flickenteppich aus tausend Momenten
Wahrzeichen des Stadtteils ist der trutzige, 60 Meter hohe Galata-Turm. In einem kleinen Café ganz in der Nähe sitzt Ömer Erzeren. Ein unauffälliger, stiller Mann mit dichtem, schwarz-grauem Bart und Stirnglatze, der sich in einem lautlosen Lachanfall schüttelt, so oft er etwas Lustiges erzählt. Er ist Schriftsteller, aufgewachsen in Deutschland und in der Türkei. Sein Buch "Eisbein in Alanya" rechnet ab mit Klischees über beide Völker. Auch die verbreitete Plattitüde zur Beschreibung Istanbuls kann er nicht mehr hören. "Das Gerede von der Brücke zwischen Orient und Okzident geht mir auf die Nerven", sagt er und winkt mit flacher Hand ab, "das wird dieser Stadt nicht gerecht. Istanbul ist etwas anderes." Aber was?
"Ein Flickenteppich aus tausend Momenten", antwortet er. "Istanbul vereint die Türkei und ist zugleich ganz anders als das Land. Es gibt moderne, westliche Stadtteile auf der asiatischen Seite und streng moslemische auf der europäischen, Slums neben Luxusvierteln, Diskotheken neben Moscheen. Istanbul ist mit seinen Widersprüchen immer gut fertig geworden." Vor mehr als 15 Jahren hat Erzeren mit Freunden das "Café Kaktüs" eröffnet, in einer Seitengasse der İstiklal Caddesi. Damals war Beyoğlu ziemlich heruntergekommen. Tagelöhner aus Anatolien hatten die Häuser bezogen, die allmählich verfielen; unweit des Galata-Turms ließ die Stadt das Zentralbordell eröffnen. "Als wir herzogen, gab es in der Straße nur unser Café und dazu 30 Striptease-Clubs", erzählt Erzeren. "Bekannte warnten uns, die Mafia würde uns fertigmachen. Aber uns ist nichts passiert."
Inzwischen sind die Sex-Clubs verschwunden, und 30 Cafés haben an ihrer Stelle aufgemacht. Mit den Kneipen und Bars begann der Aufschwung Beyoğlus. Als Erste zog es Intellektuelle auf die Inseln im Reich der Prostitution und Kriminalität. Im "Kaktüs" sind bis heute überwiegend Schriftsteller und Journalisten anzutreffen. Beyoğlu ist wieder, wie schon im 19. Jahrhundert, ein schickes Ausgehviertel. Durch die Fußgängermassen auf der İstiklal Caddesi schiebt sich eine kleine Straßenbahn. An die Rotlichtära erinnern nur noch ein Pornokino in einer dunklen Passage und des Nachts ein paar junge Männer, die sich bei Touristen erst höflich nach der Uhrzeit erkundigen, um dann den Versuch zu unternehmen, sie in einen der letzten Sexclubs des Quartiers abzuschleppen.
Ein vielstimmiger Popmusik-Kanon dringt aus den Boutiquen der İstiklal Caddesi, Handys bimmeln ohne Unterlass, junge Leute tragen große Einkaufstüten mit westlichen Markennamen. Wer jedoch um eine Ecke biegt, hinein in die Gassen des "Balık Pazarı", des Fischmarkts, findet sich im tiefen Orient wieder. Die Menschen gehen langsamer, bunte Zeltdächer überspannen die ungepflasterte Straße, Händler streiten sich gebärdenreich über die Köpfe der Passanten hinweg. Garküchen und breite Auslagen stehen vor den Geschäften, darauf Fische mit leuchtend roten Kiemen, Muscheln, Gewürze und Gemüse. Strenge alte Herren mit grauen Bärten und Gebetskettchen zwischen den Fingern sieht man durch die Straßen Beyoğlus gehen und übermütige Schulkinder, denen das weiße Hemd aus der Hose hängt. Frauen im bodenlangen, schwarzen Tschador und junge Mädchen in engen Jeans, gepierct und bauchnabelfrei, mit wehendem Haar und riesigen Sonnenbrillen auf den Nasen.
Sex and the City auf türkisch
Tuğçe Baran ist eine dieser selbstbewussten Frauen, und die Bewohner der Stadt sind gewöhnlich gut unterrichtet über ihr Leben: Ob sie gerade verliebt ist oder verlassen wurde, dass sie mal wieder Ärger mit unzuverlässigen Handwerkern hat oder wie sie von einer missgünstigen Kollegin im Beruf gemobbt wird. Tuğçe Baran ist Anfang dreißig und meistens Single. Sie stammt aus İzmir und lebt in Kuruçesme, einem ruhigen Wohnviertel am Bosporus nördlich von Beyoğlu. Das alles wissen die meisten Istanbuler. Was die Mehrzahl von ihnen nicht weiß, ist, wer hinter Tuğçe Baran steckt. Eine Zeit lang gab es das Gerücht, dass es sich gar nicht um eine Frau handele. Sondern dass ein Mann unter Pseudonym die tägliche Kolumne im Stil von "Bridget Jones" und "Sex and the City" in der Zeitung "Vatan" verfasse. "Trotz aller Fortschritte ist es für viele Türken noch immer empörend, dass eine Frau offen von ihrem Dasein als Single und über ihr Sexleben berichtet", sagt Mutlu Tönbekici, die wahre Tuğçe Baran. "Daher wohl der Verdacht, dass ein Mann dahinterstecken muss." Die Journalistin, die als Kind türkischer Gastarbeiter in der Schweiz aufwuchs und seit 20 Jahren in Istanbul lebt, teilt viele Charakterzüge mit ihrer fiktiven Figur. "Was Tuğçe erlebt, sind zur Hälfte meine eigenen Erfahrungen, zur anderen Hälfte Erfindungen. Ich selbst lebe inzwischen etwas ruhiger", sagt sie.
Männer und die Liebe nehmen den größten Raum in ihren Geschichten ein. "Türkische Männer werden immer egoistischer", schreibt Mutlu zum Beispiel in einem Artikel. "Erst sagen sie dir, dass sie dich lieben, und dann rufen sie nie mehr an." Aber es geht auch um die vielen aufreibenden Alltäglichkeiten im Moloch Istanbul: den Smog, den Lärm, die chronischen Verkehrsstaus. Den heutigen Sonntagnachmittag verbringt Mutlu im "Istanbul Modern". Möglich, dass Tuğçe von ihren Beobachtungen und Erlebnissen in einer ihrer Kolumnen erzählen wird. Das Museum für moderne türkische Kunst eröffnete im Dezember 2004 in einem ehemaligen Zollgebäude des einst heruntergekommenen Hafengebiets von Tophane, südöstlich von Beyoğlu. Tophane boomt mittlerweile. "Die Stadt verändert ihr Gesicht", sagt Mutlu im Café auf der Terrasse, während sie aus einer mitgebrachten Dose mit einem Engel auf dem Deckel Süßstoff in ihren Latte macchiato gibt. "Istanbul wächst und wächst."
Das neue Istanbul
In der Nähe des Museums soll der "Galataport" entstehen, ein gigantischer Komplex aus Kinos, Hotels, Einkaufszentren und einer Pier für Kreuzfahrtschiffe. Die meisten der historischen Hafengebäude müssten dafür abgerissen werden. Auch in anderen Stadtteilen wird die Vergangenheit weichen: Auf der asiatischen Seite, am alten Bahnhof Haydarpaşa, ist ein Hochhausviertel mit Shoppingmall geplant. Im europäischen Teil, im Büroviertel Levent nördlich von Beyoğlu, wollen kuweitische Investoren die "Dubai Towers" bauen, zwei 300 Meter hohe Wolkenkratzer. Viele Bewohner sehen die Entwicklung mit Unbehagen und fürchten um die typische Silhouette ihrer Stadt. Mutlu ist dem Neuen gegenüber jedoch aufgeschlossen: "Natürlich muss man das alte Istanbul bewahren", sagt sie. "Aber es ist doch gut, dass so viel passiert. Als ich hierher kam, heizte fast jeder noch mit Kohle. Die Luft war im Winter so schlecht, dass man kaum atmen konnte. Und das Goldene Horn roch wie eine Kloake." Inzwischen werden immer mehr alte Häuser saniert, Viertel erwachen, die Lebensqualität steigt. "Die typische Istanbuler Melancholie früherer Jahre ist zum Glück verschwunden. Die Stadt wird immer schöner und aufregender." Bevor Mutlu sich verabschiedet, erzählt sie: "Immer wieder sehe ich Touristen, die ihren ganzen Urlaub damit verbringen, in der Altstadt die Hagia Sophia anzustarren und durch Basare zu schlendern." Die wolle sie dann am liebsten am Kragen packen und einfach fortschleifen, hinaus aus der Vergangenheit und hinein in das neue Istanbul.