
Von den Wänden bröckeln die Fliesen. Das Laminat zeigt Risse. Und wenn das Licht in den riesigen Hallen mal wieder nicht funktioniert, ließe sich ein gruseliger Horrorfilm drehen. Allzu viel ist in der alten Austria-Tabakfabrik noch nicht zu sehen von der schönen neuen Welt. "Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut", gibt Chris Müller zu bedenken. Seine Aufgabe ist ähnlich komplex. Dem Kulturmanager hat die Stadt die Herkulesaufgabe anvertraut, die 2009 stillgelegte Industrieruine mit 80 000 Quadratmeter Nutzfläche in ein Kreativquartier zu verwandeln. Erste Erfolge sind schon zu besichtigen: Im Bau 2, wo einst Pfeifentabak produziert wurde, entwickeln Media-Designer in Lofts heute Tools für die globale Kommunikation österreichischer Unternehmen. Nerds brüten darüber, wie man mit Virtual Reality Ausstellungen spannender macht. Oder sie erforschen im Open Lab, was ein 3-D-Drucker so alles ausspucken kann. In 20 Jahren, prophezeit Chris Müller, soll sich das Projekt zu "einer Fabrik der unbegrenzten Möglichkeiten entwickeln". Einem "Nicotine Valley", in dem Designer und Philosophen, Hacker und Gestalter gemeinsam an der Zukunft arbeiten. "Wegen Umbau geöffnet" – Müllers Einladung an Linzer und Besucher, das derzeit ehrgeizigste Entwicklungsprojekt vor Ort zu verfolgen, lässt sich auf die ganze Stadt übertragen: Wie Linz in wenigen Jahren aus den Schatten seiner Vergangenheit getreten ist und sich als moderne Kulturstadt neu erfunden hat, ist ein über Österreich hinaus viel beachtetes Experiment.
Die Schatten waren lang: erst Provinzstadt zwischen Salzburg und Wien. Dann Lieblingsstadt des Führers, der in der Realschule in der Steingasse zur Schule gegangen war. Schließlich, nach dem Krieg, mit dem Stahlwerk der Voest, Hochofen der Republik. Bei der Voest werden weltweit gefragte Spezialschienen und Röhren für Pipelines produziert. Noch immer hat Linz mehr Arbeitsplätze (207 000) als Einwohner (200 000). Aber das Stahlwerk ist heute eines der modernsten der Welt – und es stinkt nicht mehr. Die Anerkennung für den Imagewandel ist nicht ausgeblieben: 2009 war Linz Kulturhauptstadt Europas. Im Dezember 2014 wurde die Stadt von der Unesco in das "Creative Cities Network" aufgenommen, einer illustren Runde von Städten wie Lyon, Sapporo oder Tel Aviv.
Leuchtturm der "Creative City" Linz ist die Ars Electronica. 1979 als "Festival der Elektronischen Musik" gestartet, entwickelte sich die "AE" zum weltweit wichtigsten Festival der Medienkunst und des Fortschritts im World Wide Web. Ob John Lasseter von Pixar, Jimmy Wales von Wikipedia oder Julian Assange von Wikileaks: Alle haben ihre Projekte auf der Ars Electronia präsentiert. Heute gehört zum Festival auch das Ars Electronica Center, ein Museum der Zukunft, in dem man all das bestaunen kann, was in den Future Labs der Welt ausgeheckt wird: Deep Space, ein weltweit einmaliges Tool, mit dessen Hilfe man mit einer Bildauflösung von 8k in den Weltraum schauen kann – oder durch das Gehirn eines Menschen spazieren. Paro, die Roboter-Robbe, die als digitales Kuscheltier für Demenzkranke Wunder wirken soll. Oder virtuelle Spielereien wie ein Tauziehen mit dem Besucher eines Technikmuseums am anderen Ende der Welt. Zum Kulturhauptstadtjahr 2009 stand das Haus mit der futuristischen Schiffsform und der schillernden LED-Wand aber längst nicht mehr allein für den Wandel der Stadt. Direkt gegenüber, im ebenso spektakulären Glascontainer des Lentos, stellt Museumschefin Stella Rollig zeitgenössische Kunst aus. Im "Wissensturm" hat man alle Bibliotheken der Stadt zusammengefasst. Selbst der Südflügel des Schlosses, im Jahr 1800 abgebrannt, wurde mit einer Konstruktion aus 1200 Tonnen Stahl und Glas wieder aufgebaut.
Linz verändert sich weiter: 2013 ließ man den britischen Avantgardisten Terry Pawson für 160 Millionen Euro ein Musiktheater bauen, das nicht nur in Wien für neidische Blicke sorgt. Zur Eröffnung komponierte Philip Glass eine Oper nach einem Drama von Peter Handke. Da fragt man sich: Wo in diesem digitalen Rauschen schlägt noch das österreichische Herz? Doch es gibt sie noch, die Linzer G’mütlichkeit: rund um die Dreifaltigkeitssäule etwa am Hauptplatz: barocke Fassaden, ganz schmal, weil die Steuer einst nach der Hausbreite berechnet wurde. 1843 wohnte seine Kaiserliche Hoheit Erzherzog Johann im Hotel Wolfi nger, das sich seither nur unwesentlich verändert haben dürfte. In den Gassen zum Dom gibt es noch Kaffeehäuser, in denen man einen ganzen Tag beim Einspänner verbringen kann. Das Jindrak zum Beispiel, gegründet 1929. Allein über 100 000 Linzer Torten verschickt der 145-Mann-Betrieb jedes Jahr in alle Welt. Auch an dieser Institution ist der Wandel nicht spurlos vorübergegangen. Neben Kipferl und Krapfen liegt im Stammhaus in der Herrenstraße in der Verkaufstheke auch eine Süßigkeit, die das neue Linz symbolisiert: ein Computer aus Marzipan.

Infos zu Linz
ERLEBEN
ARS ELECTRONICA CENTER: Das Museum der Zukunft beamt Linz in den Cyberspace. Ars-Electronica-Str. 1, Tel. 0043-732-7 27 20, www.aec.at
LENTOS: Große Sammlung mit Werken von Lüpertz bis Warhol. Das wichtigste Kunstmuseum in Oberöstereich. Ernst-Koref-Promenade 1, Tel. 0043-732-70 70 36 00, www.lentos.at
TABAKFABRIK: Ein Industriedenkmal aus den Dreißigerjahren wird in ein Kreativ-Quartier verwandelt – spannendstes Entwicklungsprojekt von Linz. Peter-Behrens-Platz 11, Tel. 0043-732-77 22 72, www.tabakfabrik-linz.at, es werden Führungen angeboten.
ESSEN & TRINKEN
SCHLOSS-BRASSERIE: Im gläsernen Südfl ügel des Linzer Schlosses verwöhnt Sternekoch Rudolf Grabner mit Filet vom Mühlviertler Stier. Wunderbarer Blick auf Linz. Schloßberg 1a, Tel. 0043-732-30 23 15, www.schlossbrasserie.at
FISCHERHÄUSL: Restaurant an der Donau mit guter Aussicht und noch besserem Essen. Tipp: die knusprige Surstelze. Flussgasse 3, Tel. 0043-732-23 27 00, www.fischerhaeusl.at
CAFÉ JINDRAK: Traditionskonditor, und das heißt hier: echte Linzer Torte. Herrenstr. 22–24, Tel. 0043-732-77 92 58, www.linzertorte.at
SCHLAFEN
HOTEL WOLFINGER: Linzer Klassiker – hier übernachtete schon die kaiserliche Familie. Außen wie innen ganz Biedermeier. Hauptplatz 19, Tel. 0043-732-773 29 10, www.hotelwolfinger.at, DZ ab ca. 100 €
HOTEL AM DOMPLATZ: Cooles Boutique-Hotel aus Beton und viel Glas neben dem gotischen Mariendom. Stifterstr. 4, Tel. 0043-732-77 30 00, www.hotelamdomplatz.at, DZ ab ca. 100 €