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Was er empfand, als er die Patientinnen im Dschungel das erste Mal sah, daran kann sich der Doktor nicht mehr erinnern. Doch sofort aufgefallen war ihm die große Zahl junger, einst sicher makellos schöner Frauen, die in der feuchten Hitze Kambodschas besonders zu altern schienen. Die Gesichter eingefallen, die Brüste versehrt. Und ihre Beine glichen nicht selten nur noch Stümpfen.
Blanke Brust und brüchige Mimik
Hans Leisen ist Fachmann, ein Experte für komplizierte Fälle, eine Mischung aus Notarzt und Schönheitschirurg. Spezialgebiet: Menschen aus Stein. Es war 1995, als der Professor für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaften seine Kölner Fachhochschule verließ und erstmals nach Angkor Wat in Kambodscha reiste, zur größten Tempelanlage der Welt. Zu dem verwitterten Relikt einer Hochkultur, die sich wie ein asiatisches Machu Picchu bis ins späte 19. Jahrhundert vor westlichen Augen verborgen hielt.
Umgeben von einem fast sechs Kilometer langen Wassergraben und versteckt in einem chaotischen Geschlinge aus Palmen, Würgefeigen und den mächtigen Wurzeln der Banyans, gigantischer Maulbeergewächse, liegt das Monument in der Landschaft. Mit kleineren Tempeln und Türmen, die wie riesige Tannenzapfen bis zu 65 Meter in den Himmel ragen, mit nicht enden wollenden, mit Flachreliefs verzierten Gängen und, allgegenwärtig, den Apsaras, kunstvoll gearbeiteten Tempeltänzerinnen mit blanker Brust und brüchiger Mimik. "Es sind schon sehr hübsche Frauen", sagt Leisen und sieht prüfend durch die weit vorn auf der Nase sitzende Brille. "Das darf man ja auch mal sagen."
Man darf, allerdings scheint selbst "sehr hübsch" längst nicht angemessen zu sein für jene himmlischen Nymphen, die vor Jahrhunderten auf der Suche nach dem Elixier der Unsterblichkeit einem Ozean aus Milch entstiegen und von so vollendeter Schönheit waren, dass weder Götter noch Dämonen sie zur Frau haben wollten. Die Hände in den Taschen seiner blauen Latzhose, steht Leisen auf einem Gerüst und blickt wie ein nachdenklicher König auf sein verfallendes Reich. Auf die mit Flechten bedeckten Torbögen und die vom salzhaltigen Fledermauskot zerfressenen Türme. Gut 800 Jahre ist es her, dass sich zu einer Hochphase der Khmer-Kultur hier höfisches und religiöses Leben mischten und nicht Touristen die Anlage belebten, sondern Soldaten, Beamte, Mönche in leuchtenden Gewändern und vor allem barfüßige junge Frauen, meist mit Lotosblüten in der Hand. Sie trugen schulterlanges Haar und manchmal kunstvoll gearbeiteten Schmuck darin. Um ihre Hüften war feiner Stoff gewickelt, von filigran gearbeiteten Gürteln gehalten; die knabenhaften weißen Brüste hingegen blieben unverhüllt.


Es waren wohl mehrere tausend dieser Tänzerinnen, die am Hof des Königs ihren mythischen Vorbildern, den Apsaras, nacheiferten. Und auch wenn vermutlich die wenigsten den erstrebten Platz im Paradies der Unsterblichkeit erreichten, schafften es Hunderte, zumindest Konkubinen des Regenten zu werden. An Mädchen mangelte es dem Herrscher nie: Zu seinem Geburtstag schickten die Gouverneure der Provinzen stets ihre schönsten und talentiertesten Tänzerinnen, und gebar eine Frau im Land eine hübsche Tochter, so wurde diese fast umgehend an den Palast gesandt. Nein, er wisse nicht, wie viele Apsaras aus Fleisch und Blut einst in der Anlage gelebt haben, sagt Leisen. Das könne niemand genau sagen. Aber die Zahl dieser traumschönen Frauen, denen die Bildhauer ein ewig währendes Denkmal setzen wollten, die kenne er natürlich. Rund 1850 Reliefs, ein jedes 80 bis 100 Zentimeter hoch, zählte Leisen bei Projektbeginn - die meisten waren beschädigt, viele nicht mehr zu retten. "Meine Güte", habe er da gedacht, "wo anfangen, wo aufhören?"
Ungefähr zur selben Zeit steht knapp 380 Straßenkilometer entfernt in Phnom Penh eine Gruppe Frauen vor einer angegriffenen Tempelfassade. Auch hier: Apsara-Reliefs in schlechtem Zustand, aber kein Fall für Leisen. Styroporkulissen brauchen keinen Restaurator. Sie gehören zur "Königlichen Universität der Künste", Kambodschas renommiertester Einrichtung für Tanz. Auf andere Weise wird hier erhalten, was vom Untergang bedroht war, nachdem die Soldaten Pol Pots in den 1970er Jahren wüteten und in Massengräbern auch Kambodschas Tanzkultur begruben. Mordende Truppen, die zwar die Reliefs der Angkor-Tempel verschonten, aber ansonsten alles vernichteten, was an die alte Ausdruckskunst erinnerte: Musikinstrumente, die spärlichen Aufzeichnungen der Schrittfolgen, Fotos und - die Künstler selbst. So starb innerhalb einer vierjährigen Terrorherrschaft mit Hunderten Apsaras und deren Lehrern auch ein Großteil der über Generationen oft nur mündlich weitergegebenen Tradition.
Vom Traum zum Traumberuf
Nicht viele Tänzerinnen sind den Roten Khmer entkommen. Die größte Chance besaß, wer sein Wissen verleugnete. Wie Pen Sok Huon, einst sogar Mitglied des Königlichen Balletts, die sich als Bäuerin tarnte. Erst nach Ende des Pol-Pot-Regimes ging Frau Huon zurück an die Universität in Phnom Penh, wo sie vor ihrer Flucht aufs Land unterrichtet hatte. Und sie versuchte mit anderen Überlebenden zu rekonstruieren, was zerstört worden war. Ein auf ewig lückenhaftes Mosaik. 58 Jahre ist Pen Sok Huon inzwischen alt, eine diszipliniert wirkende, streng blickende Frau, der nur in unachtsamen Momenten ein Lächeln entwischt. Für 11 Euro im Monat unterrichtet sie täglich mehrere Klassen, meist auf einer wellblechüberdachten Bühne im Stadtzentrum. Der Unterricht hat noch nicht begonnen, und so lehnt Frau Huon am Bühnenrand und betrachtet die neue Generation Tänzerinnen, die wie eine Model- Gang kichernd beisammensteht; gefälschte "Prada"-Sonnenbrillen im Haar, "Hello Kitty"-Taschen in den Armbeugen. Für junge Kambodschanerinnen hat sich "Apsara-Tänzerin" vom Traum zum Traumberuf gewandelt, seit nur noch das Wohlwollen einer Schuljury nötig ist, und nicht mehr jenes von Königen und Göttern. Rund 400 Bewerbungen erhält die Universität jährlich, an Zusagen verschickt sie höchstens 40.
Nur Minuten brauchen die Schülerinnen für den Wechsel von der Moderne zur Tradition, dann knien sie, wie vor jeder Tanzstunde, in Wickelrock und besticktem Trikot vor Lehrerin Huon, die Kerzen und Duftstäbchen als Zeichen der Wertschätzung ausdruckslos entgegennimmt. Musiker begleiten den Unterricht. Ein Trio sollte es heute sein, aber der Trommler steckt im Stau; so tänzeln die Mädchen lediglich zu leierndem Singsang und dem xylophonartigen Klang der beiden Bambus-Instrumente. Eingeschnürt in ein Korsett aus mehr als 1500 Haltungen und Gesten, das keine Luft für Improvisation, allenfalls für eigenen Ausdruck lässt.


Bis zu einer halben Stunde dauern die Tänze, die vom Krieg und der Liebe handeln, von Vergänglichkeit und der Erschaffung der Natur. Die Schritte achtsam, die Körper aufrecht, die Arme in fließenden, wellenähnlichen Bewegungen. Immer wieder gleiten die Mädchen auf die Knie, biegen die Wirbelsäule wie einen Bogen, winkeln ein Bein nach hinten an - als würden sie nymphengleich fliegen. Unglaublich grazil, unglaublich langsam. Allein den Lebenszyklus einer Pflanze darzustellen, erfordert ein halbes Dutzend Hand- und Fingerstellungen. Der Zeigefinger richtet sich auf, die Sprosse keimt, vier Finger gespreizt, die Blüte entwickelt sich. Ist die Frucht am Licht, symbolisiert durch den Kreis aus Zeigefinger und Daumen, ist es, als sei die Pflanze in Echtzeit gewachsen. So üben die Mädchen, bis Frau Huon ein Kommando bellt und auf die Bühne eilt, als könne sie nicht glauben, was sie gerade gesehen hat. Dann fasst sie die verlegene Fronttänzerin von hinten an den Schultern und leitet sie so formvollendet, aber bestimmt über den Holzboden, als führen beide auf Schienen. Pause.
In Angkor Wat hat die hoch stehende Sonne alle Schatten vertrieben. Einen Tag lang, erzählt Hans Leisen, sei er für Messungen "stündlich um den Tempel gelaufen". Längst bewegt sich der Deutsche im Labyrinth der Gänge so sicher, als wären es die Flure seines Instituts. Alle Apsaras sind im Computer erfasst, jede steinerne Tänzerin ist mit einer Art Patientenkarte versehen: Beschädigungen, bisherige Eingriffe, verwendete Materialien, Gesamtzustand. Notfälle gibt es kaum noch, doch nach wie vor genügend Kranke. In einem Innenhof klopft Leisen mit dem Knöchel des Zeigefingers auf eine Apsara, erst auf den mit einer Krone verzierten Kopf, dann auf den Bauch. "Ah, auch hier geht’s los", sagt er, was klingt wie laut gedacht. "Schalenbildung" lautet Leisens Diagnose, die größte Gefahr für die Kunstwerke.
Botox für die Apsaras
Wird sie nicht rechtzeitig erkannt, verwittert der Steinkörper von innen: Das Relief bricht trotz intakter Fassade in sich zusammen. "Irgendwann sieht eine solche Tänzerin dann aus wie Blätterteig." Um das zu verhindern, rücken die Mitarbeiter des von Leisen gegründeten "German Apsara Conservation Projects" jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang wie eine Maurerkolonne im Transporter an. Stundenlang sitzen die kambodschanischen Restauratoren und zwei deutsche Studentinnen dann in schattig-schwülen Gängen oder unter Plastikplanen, die vor der Sonne schützen sollen, messen mit Ultraschall Hohlräume im Stein und injizieren mit dünnen Nadeln Steinersatzmörtel in Risse. Botox für die Apsaras, damit ihnen das Lächeln nicht vergeht. "Eine Spritze", sagt Leisen, "und Todkranke können noch Jahrzehnte leben." Für sein Konservierungswerk benötigt der Professor rund 1000 Liter Kieselsäureester jährlich. Bröckelt ein Relief trotzdem, kann Leisen nichts mehr tun. "Wir rekonstruieren keine Figuren", sagt er, "dann wären es Fälschungen."
Der Unterricht in Phnom Penh ist beendet, und die Schülerinnen setzen sich im Schneidersitz auf den Boden. Sang Phorsda, die Fronttänzerin, ist eine zierliche Frau mit Puppengesicht und knopfartigen Augen, bei der selbst der Schluck aus der Wasserflasche zur kunstvollen Geste wird. Eine Apsara- Tänzerin hat sie schon ihr ganzes Leben lang werden wollen und ihr halbes bereits dafür trainiert. Ein knappes Jahrzehnt täglich tanzen. Stundenlang. Schritte lernen, den Körper in fast bizarre Haltungen dehnen. So oft und so selbstverständlich, dass es, wie Sang Phorsda sagt, beim Fernsehen auf dem Sofa nicht mehr auffällt, wenn die nach hinten gebogenen Finger den Unterarm berühren. Das ist die Kür. Die Pflicht findet in der anderen Tageshälfte statt, im Englisch-, Khmerund Mathematikunterricht: Bildung als Altersvorsorge. Ein Stück Sicherheit für eine Arbeit als Tänzerin, die weder krisenfest noch zukunftssicher ist. Vergangen die Zeiten, in denen die Apsaras als Konkubinen ein unbeschwertes Leben am Hof führen konnten. Statt in Palästen wohnen die Tänzerinnen der Neuzeit meist noch bei ihren Eltern. Etwa in einem kleinen Reihenhaus in einem Vorort Phnom Penhs, wie Sang Phorsda, wo im Erdgeschoss das Auto neben dem Buddha-Schrein parkt.

Auf dem Sofa daneben hockt die Mutter, eine stämmige Marktverkäuferin mit geschminktem Gesicht. Nein, sagt sie, sie habe ihre Tochter noch nie bei einer Tanzaufführung erlebt; ihr nur einmal im Fernsehen zuschauen können. Und in ihrem Zimmer. Dieses liegt im ersten Stock des Hauses: ein Raum im Neonlicht, den sich die 18-jährige Phorsda mit ihrer Schwester teilt. Und mit Katze "Lucky", die sie vom gefliesten Boden hebt und behutsam auf das Bett setzt. Daneben ein Regal mit drei Kostümen und ein Schrankspiegel zur Selbstkontrolle, wenn Phorsda der Unterricht wieder einmal nicht lang genug gedauert hat. Das ist in letzter Zeit häufig geschehen, wo doch in wenigen Wochen die Abschlussprüfung bevorsteht und das über Jahre Erlernte in einer 30-minütigen Vorstellung offenbart werden muss; einem entscheidenden Moment.
Ahnenforschung für Tanzschülerinnen
Und dann? "Dann?", fragt Sang Phorsda zurück. Mehr studieren, natürlich. Mehr über die Theorie des Tanzes, dessen Geschichte lernen. Was könnte sie auch sonst tun? Es sind nicht die Apsaras, die Kambodscha am nötigsten sucht. Selbst das Königliche Ballett hat sich zum Gelegenheitsensemble entwickelt. Verlangen Monarch Norodom Sihamoni oder seine Familie nach Unterhaltung, wird ein Dutzend Schüler ausgewählt und legt die kostbaren Kostüme an, die in einem muffigen Raum des Fachbereichs lagern. Aber das geschieht selten, und so dösen in der palasteigenen Tanzhalle immer öfter Sicherheitsbeamte in ihren Liegestühlen und betrachten von dort aus gelassen, wie der Tonle Sap in den Mekong fließt. Aber wenigstens die optische Anziehungskraft der Apsaras auf Monarchen scheint ungebrochen: Vor kurzem gestand der verheiratete Prinz Ranariddh seine Beziehung mit Ouk Phalla ein, einer ehemaligen Tänzerin des Königlichen Balletts. Und einen daraus hervorgegangenen Sohn.
Hin und wieder fahren die Tanzschülerinnen während ihrer Ausbildung auch in das einstige Reich der Regenten, nach Angkor Wat. Ahnenforschung, damit die jungen Tänzerinnen die Ursprünge ihrer Kunst kennenlernen. Dann führen die Lehrerinnen die Gruppe durch das Eingangstor, wo sich als Tempeltänzerinnen verkleidete Frauen mit Besuchern in "Angkor what?"-T-Shirts fotografieren lassen. Den langen, von Palmen gesäumten Weg gehen sie hinunter, vorbei an den Baugerüsten, die wie Vogelnester an immer neuen Plätzen des Tempels zu hängen scheinen. Für was die Arbeiter auf den Gerüsten Spritzen und feine Nadeln brauchen, das haben sich die Mädchen noch nie gefragt. Weil sie immer direkt zu den nicht abgesperrten Apsaras gehen und jene Frauen betrachten, die so souverän lächeln, als könne ihnen nichts und niemand etwas anhaben.