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Hinterm Leuchtturm in Dagebüll holt Fiede Nissen die Post für die Hallig. Hier auf dem Festland, wo alles organisiert ist, was draußen im Wattenmeer nicht mehr wichtig erscheint, reißt Anne die Tür ihres Volvos auf und reicht Fiede die gelbe Plastikkiste für die Postleitzahl 25869 hinaus. "Naa", sagt Fiede, die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. "Joo", sagt Anne. Es ist kalt, die Zeit ist knapp, in einer Stunde kommt die Flut. Bis dahin muss Fiede auf der Hallig sein. "Tschüss", sagt er. "Joo", antwortet Anne.
Die Nabelschnur zum Festland
Nissen lässt den Viertaktmotor seiner Lore an. Mit wasserblauen Augen blickt er auf das Gleis. Nach jeder Flut können dort Taue, Holzplanken oder Fischernetze liegen. Sie könnten Nissens Gefährt aus den Schienen werfen. Was aber in den 31 Jahren, die er jetzt schon die Post nach Oland bringt, nie geschehen ist. Der fünf Kilometer lange Lorendamm wurde 1924 erbaut. Er ist die Nabelschnur zum Festland. Wenn es mit dem Boot bei Niedrigwasser, bei Nebel oder ab Windstärke sechs nicht mehr geht, fährt immer noch die Lore. Fährt die Lore nicht, geht gar nichts mehr. "Das Leben auf der Hallig ist ein bisschen umständlich, aber man bekommt auch was dafür", sagt Nissen und weist auf die Wildenten, die am Himmel aufsteigen, die Lichtreflexe auf dem Wasser.
23 Charakterköpfe auf einem Quadratkilometer
Dort, wo sich die Schienen im Meer zu verlieren scheinen, ganz hinten am marmorierten Horizont, baut sich aus dem Frühnebel nun der Schattenriss von Oland auf. Zwei Kilometer lang, 500 Meter breit, 15 Häuser auf einem meterhohen, künstlich angelegten Hügel, der Warft, die so eng beieinander stehen, dass kein Geheimnis lange hält. 23 Menschen, die sich ausnahmslos duzen, wohnen auf der ältesten bekannten Hallig, erstmals erwähnt vor genau 777 Jahren. Nur sechs der Oländer sind berufstätig, vier davon beim Küstenschutz. Vom Wetter gegerbte Gesichter und Seelen. Charakterköpfe. Weil die Fluten zwar die Steine rund spülen, den Menschen aber, wie es scheint, zusätzliche Kanten verleihen. Individualisten sind sie, skeptisch gegenüber Fremden, insbesondere Festländern, die ihre Hallig versehentlich als "Insel" bezeichnen. "Eine Hallig wird überflutet, eine Insel nicht", erklärt Nissen kurz. Wortkarg sind die meisten, aber ein gutes Gedächtnis haben sie. "So ein Halligmann ist nicht nachtragend, aber er vergisst nicht." Ein Menschenschlag, den man für reserviert halten könnte. Bis man es besser weiß. Aber eine Hallig ist kein Ort, an dem man die Dinge überhastet.
Das elektronische Barometer zeigt noch nach oben, doch das normale metallene, auf das er im Zweifel lieber vertraut, lässt anderes ahnen. "Es fällt", sagt Bürgermeister Boy Peter Andresen. Ein Orkantief steht der Hallig bevor. Im Juni hatten sie auf Oland das letzte Mal "Land unter", den ganzen Herbst über war’s ruhig, aber morgen, der Bürgermeister zieht die Augenbrauen hoch, ja, "da könnte es was geben". Dass einer hier einen beschleunigten Puls bekommt, nur weil die Hallig überspült wird, nein, das passiert eigentlich nicht mehr. Jedenfalls seit die Warft 1985 noch einmal erhöht worden ist.
Leben nach den Gesetzen der Natur
Natürlich hören sie um elf Uhr das Radioprogramm von NDR 1, wenn die Hochwasserstände durchgegeben werden. Und manche schauen auch ins Internet, aber es ist dem Bürgermeister unverständlich, wenn er von Leuten hört, die den ganzen Tag vor dem Computer sitzen. "Weiß nicht, was das bringt", sagt Andresen. Er jedenfalls hat ein Telefon und ein Faxgerät, auf andere Spielereien kann er verzichten. Ruft man ihn an und bittet um einen Termin, teilt er mit, dass er nichts von Terminen halte und dass man sich kurzfristig melden solle. Dann werde man sehen.
Der Bürgermeister von Oland hat dichte Augenbrauen und graue Haare, die unter einer Schiebermütze hervorlugen. Er sagt: "Wenn eine Population zu klein wird, stirbt sie aus." Das sei das Problem von Oland. Die alten Halligleute gebe es kaum noch, und die Neuen seien von weit her. "Die verstehen uns nicht so." Lachen nicht über dieselben Dinge. "Die gucken einen an und wissen nicht, wie’s gemeint ist." Kaufen Häuser und kommen nur am Wochenende. Wollen alles verändern, obwohl das meiste doch sowieso nicht zu ändern ist. Gewisse Dinge muss man akzeptieren, sagt der Bürgermeister. Zum Beispiel, dass man nicht wegkann, wann man möchte. Sondern nur dann, wenn die Natur es erlaubt. "Eine große Zufriedenheit mit dem Leben muss man schon haben", sagt der Bürgermeister. "Wer hier jeden Tag denkt, er versäumt etwas, ist am falschen Ort."
Die Statussymbole fehlen - Äußerlichkeiten spielen keine Rolle
Sie haben das "Biikebrennen", das große Winterfeuer Ende Februar, bei dem die Geister der kalten Jahreszeit vertrieben werden sollen. Das Grünkohlessen danach. Und zweimal im Jahr, wenn Fiede Nissen mit seiner Laienspielgruppe auf Tournee ist, einen Theaterabend mit plattdeutschen Einaktern. Dazu eine kleine Bücherei, die einmal in der Woche für eine Stunde geöffnet hat. Einige Ferienwohnungen für Touristen. Und wenn im einzig reetgedeckten Leuchtturm Europas eine Lampe defekt ist, klingelt bei Jürgen Nommensen im Wohnzimmer automatisch eine Glocke. Was ein Leuchtturmhilfswärter so machen muss? "Ja, da ist nicht viel zu erklären", sagt Nommensen, der nicht gern viel erklärt.
Die "Flensburger"-Reklame in der Gastwirtschaft "Kiek in" liegt im Dunkeln, weil die Wirtin auf unbestimmte Zeit im Krankenhaus bleiben muss. Kein Geschäft, kein Verein, nichts also hält davon ab, auf kürzestem Weg nach Hause zu gehen. Ein Leben ohne Zerstreuung auf der Straße, aber auch ohne die Zwänge, denen sich Festlandbewohner ausgesetzt sehen können. Statussymbole fehlen, Äußerlichkeiten spielen keine Rolle. Man hat sich einen toleranten Blick auf die Nachbarn angewöhnt, mit einigen ist man mehr oder weniger weitläufig verwandt, mit den anderen darf man es sich auch nicht verderben. Die Türen stehen offen. In fünf Minuten hat man jeden erreicht. "Hier wohnt niemand weiter als 100 Meter vom Friedhof entfernt", heißt es in der Eigenwerbung von Oland.
Bei "Land unter" brauchste keine Blumen mehr gießen
Über der Eingangstür von Hilde Paulsens Haus prangt der stolze Friesenspruch aus der Zeit der dänischen Besatzung: "Lewwer duad üs Slaav" - "Lieber tot als Sklave". Die ganze Wohnung ist voller Federn, weil sie die Wildenten gerupft hat, die ihr Leuchtturmwärter Nommensen in der Frühe gebracht hat. In der oberen Etage des Hauses hängen Spinnweben an der Lampe. "Die Sommerwohnung", erklärt Frau Paulsen. Im Winter hält sie sich nur unten auf, in jenem Zimmer, das als einziges im Haus nie verändert worden ist, weil ihr Mann, der Bootsbaumeister, es so liebte.
"Oland", sagt Frau Paulsen, "war mein Leben." Sie sitzt, 84 Jahre alt, gewärmt von einem dicken Wollpullover auf dem Polstersofa in der Stube. Die hat holzgetäfelte Wände, einen begehbaren Schornstein, in dem früher Schinken geräuchert wurde, und eine Uhr in Form eines Steuerrades erinnert Frau Paulsen an die Zeit, als sie Seglerin war. Ein gusseiserner dänischer Ofen, eine winzige Veränderung nur, hat den alten Kachelofen ersetzt, der nach der Sturmflut 1976 nicht mehr heizen wollte. Über einen Meter hoch hat das Wasser damals im Wohnzimmer gestanden. "Brauchteste keine Blumen mehr gießen", sagt Frau Paulsen. Und: "Sogar die Holzwürmer haben’s überlebt."
Aus dem Fenster hinaus blickt Hilde Paulsen auf den Fething, den kleinen Süsswasserteich, aus dem früher das Vieh getränkt wurde. Der Letzte, der noch Milchkühe hatte, war Frank Kühn, zwei Häuser weiter rechts, und auch der hat seine Tiere vor einigen Jahren abgegeben, weil sie sich nicht mehr rechneten. Die alte Dame greift nun zum Fernglas. Seit dem Morgen steigt das Wasser, erst unmerklich, dann schwappt es über die Steinkante des Sommerdeichs, flutet den Fußballplatz, die Gleise und das nutzlos gewordene Weideland.
Frau Paulsen hat nicht gut geschlafen. In der Nacht war der Sturm so laut, als wolle er die Häuser mit seinem Getöse wegfegen. Windstärke zwölf, Orkanböen. Aber natürlich haben die Häuser gehalten, reetgedeckt, aus roten Klinkern erbaut. Alle neueren Gebäude haben einen speziellen Schutzraum im Obergeschoss, der mit sechs Meter langen Stahlbetonpfeilern in die Warft hineinreicht und auch dann noch sicher sein soll, wenn alles andere doch einmal zusammenbrechen würde.
Gegen Mittag sind die Wiesen vollständig verschwunden, es ist, als ducke sich das Land unter dem steigenden Meer gänzlich weg. Von der Hallig sind jetzt nur noch die Häuser zu sehen, die wie Archen aus dem Wasser ragen. Die Sturmflut kriecht die Warften hinauf, steht bis zum ersten Metalltor, dichter Regen peitscht vom Himmel.
"Land unter" - das sind die Worte, die in Festlandbewohnern Mitleid erzeugen, wenn sie an die Menschen auf den Halligen denken. Doch für die ist es manchmal wie ein geschenkter Tag. Alles ist dann irgendwie in der Schwebe. Die Festlandverbindung ist für Stunden unterbrochen, die Post fällt aus, Termine werden irrelevant. Und die Ringelgänse steigen von den Wiesen auf die Warften.
Schule auf Oland: Drei Kinder und eine Lehrerin
Auch vor dem Schulfenster krümmen sich die Hagebuttensträucher im strammen Nordwind. Immer noch hat der Sturm nicht nachgelassen, aber "Land unter" ist kein Grund für die neue Lehrerin, den Unterricht ausfallen zu lassen. Angelika Arft kam im August 2007 nach Oland, hierher versetzt, weil es auf der Nachbarhallig Hooge nicht mehr genügend Schüler für eine zweite Lehrkraft gab. Sie stieg fast ohne Gepäck von der Lore, und am Ufer stand zu ihrer Überraschung ein kleines Begrüßungskomitee, das sie feierlich ins Lehrerhaus begleitete. Ein Haus, das sie immer noch als zu groß für sich allein empfindet. Ihren Hauptwohnsitz in Flensburg hat sie nicht aufgegeben. Manchmal läuft sie zu Fuß hinüber zum Festland, drei Stunden lang. Und sagt, dass sie dieses Leben in der Natur, der Gang übers Watt glücklich mache.
Schulalltag. Auf dem Fensterbrett des Klassenzimmers steht ein Globus, auf dem ein winziger roter Punkt die ungefähre Lage von Oland markiert. Ida liest in einem Schulbuch, das "Zauberlehrling" heißt, Ose brütet über ihrer Mathematikarbeit, und Jördis schreibt eine "R-Geschichte": "Eine Reiterin ritt durch ein Reisfeld. Da rutschte sie vom Pferd..." Drei Klassen in einem Raum, Grund- und Hauptschule in einem Zimmer. Eine Lehrerin, die zugleich Direktorin ist. Drei Kinder einer einzigen Familie. Wären die Kühns nicht da, müsste die Schule von Oland schließen.
Nach rotem Tee und kleiner Pause spielt Ose auf der Gitarre den C-Dur-Akkord. Jördis und Ida versuchen sich auf Bratsche und Violine. Sie können bislang weder das eine noch das andere, was aber nichts macht. Lehrerin Arft, der ein großes Orchester aller Halligen-Schüler vorschwebt, empfiehlt, zunächst nur einen einzigen Ton zu spielen. "Möglichst nicht sägen!" Bei einem guten Streicher höre man den Bogen gar nicht. "Als wenn man den Ton irgendwo herauszieht." Und ein wenig später: "Seid ihr jetzt müde?" "Ja", sagt Ose, "jetzt dürfen Sie uns etwas vorspielen!" Aber in diesem Moment knallt die Sicherung im Schulhaus durch.
Langsam gibt das Meer das Hallig wieder frei
Um 13.47 Uhr hält das Wasser inne. Und zieht sich dann langsam, ganz langsam zurück. Wie in einem rückwärtslaufenden Film tauchen nun die Zäune wieder auf, die Tore, der Fußballplatz, die Lorengleise, bedeckt mit angeschwemmten Schiffstauen. Am Abend setzt die Ebbe ein. Noch stürmt es, aber die ersten Wagemutigen sind bereits wieder mit ihren Loren auf den Gleisen. Und Gemeindeschwester Jutta Hinrichsen - eigentlich längst pensioniert, aber in Ermangelung einer geeigneten Nachfolgerin nun doch wieder im Dienst - bewegt sich schnellen Schrittes zum Haus gegenüber der Kirche, in dem Andreas Petersen, 69, dem Sturm vor dem Fernsehgerät trotzt.
Petersen ist, wenn man so will, die Seele von Oland, strahlt stets jene Laune aus, die jeder gern hätte, und ist bei allen beliebt, weil er hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe ist. Und weil er nichts krummnehmen kann; die psychologische Ausstattung für Neid und Missgunst scheint in seinem Kopf einfach zu fehlen. Nur manchmal bringt Petersen halt einiges durcheinander. Auch seine Medikamente, was nicht im Sinne von Schwester Hinrichsen ist und sie anstrengt, obwohl sie Erfahrung mit so gut wie allem hat, von der Geburtshilfe bis zum Ausstellen von Totenscheinen.
Auf der anderen Seite ist Andreas Petersen der Einzige auf Oland, der noch Friesisch, die Sprache der Vorfahren, spricht. Bis zum Tode seiner Mutter vor einigen Jahren hat er mit ihr zusammengewohnt, seither wird er von den anderen mehr oder weniger reihum zum Essen eingeladen. Wie kaum ein anderer gehört er dazu.
"Auf dich mit Gebrüll", sagt Schwester Hinrichsen, als sie Petersen die Blutdruck-Manschette überstreift. "Jaa", sagt der Patient, unter seinem Schnurrbart strahlend, weil er sich freut über die Kurzweil, die mit dem Besuch der Schwester verbunden ist. Sie nimmt einen Tropfen Blut am Ohrläppchen, um die Zuckerwerte zu prüfen. "Was zu trinken?", fragt Petersen. "Ja, aber ein gutes Glas", antwortet die Schwester, um sicher zu gehen, dass es sauber ist. Sie weiß, dass Petersen gleich "Lass dir Zeit, Jutta!" sagend, ihr vielleicht auch von einem neuen Leiden erzählen wird. Einfach weil er ihre Gesellschaft mag.
Oländer Kirche - abhängig von den Gezeiten
Sonntagmorgen, zehn Uhr, Oländer Kirche. Ein Heizstrahler über der Tür, sieben zweiarmige Messingleuchter an den von langen Rissen durchzogenen Wänden. Von der rosa-hellblau bemalten Holzdecke baumelt das Modell eines Schiffes aus der Oländer Walfangzeit im 18. Jahrhundert, mit geblähten Segeln und allerhand Kanonenrohren. Darunter steht Matthias Krämer, Hallig-Pfarrer seit 14 Jahren, und liest im Psalm 63: "Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir, aus trockenem, dürren Land, wo kein Wasser ist."
Natürlich kann Pfarrer Krämer das nur im übertragenen Sinne gemeint haben. Denn am Vortag, bei Sturmflut, hätte er nicht einmal von der Nachbarhallig Langeneß herfinden können, wo er wohnt. Auch im Normalfall ist der Gottesdienst, wie fast alles auf der Hallig, gezeitenabhängig. Wenn "Land unter" droht, kann es vorkommen, dass die Gemeinde in Zeitnot nur die erste Strophe eines Kirchenliedes singt oder der Pfarrer seine Predigt ein bisschen schneller spricht. Wenigstens einmal haben die Oländer ihren Gottesdienst auch schon ganz ohne ihn gefeiert. Einer, der die Bibel einigermaßen kannte, hat sich nach vorn gestellt.
Später wird der Pfarrer von der "bescheidenen und tief verwurzelten Frömmigkeit" der Oländer reden. Von 23 Halligbewohnern sind 16 zum Gottesdienst erschienen, das ist keine schlechte Quote. Er hat die Versammelten mit der doch eher weltlichen Anregung überrascht, aus Kostengründen den Stromanbieter zu wechseln: "Ich habe meine Kündigung schon geschrieben!"
Dann greift Pfarrer Krämer in die Orgeltasten, nicht ganz so notensicher wie seine Vorgängerin Käthe Petersen, die immerhin 74 Jahre auf diesem Stuhl saß, aber doch so, dass er die Lieder zu einem versöhnlichen Ende führt. Und so singen sie wie immer alles in Dur, weil die Oländer, als der Pfarrer in seinem ersten Winter mal nach Moll wechselte, aufgestanden waren und protestiert hatten: "Hör auf, wir brauchen was Fröhliches!" Die Winter auf der Hallig sind hart genug.
Damals als man in einer Stunde 40 Pfund Schollen fangen konnte ...
Am Abend feiert Grete Lohmeyer, die Halligälteste, ihren 91. Geburtstag. Schon am Morgen hat Andreas Petersen ihr zu Ehren die Friesenflagge gehisst. Auf dem Tisch stehen Sanddornschnaps, Kuchen und Wurstschnittchen, Frau Arft, die Lehrerin, spielt auf der Geige ein paar Stücke. Grete Lohmeyer sitzt mit würdig-schönem Altersgesicht und schlohweißen Haaren an der Tafel und lächelt stumm in sich hinein. Es ist nicht sicher, dass sie noch ganz genau weiß, wer die Menschen an diesem Tisch sind, aber von früher hat sie alles parat.
Früher, als sie noch Butter geschlagen und Brot gebacken haben, das Süßwasser aus der Regenrinne nahmen, keinen Strom hatten, mit Kuhfladenbriketts heizten und die Loren mit einem Segel fuhren. Als sie mit einer einfachen Angelschnur innerhalb einer Stunde 40 Pfund Schollen fangen konnten, die es hier nicht mehr gibt. Als noch getrunken wurde, bis man "dun" war, beduselt, und die Frauen am großen Tisch Krabben pulten. Als sie Stunden durchs Wattenmeer gehen konnten, weil die Beine sie ewig trugen, und die Zukunft so erwartungsvoll vor ihnen lag und größer schien als das, was schon war.
Dann kommt das Gespräch auf Petersen. "Erwin fehlt". "Ja, das kannste wohl sagen." Erwin Petersen ist im Sommer fortgezogen. Das kleine Haus neben der Schule steht nun leer. Petersen ist gegangen, weil er glaubte, seinem Kind ein anderes Leben bieten zu müssen. Ausgerechnet Petersen. Einer, dessen Verlust kaum zu verkraften ist. Der 60 Mutterschafe hatte. Erster Vorsitzender des Deich- und Sielverbandes, Wehrführer bei der Freiwilligen Feuerwehr. Alfred Sönnichsen hat diese Aufgaben übergangsweise und eher widerwillig übernommen, ein anderer hat sich nicht finden lassen. Zwar ist ja eigentlich auch nichts zu tun, es hat seit mindestens 30 Jahren nicht mehr gebrannt. Sollte es aber doch geschehen, müssten sie schnell sein. Die Häuser stehen dicht an dicht. "Erwin, der fehlt!"
In die Abendstimmung hinein ein Anruf vom Nachbarn: Die Loren sollen hoch! 1,50 Meter Wasserstand über normal. "Davon wird doch die Hallig nicht voll!", antwortet Hilde Paulsen, die die Aufregung nicht versteht. Lächerlich, Windstärke sieben soll es werden, ein Stürmchen allenfalls. Früher haben sie hier immer gespielt: "Wer zuerst die Lore hinaufholt, ist der Hasenfuß." Noch einen Sanddornschnaps und dann mit Taschenlampen hinaus in die sternenlose Nacht. Alle packen mit an. Hebeln die 13 Loren der Hallig aus den Gleisen, stellen sie auf die betonierte Auffahrt, wuchten sie hoch und sichern sie mit Balken hinter den Rädern, damit sie am Ende nicht doch wegschwimmen. Zurren alles fest, was wegfliegen könnte. Die Geburtstagsfeier ist zu Ende.