Neufundland
An einem klaren Tag würde er von hier aus bis nach Irland sehen können, hatten seine Eltern immer zu ihm gesagt, wenn die Familie beim Cape-Spear-Leuchtturm auf der Avalon Peninsula stand. "Und ich hab mir eingebildet, das funktioniert tatsächlich", sagt Ian Power (links), "schließlich ist das der östlichste Punkt Nordamerikas."
Vor knapp zwei Jahrhunderten sind seine Vorfahren von jener europäischen Insel gekommen, verarmte Bauern, die in Neufundland als Fischer neu beginnen wollten. Und nun, vor zwei Jahren, kam John Garzon. Er reiste als Flüchtling aus Kolumbien ein, und er ließ ein Leben zurück, über das er nichts erzählen möchte. Außer, dass er Polizist gewesen sei und schon lange von Kanada geträumt habe. Jetzt lernt er Englisch und trifft sich regelmäßig mit seinem kanadischen Begleiter. Meistens erledigen sie praktische Din- ge, kaufen Möbel für Garzons neue Wohnung, gehen in den Supermarkt und manchmal auch ins Kino. "Was man eben so macht", sagt Power. Garzon beschreibt es so: "Er ist ein Freund geworden."
British Columbia
"Um wirklich Kanadier zu werden, muss man die Natur lieben lernen", sagt Sandra Schemmer (rechts). Deshalb hat sie die Chinesin Zeng Ping mitgenommen: zu ihrer Hütte ohne Strom und Telefon, zum Kajak auf dem stillen See im Wald, nur anderthalb Stunden von Vancouver entfernt. Schemmer war Lehrerin und Fremdenführerin von Beruf. Als Rentnerin geht sie nun mit Zeng wandern. Es sind Touren, auf denen sie Englisch üben – und das Kanadisch-Sein. Oft kochen die Frauen gemeinsam. Vor Kurzem hat Zeng der Kanadierin beigebracht, wie man Sushi rollt. In China war sie Ingenieurin, jetzt ist sie Hausfrau mit zwei Söhnen. Zeng sagt, ihre Familie sei bewusst nach Vancouver gezogen, in die größte chinesische Einwanderergemeinde des Landes, weil ihr Mann hin und wieder beruflich in die alte Heimat muss. Von Kanadas Westen aus ist der Flug recht kurz.
Saskatchewan
Seit mehr als zwei Jahrzehnten betreut Karen Cappeller (links) Einwanderer. Sie seien ihre "Familie" geworden, sagt die Krankenschwester. Wenn es sein muss, begleitet sie die Flüchtlingsfrauen gar in den Kreißsaal, ist dabei, wenn diese einen ersten "kleinen Kanadier qua Geburt" zur Welt bringen. Sedigheh Rezai (mit Kopftuch) hat Sohn Amir, 14, und Tochter Hadis, 13, noch ohne Cappeller im Iran geboren. Aus Afghanistan waren Rezai und ihr Mann 1991 dorthin geflohen. "Karen ist meine kanadische Schwester", sagt Rezai heute. In Saskatchewan, einem Präriestaat mit endlosen Getreidefeldern, gehen Sohn und Tochter nun auf die Highschool. Die Mutter arbeitet im Schnellrestaurant und übt mit Cappeller das Autofahren. Bald werden Rezais Mann und der ältere Sohn nachkommen. Cappeller freut sich schon: auf zwei neue Mitglieder ihrer Großfamilie.
Prince Edward Island ist die kleinste Provinz Kanadas – und bietet dennoch genügend Platz für Menschen wie Madeleine und Simon España (sitzend). Als die Kolumbianer nach Charlottetown zogen, fanden sie die Ruhe, nach der sie sich jahrelang gesehnt hatten. Aus ihrer Heimat kannten sie Gewalt und Chaos. Am Cavendish Beach, einem der bekanntesten Strände der Insel, genießen sie das Gegenteil. Auch Sue und Al Rollins, ihre kanadischen Paten, sind hierher geflüchtet: Beide, Finanzbeamte aus Ottawa, waren der lauten Hauptstadt überdrüssig geworden. "Die Treffen mit den Rollins sind sehr wichtig für uns", sagt Madeleine España in brüchigem Englisch. Trotz der Verständigungsprobleme sind die Familien zusammengewachsen. Die Españas haben eine erwachsene Tochter und einen 15-jährigen Sohn, die Rollins schon drei Enkel. Sie treffen sich in verschiedenen Konstellationen, zum Fußballspielen, Essen- und Spazierengehen. Und auch bei Geburtstagen, Hochzeiten oder zu Weihnachten kommen sie zusammen. Feiern lässt es sich ohne viele Worte.
Manitoba
Ihre ältere Schwester ist in Deutschland geblieben, doch Nancy Knull (rechts) ging mit, als sich ihre Eltern ohne Rückflugticket nach Kanada aufmachten. Dass man dem Glück hinterherreisen kann, hatten sie der Tochter schon früh vorgelebt: Die Knulls, gelernte Lagerarbeiter aus Thüringen, zogen zwölf Jahre nach der Wende auf die Sonneninsel Mallorca. Doch das wahre Sehnsuchtsziel blieb Kanada. Im Sommer 2006 erfüllte sich ihr Traum: Sie tauschten Mallorca mit Manitoba und begannen, auf einer Schweinefarm in der Nähe von Winnipeg zu arbeiten. Nancy brach ihre Lehre zur Hotelfachfrau in Rostock ab. "In Deutschland lief nicht alles so, wie ich wollte", sagt sie und besucht in Kanada wieder die Schule. Stewardess möchte sie werden. Bis sie zum ersten Mal beruflich abheben kann, wird sie mit Jessyca Goulet (links) und Sahra Peters, ihren kanadischen Paten, abends in Winnipeg ausgehen. Und manchmal auch einfach nur herumfahren, durch den großen Präriestaat, dessen Wahrzeichen der Bison ist.
Alberta
Insgeheim hatte Yonni Kapel (rechts) immer auf Kanada gehofft, als er sich bei den Vereinten Nationen um eine Umsiedlung bewarb. Es sei ein Land mit einer stabilen Regierung, hatte er gehört; auch, dass die Menschen dort freundlich seien und denen helfen, die es nötig haben. Aufgewachsen ist Kapel in Uganda, aber die vergangenen 15 Jahre hat er in einem kenianischen Flüchtlingslager verbracht. Im Juni 2007 begann für ihn eine neue Zeitrechnung. Er flog nach Kanada. Mitarbeiter des Paten-Programms holten ihn vom Flughafen ab, vermittelten ihm eine Wohnung in Lethbridge, einen Englischkurs – und Marshal Wiebe. Wiebe hat gerade einen Abschluss in Sozialarbeit gemacht. In seiner Freizeit bastelt er mit Yonni Kapel an Computern. Am liebsten fahren die beiden jedoch mit dem Mountainbike in ein ausgetrocknetes Flusstal in der Nähe von Lethbridge. "Hier fühle ich mich wohl", sagt Kapel. "Es erinnert mich an Afrika."