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Umbrische Küche: Revolution in der Bastiglia

Große Veränderungen geschehen manchmal leise. Der umbrische Koch Marco Gubbiotti ist kein Mann vieler Worte. Ganz im Stillen hat er mit Leidenschaft und Perfektion das "La Bastiglia" in Spello in eine Top-Adresse für Feinschmecker verwandelt

Inhaltsverzeichnis

Guter Zeitpunkt für den Neubeginn

Alles begann mit einem furchtbaren Beben. Erdstöße der Stärke 5,7 auf der Richterskala erschütterten Olivenhaine, Weinberge, ganze Dörfer. Häuser stürzten ein, Türme brachen zusammen. In Assisi schwankte die Basilika des heiligen Franziskus. Am 26. September 1997 demonstrierte die Erde Umbriens, welch ungeheure Kraft sie hat. Und dass nichts für die Ewigkeit ist.

Ein guter Zeitpunkt für den Neubeginn

Für den besten Wirsing geht der Chefkoch Marco Gubbiotti (li.) in die Knie
Für den besten Wirsing geht der Chefkoch Marco Gubbiotti (li.) in die Knie
© Stefano Scatà

Es war in der Zeit kurz nach der Katastrophe, die meisten Restaurants hatten noch geschlossen, als die Fancellis dachten, dass in der "Bastiglia" etwas passieren müsste. Zwar hatte das Beben die alte Olivenölmühle in Spello nicht beschädigt, in der die Familie seit den siebziger Jahren ein Hotel mit Restaurant führt. Aber es war ein guter Zeitpunkt für einen Neubeginn. "Ich wollte", sagt Luca Fancelli, der älteste Sohn, "dass auch ein Stoß durch unser Restaurant geht." Auf der Speisekarte standen dort schon lange die Klassiker Umbriens wie Pasta mit Trüffeln, Ente und Lammbraten. Aber neuer, kreativer, mutiger wollte Fancelli werden. Nur eines sollte bleiben wie zuvor: Die Küche sollte umbrisch sein, der Geschmack der Heimat bewahrt werden.

Ein junger Koch mit Leidenschaft und großem Talent

Die Fancellis gewannen Marco Gubbiotti für sich, einen jungen Koch mit Leidenschaft und großem Talent, der in Foligno in der "Villa Roncalli" kochte. Einer, der etwas verändern wollte. "Am Anfang war es ein Wagnis", erinnert sich la mamma Daniela Fancelli, eine italienische Dame mit strengem Blick und rauer Stimme, die Zigarette in der Hand, den Schal elegant um den Hals drapiert. Wie würden die Gäste reagieren? Die umbrische Küche ist herzhaft, bäuerlich und ohne Allüren, und die Umbrier sind nicht unbedingt Menschen, die nach Veränderungen schreien.

Dass Marco Gubbiotti sich als sanfter Revolutionär entpuppen und der "Bastiglia" gar einen Michelin-Stern bescheren würde, ahnte damals noch niemand. "Heute hat Marco die carta bianca", sagt Daniela Fancelli. "Er hat hier freie Hand. Er ist unglaublich!" Die hellbraune Lederjacke über den doppelreihigen Kochkittel gezogen, streift Marco Gubbiotti durch einen Olivenhain an den Hängen des Monte Subasio, der sich kurz hinter Spello erhebt. Ein Mann von 37 Jahren, ein ruhiger Typ mit schwarzem Haar und schwarzem Bart und großen dunklen Augen. Aufmerksam blickt er zu Boden, bleibt stehen. Beugt sich nach vorn und pflückt und pflückt. In der Hand hält er schließlich einen kleinen Strauß mit blauen, weißen und gelben Blüten. Marco ist auf der Suche nach seinen liebsten Zutaten fündig geworden: wilde Kräuter. Ringelblumen, Rucola, Löwenzahn, Fenchel, Borretsch, serpillo (wilder Thymian).

Eine Delikatesse: pesci rosolati - Fisch und Meeresfrüchte auf schwarzen Passatelli und Quittengemüse
Eine Delikatesse: pesci rosolati - Fisch und Meeresfrüchte auf schwarzen Passatelli und Quittengemüse
© Stefano Scatà

"Probier das mal!" Er reicht mir wilden Rucola, der auf der Zunge brennt. Marco grinst. "Fortissima, eh?" Wilde Kräuter seien im Geschmack so intensiv, dass sie beim Kochen Salz und Pfeffer überflüssig machen, sagt er. "Die haben alles!" Seine Augen leuchten. Über seine Art zu kochen spricht Marco eigentlich ungern. Zurückhaltend ist er. Keiner, der sich inszeniert oder viele Worte macht. Er beobachtet lieber, hört zu, lässt probieren. Fragt man in Spello herum, was die Einwohner über Marco denken, hört man bravissimo oder "meisterhaft" und jedes Mal umile - bescheiden. Fragt man ihn, wie er anderen die Philosophie seiner Küche beschreibt, sagt er: "Gar nicht. Ich mache einfach etwas zu essen. Dann versteht man mich schon."

In der Küche herrscht Ordnung

Die "Bastiglia" liegt am nördlichen Rand von Spello. Von der Restaurant-Terrasse schaut man auf Italiens mystische Mitte: grüne Hügel, braune Felder, silbrig-schimmernde Olivenhaine. Im Inneren der Ölmühle von 1600 stehen alte Büsten nicht weit von weißen Ledersofas und antiken Kommoden, schrille Gemälde hängen dort genauso an der Wand wie eine Sammlung feiner Porzellanteller. Eine leicht skurrile Mischung, die etwas Herzliches hat. Als hätte man stets Neues hinzugewonnen, sich zugleich von nichts Altem getrennt. "So könnte ich zum Beispiel niemals arbeiten", sagt Marco und deutet auf ein Bild des italienischen Pop-Art-Künstlers Mario Schifano. Ein wildes Durcheinander auf Leinwand. Bei ihm in der Küche herrsche Ordnung, sagt Marco. "Dann arbeitet man besser und ist präziser. Dann stimmen die Abfolgen." Wie ist sie ihm nun gelungen, seine Revolution? "Piano, piano", sagt Marco. Und dass man Geduld haben müsse. "Lamm nur kurz anzubraten oder Taube al sangue, blutig, zu servieren, das war ein Tabu!" In der umbrischen Küche sei alles ben cotto, gut durchgegart. Ganz langsam, Schritt für Schritt, habe er die Dinge verändert, die Garzeiten verringert, leichter und feiner gekocht.

Die Köche stammen aus Italien, Japan, den USA und Brasilien und widmen sich den Traditionen Umbriens
Die Köche stammen aus Italien, Japan, den USA und Brasilien und widmen sich den Traditionen Umbriens
© Stefano Scatà

"Probier einfach", sagt er. Kellner Vincenzo Petriccioli bringt selbstgebackenes Brot und olio nuovo, das frisch geerntete, grüne Olivenöl, das bitter schmeckt und so intensiv, als würde man direkt in eine Olive beißen. Seit über zehn Jahren arbeitet Vincenzo in der "Bastiglia", er hat die Veränderungen hautnah miterlebt. "Früher haben wir auf dem Feuer dort gegrillt. Heute ist es nur noch fürs Ambiente!" Er deutet auf den Ofen, der sich in einer Ecke des Restaurantsaals befindet. "Damals haben wir unsere Gäste noch gefragt, ob sie Rotwein oder Weißwein trinken", erzählt er weiter. Heute bietet Sommelier Ivan Pizzoni auf Wunsch zu jedem Gericht ein darauf abgestimmtes Glas Wein an. Über 600 Weinsorten finden sich in seiner cantina, die Ivan dort eingerichtet hat, wo einst das Wasser für die Olivenölproduktion lagerte.

Die Salami ist so würzig, dass man beinahe erschrickt

"Bevor Marco kam, gab es hier Gerichte, die man überall bekam", sagt Vincenzo, und man merkt seinem Tonfall den Stolz an, dass heute alles anders ist. Obwohl Vincenzo alle drei Monate wie ein Schüler pauken muss, wenn der Chefkoch eine neue Karte schreibt. Für einen erstklassigen Service müsse er alle Zutaten kennen, falls jemand frage, was etwa Muscovado- Zucker sei. Und, die Antwort? "Ein Rohrzucker aus Mauritius, aromatisch und leicht geräuchert", antwortet er ganz selbstverständlich. Vincenzo bringt piccoli antipasti - kleine Häppchen: Foie gras mit Orange, ciauscolo, die weiche umbrische Salami, mit etwas Gurke und spuma di canocchie, Schaum aus dem Fleisch vom Heuschreckenkrebs. Zierliche Gebilde - mit wuchtigem Geschmack. Beinahe erschrickt man, so würzig ist die Salami, so intensiv die Foie gras, so weich der Schaum und dabei doch voller Kraft.

Feine umbrische Küche: die Pappardelle aus Dinkelmehl
Feine umbrische Küche: die Pappardelle aus Dinkelmehl
© Stefano Scatà

Es ist totenstill: In der Küche spricht niemand

Es ist Mittag, das Restaurant füllt sich langsam mit Gästen, jungen Pärchen, Familien mit Kindern, Damen mit Sonnenbrillen und hochtoupiertem Haar. Stimmengewirr füllt das Restaurant. Nur in der Küche spricht niemand. Olivenöl brutzelt in Pfannen, Messerklingen gleiten durch Fleisch, leise surrt die Spülmaschine - aber niemand redet, keiner gibt Kommandos, die Abläufe funktionieren reibungslos. Manchmal unterbricht Marco für einen Moment seine Arbeit. Schaut. Beobachtet sein Team. Drei weitere Köche, drei Praktikanten in einer winzigen Küche. Dann schneidet er weiter, dekoriert einen Teller. Wenn sie morgens und nachmittags vorbereiten, läuft das Radio oder der Fernseher, dann schauen sie auch mal Fußball oder Autorennen, diskutieren, machen Witze. "Aber wenn im Restaurant Gäste sitzen, können wir nicht abschweifen", sagt Marco. Dann herrscht volle Konzentration.

Ein Glöckchen unterbricht die Stille. Vincenzo kommt in die Küche, holt den coda di rospo ab – marinierten Seeteufel mit einem Auflauf aus Cannara-Zwiebeln, dekoriert mit einem weißen Schaum aus Seeteufelsud, einer Thymian-Blüte und einem Schnapsglas, gefüllt mit belgischem Bier. Filigran und fröhlich sieht das aus. Das würzige Bier serviert Marco als Kontrast zu den anderen, eher süßlichen Zutaten. Ich probiere die passatina di Roveja, eine fein pürierte Erbsensuppe, dekoriert mit Tintenfisch, Muscheln, Tomatenwürfeln und kleinen Pasta-Stückchen. Sanft kitzelt die Suppe am Gaumen, dabei ist ihr Geschmack so intensiv wie Omas Erbseneintopf – brillant veredelt, versteht sich. Marcos Küche ist das exakte Gegenteil seines Auftretens. So zurückhaltend er wirkt, wenn er spricht, so exaltiert, so voller aromatischer Eindringlichkeit sind seine Gerichte. "Manchmal übertreibe ich vielleicht sogar ein wenig", sagt er mit einem gewitzten Lächeln. "Aber ich mag es, wenn man sich an meine Gerichte erinnert, wenn ihr Geschmack im Gedächtnis haftenbleibt."

Die Kompositionen haben Geschichte

Bei Marco zu essen, ist ein wenig wie in einem alten Familienalbum zu blättern. Seine Kompositionen haben Geschichte, wecken Erinnerungen, ohne altmodisch zu wirken. "Ich versuche, den Originalgeschmack der Region zu treffen und in die heutigen Zeiten zu tragen", sagt Marco. Zwar sehen seine Teller modern aus, fein, voller Schaumhäubchen und Blüten, aber in Wirklichkeit erzählen sie von früher, von Umbrien, wie es einmal war. Dafür liebt man ihn, den Koch.

Raffinierte Süße: Karamellisierte Pistazien veredeln den Nachtisch
Raffinierte Süße: Karamellisierte Pistazien veredeln den Nachtisch
© Stefano Scatà

Die passatina di Roveja etwa, eine feine Suppe mit Sepia und Muscheln, ist eine Hommage an ein klassisches Gericht: Tintenfisch isst man in Umbrien am liebsten mit Erbsen und Tomatensauce. Die ravioli di oca arrosto - Ravioli gefüllt mit einer Creme aus Gänsefleisch - macht Marco zu Ehren der Festa della Trebbiatura, eines Festes, das einst am Ende der Erntezeit mit gebratener Gans gefeiert wurde. Auch die tortelli di pollo arrosto erinnern an jahrhundertealte Traditionen: Zwar schwimmen sie in einer schaumigen Sauce aus Pecorino-Käse, gefüllt aber sind sie mit gebratenem Huhn - einem typischen Gericht, das man in Umbrien sonntags mit Kartoffeln isst.

Die Liebe zu umbrischen Gerichten

Wie er überhaupt Koch wurde? Ein Zufall. Ein Freund überredete Marco, mit ihm gemeinsam auf die Kochschule zu gehen, da war er 14 Jahre alt. Der Freund brach irgendwann die Ausbildung ab. Marco machte weiter. Nach dem Abschluss, mit 19 Jahren, sammelte er erste Erfahrungen in normalen, durchschnittlichen Hotels. Das habe bei ihm den Wunsch nach mehr geweckt. Er wollte besser werden, weitergehen, vorankommen. Wohin es ihn zog, merkte er bei einem Praktikum: Er assistierte dem Zwei-Sterne-Koch Bruno Barbieri im "Il Trigabolo" bei Ferrara. Kochen war dort Kunst und Präzision. Marco staunte über die Zeit, die man sich für jedes Gericht nahm, über die Hingabe, mit der man es anrichtete. "Das war wie ein colpo di fulmine", sagt er, als habe ihn ein Blitz getroffen. Er lächelt. Das sage man eigentlich nur, wenn man sich verliebt habe.

Im selben Jahr noch ging Marco nach Foligno, in die "Villa Roncalli", wo Sandra Scolastra kochte, eine Meisterin der regionalen Küche. Bei ihr entdeckte er seine Liebe für umbrische Gerichte wieder. Marco stammt aus Spoleto, schon seine Mutter brachte regionale Gerichte auf den Tisch. "Sandra hat mir viel über die Gegend beigebracht", sagt er. "Über die intensiven Geschmäcker der Region." Er lernte, wie man eine umbrische Bohnensuppe mit Speck zubereitet und servierte sie, statt in der Schale, in einem Wirsingblatt. Nach und nach fügten sich die Puzzleteile zu einem Ganzen: "Von Sandra habe ich das Fundament gelernt, von Bruno die Architektur", sagt Marco. Heute hat er längst seinen eigenen Stil gefunden. Vor drei Jahren erhielt er den ersten Michelin-Stern. Für Marco kein Grund, sich auszuruhen. Er nimmt die Tradition als Basis, spielt mit ihr, verwandelt sie, macht sie leicht. Ohne je ihren Geschmack aufzugeben. Oder den Respekt für die Region, für Umbrien.

Herzhaftes Herbstvergnügen: Marco Gubbiotti (li.) und sein Team probieren das frisch gepresste Olivenöl von marco Viola (re.)
Herzhaftes Herbstvergnügen: Marco Gubbiotti (li.) und sein Team probieren das frisch gepresste Olivenöl von marco Viola (re.)
© Stefano Scatà
GEO SAISON EXTRA Nr. 08/2008 - Toskana für Genießer

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