Inhaltsverzeichnis
- Strände, mittelalterliche Burgen, und römische Ruinen
- Unser Ziel: Antifonitis, ein byzantinisches Kloster
- Ein wunderschönes Stückchen Erde
- Die letzte geteilte Hauptstadt der Welt
- Willkommen in Europa
- Neue Siedlungsklötze entwachsen der Küste
- "Agios Sinesis" letzter Ort griechischer Geselligkeit
- Kommt die inselweite Wiedervereinigung?
Emines Enkelin schenkte mir einen Mokka ein, ich dankte, trank und stürzte die Tasse verkehrt herum auf den Unterteller. Minuten vergingen. Emine, eine alte Frau mit Kopftuch und tiefen Furchen, saß auf ihrer Couch, plauderte mit Nachbarinnen und tat, als wäre ich nicht da. Draußen schlug eine Promenadenmischung an, wenigstens der Hund schien mich zu bemerken. Endlich fixierten mich die Augen der Alten: "Wir können beginnen." Die Nachbarinnen tuschelten.
Welche Fügung würde die 78-jährige Emine diesmal aus dem Kaffeesatz lesen? Sie hob meine Tasse vom bekleckerten Unterteller ab. Ich hatte wissen wollen, was mich in Nordzypern alles erwarten würde. "Du hast ein sauberes Herz", sagte sie. Danke, auch wenn das nicht die Frage war. Sie blickte auf die braunen Schlieren, vertiefte sich erneut in die Lektüre. "Du trägst Ärger in dir", sagte sie nach einer Weile. Das stimmte: Mein Koffer war samt Wanderausrüstung nicht mit mir auf der Insel gelandet. "Aber", fuhr sie fort "das geht vorbei. Du lernst unser Land kennen und schätzen. Du wirst staunen, manchmal verwirrt sein, aber eine große Hoffnung spüren. Der Baum, den ich sehe, trägt Früchte." Große Worte aus einem kleinen Kaffee. Doch wie recht die Frau behalten sollte.
Strände, mittelalterliche Burgen, und römische Ruinen
Tags zuvor begann meine Reise durch den Norden Zyperns, die mich zu den Gipfeln des Besparmak-Gebirges führt, zu Stränden, die zu den schönsten des Mittelmeerraumes gehören, zu mittelalterlichen Burgen und römischen Ruinenfeldern. Das Programm verspricht außerdem Lerneinheiten zur politischen Lage. Die 14 Teilnehmer unserer Wandergruppe stecken in Stiefeln, die sie über den Himalaya bringen könnten, tragen Trekkinghosen mit tausenden von Taschen und stehen - gestützt auf Nordic-Walking-Stöcke - zum Abmarsch bereit.
Unser Ziel: Antifonitis, ein byzantinisches Kloster
Zur Einstimmung wollen wir zu einem Kirchlein wallfahren, das in aller Einsamkeit auf mittlerer Höhe im Besparmak-Gebirge weilt. Unsere Gruppe marschiert vorbei an goldenen Weizenfeldern, an Ölbaumveteranen und Johannisbrotbäumen. Es geht steil bergan. Köpfe sinken nach unten, die Augen fixieren Kalksandstein, Wurzeladern und Mastix. Eidechsen flitzen über den Weg, Schwalbengeschwader sirren akrobatisch durch die Luft. Gott sei Dank, bald flacht die Steigung zum Höhenwanderweg ab. Drei Stunden später erreichen wir unser Ziel: Antifonitis, ein byzantinisches Kloster mit schillernden Wandmalereien aus dem 12. Jahrhundert. Kühl ist es in der von acht Säulen gestützten Kapelle, von deren ovaler Form es nur zwei in ganz Europa geben soll. Die Sonne blitzt durch zwölf kleine Fenster, lässt an der Kuppel ein Jesusporträt in indigoblauem Rahmen erstrahlen. Auf Brusthöhe fällt der Blick auf Heilige mit ausgekratzten Augen. "Die Splitter davon sollen vor Unheil schützen und waren früher sehr begehrt", sagt Sabri Abit, unser Guide. Mittlerweile wird das Kloster bewacht. Statt Kulturschändern wandern nun nur noch Gläubige herauf, beten und hoffen auf Erhörung. Zwei Stunden nach unserem Besuch wird mein Koffer zum Hotel gefahren.
Nordzypern zum Anhören
Ein wunderschönes Stückchen Erde
Eigentlich könnte unser Guide jetzt am Pool liegen oder mit seinem Sportwagen über die Insel brausen. Macht er aber nicht. Als Patriot mit Einfluss bis hinauf zum Tourismusministerium leistet er - natürlich nicht ganz uneigennützig - Überzeugungsarbeit. Sabri offenbart sich am Pilgerort als Besitzer des exklusivsten Boutique-Hotels Nordzyperns, weiter gehören ihm ein Restaurant und eine Reiseagentur samt Autovermietung. Sabri, heute 59 Jahre alt, wurde in Nikosia geboren, studierte in Manchester Politik und Geschichte. Und hatte bereits vor Jahren eine Nase für das Wiedererblühen seines Landes. Warum er heute noch Wandergruppen den Weg weist? Weil er sich wünscht, "dass dieses wunderschöne Stückchen Erde endlich zum Geheimtipp wird".
Basislager für unsere ersten Touren ist das Hafenstädtchen Girne mit Uferpromenade, vor sich hin dümpelnden Yachten und Fischerbooten, schicken Läden, Cafés und Restaurants. Vespas hupen sich fröhlich durch die Gassen der Altstadt, Kerle lassen Kleinwagen aufheulen, Mädchen machen mit Glitzertäschchen auf sich aufmerksam. Ein ganz normaler Alltag in einem ganz normalen Fischerort am Mittelmeer, der sich mehr und mehr vom Beutefang auf ganz normale Touristen nährt - wären da nicht noch die schwelenden Probleme, die Nordzypern im Konflikt mit seinen griechischen Nachbarn im südlichen Teil der Insel über Jahrzehnte politisch wie wirtschaftlich ins Abseits schickten.
EU-Mitglied, doch der Export ist verboten
Çem Batman ist heute Morgen gegen vier Uhr mit seinem Isuzu-Lieferwagen vom heimatlichen Bauernhof ins 50 Kilometer entfernte Girne aufgebrochen. Hinten auf der Ladefläche stapeln sich Kisten mit Artischocken, Zucchini, Auberginen, Peperoni, Orangen und Zitronen. Weinblätter hat er noch dabei, frisch gepflückte Kapern und heute Nacht geschnittene Minze. Es ist Mittwoch und damit Markttag im Hafenstädtchen. Çem ordnet die Ware vor seinem Stand. "Wissen Sie", sagt er dabei und schiebt seine Mütze mit New-York-Emblem aus der Stirn, "man tut sich schon schwer mit satten Ernten, die nur auf dem heimischen Markt verkauft werden dürfen. Wir sind zwar Zyprer, gehören also seit vier Jahren zur EU, sind aber als eigener Staat nicht anerkannt und dürfen somit auch nicht exportieren." Außer in die Türkei, ein Land, das mit Obst und Gemüse reichlich gesegnet ist. Wie blickt Çem in die Zukunft? "Ich bin kein Hellseher, aber wenn es zur Wiedervereinigung kommt, werde ich investieren und versuchen, mein Obst und Gemüse europaweit zu verkaufen."
Die "grüne Linie" ist wieder passierbar
Seit März gibt es Hoffnung auf bessere Tage, bewegen sich die entfremdeten Schwestern wieder aufeinander zu - 34 Jahre nach dem großen Bruch. Damals, im Jahre 1974, versucht die griechische Militärjunta das souveräne Zypern zu okkupieren und inszeniert einen Putsch gegen den griechisch-zypriotischen Präsidenten Erzbischof Makarios III. Die Türken antworten eine Woche später mit ihrer "Operation Attila" und besetzen in zehn Tagen den Inselnorden. Nach der Flucht und Deportation von 200.000 griechischen Zyprern in den Süden und 45.000 türkischen in den Norden ist das Land bis heute de facto gespalten. Dennoch: Die "grüne Linie", einst Markierungsstrich zwischen Nord und Süd und zuletzt scharf gesicherte Wallanlage, ist nun wieder an prominenter Stelle passierbar. UN-Truppen sorgen auf der Ledrastraße, dem ehemaligen Boulevard im Herzen Nikosias, für reibungslosen Fußgänger-Transit. Vier Jahre dauerte das Hickhack um die Öffnung des sechsten Übergangs. Aufgestoßen haben ihn der neugewählte Reformkommunist Demetris Christofias auf griechischer und der Republikaner Mehmet Ali Talat auf türkischer Seite.
Die letzte geteilte Hauptstadt der Welt
Unsere Gruppe ruckelt im Kleinbus von Girne aus der letzten geteilten Hauptstadt der Welt entgegen. Nach knapp einer Stunde Fahrt gen Süden erreichen wir Nikosias türkischen Teil Lefkosa. Gegen zehn Uhr öffnet der Fahrer die Tür. Wir schlendern durch Altstadtgassen Richtung Grenze. Außer ein paar Bauarbeitern haut hier noch keiner auf den Putz, auf Fassaden venezianischer und osmanischer Bürgerhäuser, hinter denen anatolische Bauarbeiter zu Hause sind. "Die Besitzer", sagt Sabri, "wohnen in komfortablen Villen vor der Stadt, warten die Zukunft ab, beginnen aber langsam ihre Anwesen zu renovieren."
Weiter geht es zur Markthalle und in die Ruhe der Selimiye- Moschee. Wir sind neugierig auf das Jenseits der Demarkationslinie. Die Menschen, die Läden, alles wirkt plötzlich vertraut. Hier! Erste Preisschilder in Euro-Währung. Und dort! Tüten mit eccound mit Bata-Schuhen in türkischen Armbeugen.
Willkommen in Europa
Dann die Kontrolle. Kurz in die Warteschlange einreihen, Pass abstempeln lassen. Und der Schritt verharrt im Niemandsland. Auf achtzig Metern werden die Zeiten des mörderischen Kampfes wieder wach. Wie Mahnmale stehen sie da, die vom Kugelhagel zerschossenen und längst nicht vernarbten, früher mal so stattlichen Wohn- und Geschäftshäuser. Auf griechischer Seite angekommen, empfängt uns eine Fußgängerzone mit Pflanzenkübeln und Kunststeinmosaiken, mit jungen Frauen, die auf Silbertabletts Pralinen zum Verkosten präsentieren, mit günstigem Ramsch und teuren Dessous. Und die schließlich in einer lauten Verkehrsschlagader mündet. Willkommen in Europa! Nach zwei Stunden zählt Sabri die Gruppe durch. Drei fehlen noch. "Wahrscheinlich beim Einkaufen verfranst", sagt er und schaut auf die Uhr. Morgen ist Schluss mit Shopping, morgen geht es wieder in die Einsamkeit. Und ins Reservat türkisch-griechischer Koexistenz.
Neue Siedlungsklötze entwachsen der Küste
Wie ein ausgestreckter Zeigefinger deutet die Halbinsel Karpaz nach Nordosten in Richtung türkisch-syrische Grenze. Unser Weg führt am Meer entlang, vorbei an verlassenen Kapellen. Wir sehen Ibisse über die Straße staksen, Bienenfresser und Blauracken auf Telefondrähten sitzen und - zunächst - neue Siedlungsklötze der Küste entwachsen. Unglaublich, raunt’s im Bus, wie viel Kapital mit der Wiedervereinigung spekuliert. Kommt es dazu, rechnet die Tourismuswirtschaft mit 20 bis 30 Prozent Wachstum. Endlich, auf halber Strecke, verebbt der Wildwuchs an Würfelbauten.
Hier liegt der letzte Abzweig ins Reich der Berge. Unser Fahrer nimmt die neu asphaltierte Straße. Knapp eineinhalb Stunden Fußmarsch noch, und wir haben sie erreicht, die Burgruine Kantara mit dem Panoramablick.
Unser neuer Stützpunkt, ein ehemaliger Gutshof aus dem frühen 20. Jahrhundert, liegt am Rande des Örtchens Dipkarpaz. 2400 Menschen wohnen hier, davon sind rund 700 griechischer Abstammung.
Die nächsten Tage wandern wir über uraltes Kulturland, brauchen uns nur zu bücken, schon halten wir römische Amphorenreste in der Hand. Wir springen an der Dünenbucht "Golden Sands" in Wasser, das klar wie Gin ist, und bekommen fast keinen Menschen zu Gesicht.
Bis auf den Schäfer Ahmet Seyhan, einen aus Anatolien stammenden Einsiedler, der hier seit 23 Jahren in Gesellschaft von 250 Schafen lebt. Trotz seines Rückzugs in die Abgeschiedenheit verfolgt er das Tagesgeschehen. Abends, wenn das Licht schwindet und die Sehnsucht nach Unterhaltung kommt, hört er Transistorradio: "Ich muss doch wissen, was sich auf der Insel tut."
Sein Motorrad, eine "MZ" aus dem ostdeutschen Zschopau, wirft er einmal pro Woche, am Freitagabend, an. Dann drängt es ihn über Stock und Stein ins 30 Kilometer entfernte Dipkarpaz. Im Dorf gönnt er sich ein Bad bei Verwandten und kauft ein: Brot, Makkaroni, Zwiebeln, Tomaten - Proviant für eine Woche Einsamkeit. Auf seinem Weg passiert er das "Spor Kulübü" und das "Agios Sinesis", zwei Cafés, die ihn an alte Tage erinnern.
"Agios Sinesis" letzter Ort griechischer Geselligkeit
Wirt im "Spor Kulübü" ist ein befreundeter Festland-Türke, der etwa zur gleichen Zeit wie Schäfer Ahmed auf die Halbinsel zog. Das gegenüberliegende "Agios Sinesis" gilt als letzter Ort griechischer Geselligkeit, von denen es damals so viele gab. Betrieben wird es von Vasili, Typ Charles Bukowski. Vasili, mit dichtem, weißgelbem Haar und roter Erdbeernase, spricht weder Türkisch noch Englisch. Ein junger Arzt, zu Besuch aus dem Süden, hilft aus: "Vasili ist hier geboren, hat das Café vor zwei Jahren übernommen. Damals, als die Türken kamen, hatte er eine Ziegenfarm, es ging ihm gut, und er wollte hier nicht weg." Nach und nach wird der Ton des Arztes schärfer: "Es war eine harte Zeit für ihn. Heute macht er diesen Job, um seine Zeit zu killen. Die Griechen hier führen ein kümmerliches Leben, sie können weder telefonieren, noch haben sie Strom." Der Wirt vom "Spor Kulübü" sagt dazu nur: "Die Griechen lügen."
Kommt die inselweite Wiedervereinigung?
Immer wieder prallen solch willkürliche Behauptungen hart aufeinander. Schwierig, die Wahrheit zu finden. Im Falle Vasilis klärt uns Zacharias Andreas, 40, auf. Er, selbst Grieche, empfängt uns im Wohnzimmer seines Hauses: "Wir können hier mit der ganzen Welt telefonieren, nur mit Südzypern nicht, das betrifft sowohl Türken als auch Griechen. Auch mit dem Strom haben alle zu kämpfen, der fällt manchmal aus." Zacharias zieht mit seiner Frau fünf Kinder groß. Was sagt er zum Zusammenleben beider Kulturen, wäre es für ihn und seine Familie nicht besser, im südlichen Teil der Insel zu leben? "Nein, wir haben hier eine griechische Schule, wir lieben das Meer und die unberührte Natur. Natürlich hat jede Nation ihre Eigenarten, aber mit etwas Toleranz kommt man damit gut zurecht." Prophezeit er auch eine inselweite Wiedervereinigung? "Es wird dazu kommen", sagt er, "ich freue mich darauf, auch wenn ich wohl noch etwas warten muss."