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Zum Start Hiobsbotschaften
Käpt'n Noah Barnes streicht sich noch einmal durch den Seefahrerbart und schenkt uns dann die Wahrheit ein: Ein Hurrikan nähere sich von Süden - der heftigste Wirbelsturm in Maine seit 1990. Wer den Wind oder hohe Wellen fürchte, befiehlt der Käpt'n, solle sein Segelschiff verlassen, bevor es am nächsten Morgen aus dem Hafen von Rockland auslaufen. Den Passagieren aber, die allen Wettern zum Trotz an Bord des Zweimasters "Stephen Taber" bleiben, verspricht er ein "unvergessliches Wochenende".
Die 19 Gäste, die diesen Segeltörn durch die Insellandschaftvor Maines Küste gebucht haben, sehen nicht aus, wie man sicherfahrene Segler vorstellt. Acht Paare und drei Singles im Alter von Mitte 20 bis 70. Informatiker und Architekten, Manager und Stadtplaner - fast keiner kann Backbord von Steuerbord unterscheiden. Wir hatten einfach darauf gehofft, für ein paar Tage Neuenglands Sonne genießen zu können und dazu drei leckere Mahlzeiten plus Nachmittagsgebäck. Vor uns liegen nun stattdessen Nebel, Dauerregen und Windstärke zehn bis elf.
Käpt’n Noah steht mit Gummimütze und knöchellangem Wettermantel vorm Eingang der Kombüse und grinst in die Runde. Der Wetterbericht? Hölle! Zwar ist Noah kaum größer als einen Meter siebzig, doch er wirkt wie einer, der sein Boot immer und überall sicher in den Hafen führt. Wir bleiben alle an Bord, machen dann aber schon mal ein paar Flaschen Wein auf, um uns das letzte fehlende Quäntchen Mut anzutrinken. Wie angenehm, dass Noahs Frau Jane den Wein an Bord auswählt, sie ist eine angesehene Sommelière – die unsere Tour wegen des neugeborenen Sohns allerdings nur von Land aus verfolgen kann. Den Käse lässt sie aus dem "Sage Market" in Camden anliefern, dem vielleicht besten Spezialitätengeschäft in Amerikas Provinz. "Vor 20 Jahren gabt es in Maine nur zwei Sorten Käse", sagt der Skipper und grinst, "zum Sprühen und zum Streichen. Selbst Stilton oder Parmesan kannte hier kaum einer." Vier Tage später werden wir in den Hafen zurückkehren und unseren Käpt’n umarmen. Denn ein Segeltörn, egal bei welchem Wetter, ist eines der intensivsten Naturerlebnisse, das man in diesem Teil Amerikas haben kann.
Die "Stephen Taber" steuert Buchten an, die sonst unerreichbar wären. Noah bringt uns im Beiboot auf nahegelegene Inseln mit glattgeschliffenen Felsen und dichtem Wald. Nur die größeren sind besiedelt, die Holzvillen reicher Ostküstenfamilien blitzen durchs Grün der gewaltigen Anwesen. Auf den kleineren bleibt die Natur sich selbst überlassen. Wir tapsen über dickes Moos, riechen den unvergleichlichen Mix aus Harz und salziger Seeluft. Die Nadelbäume erinnern an Skandinavien, und wer sich leise in einen Unterstand setzt, kann sogar Luchse oder Adler beobachten. Wenn wir auf den Schoner zurückkehren, freuen wir uns auf die Kochkunst von Allison Strine, 32. Sie wirbelt die meiste Zeit des Tages im Bauch des Schiffes für unser Wohl. Die enge Küche mit dem antiken Herd ist wie geschaffen für die klein gewachsene Frau.
Im Winter heuert sie auf Yachten in der Karibik an, im Sommer auf der "Stephen Taber". Allison liebt das Leben auf dem Wasser, und diese Liebe schmecken wir in ihren Braten, Lobstern und Steaks. Selbst in Maines teuersten Restaurants könnten wir nicht besser essen, dabei hat sie sich alles selbst beigebracht. Der Star dieser Reise ist aber nicht das Boot. Die "stephen Taber" wurde vor 138 Jahren zu Wasser gelassen und pendelte die längste Zeit ihres Lebens als Kohletransporter die Ostküste auf und ab. Noahs Vater kaufte den robusten Schoner 1979 und installierte die elf eher spartanischen Kabinen. Inzwischen ist sie das älteste im Dienst befindliche Schiff der ganzen Vereinigten Staaten. "Ich bin kein Mann für die Liebe auf den ersten Blick", sagt Noah, "aber dieser Segler hat mir den Kopf verdreht." 2004 gab er seine Karriere als PR-Manager in Manhattan auf und zog mit seiner Frau Jane nach Rockland, um das Erbe seines Vaters anzutreten. Wie am ersten Tag freuen sie sich über die Details des Bootes, die dessen Charme ausmachen: die verschnörkelten Griffe der Türen, die verchromten Glocken, das dunkle Holz in der kleinen Bibliothek.
Die Ruhe vor dem Sturm
Dabei war Noahs Leben auch zuvor nicht reizlos gewesen: In Prag spielte er Anfang der neunziger Jahre für gutes Geld in einer Bluesband; in der Karibik verdingte ers sich als Kapitän auf Privatyachten von Multimillionären. "Viele hatten allerdings schlechte Manieren, und ich wollte nicht wie ein Sklave behandelt werden." Schließlich landete er bei der PR-Agentur. Obwohl er dort Erfolg hatte und ihnen das Leben in New York gefiel, haben Jane und er den Umzug ins abgeschiedene Maine bis heute nie bereut.
Am Abend starren wir alle gebannt auf das Wetterradar: Der gefährliche Sturm vor der Küste von Massachusetts nimmt Kurs auf die West Penobscot Bay - genau dort, wor wir zwischen dem Festland und den Inseln Vinalhaven, North Haven und Islesboro ankern. Bislang ist der Seegang kaum spürbar, also können wir Passagiere das Bordleben genießen. Hillary und Tom, Mitte dreißig, Grafiker aus Conneticut, sind die einzigen, die am nächsten Tag ihre Badeanzüge anziehen und den Sprung in die Bucht wagen. Hillary hatte Tom mit der Bootsfahrt überrascht - ein Geburtstagsgeschenk. "Wir standen am Hafen, und auf einmal sagte sie:'Hier steigen wir jetzt ein', erzählt Tom. "Zum Glück hatte sie selbst an warme Sachen gedacht."
Schiffsmmat Josephine Patterson, 35, hält uns auf Trab, lässt uns Segel hissen, Taue wickeln und den Anker lichten. Die "Stephen Taber" nimmt Kurs Richtung Norden, fort vom Hurrikan. Zur Linken liegen die Hafenstädte Camden und Rockport mit ihren bunten Holzhäusern und Schiffsmasten, rechts und voraus das Gewirr der Inseln mit ihrem Schären-Look. Ein Zeltdach überm Deck schützt uns vor der Nässe. Allison bringt frische Schokoladenkekse und Kaffee. Die Handys bleiben stumm. Zeit zum Lesen. Zum Weintrinken. Zum Schauen.
Die meisten Urlauber, die nach Maine reisen, sind auf der Suche nach der Dreifaltigkeit gehobener Erholung: Ruhe, Natur, gutes Essen. Und sie werden nicht enttäuscht. Es wirkt, als hätten sich die Bewohner Maines absichtlich von der Union abgenabelt, so sehr unterscheiden sich Kultur und Mentalität vom übrigen Amerika. Die Straßen sind hier schmaler und die Portionen in den Restaurants kleiner. In Umfragen zur Lebensqualität schneidet Maine immer wieder glänzend ab.
Die Metropole Portland: in den Top Ten von Amerikas lebenswertesten Städten; der Acadia National Park: neben dem Yosemite und dem Yellowstone -Amerikas schönstes - und meist besuchtes - Naturschutzgebiet. Besonders die Hafenstädtchen entlang des mittleren Küstenabschnitts ziehen Gäste magisch an. Bar Harbor oder Camden zum Beispiel haben schmucke Häfen, viel Grün und Stadtkerne, die sich seit 200 Jahren kaum verändert haben: nach britischem Vorbild angelegte Straßen mit zweigeschossigen Holzhäusern, viele davon im viktorianischen Stil mit geländerumrahmter Veranda und Balkonen. Die Bürger pflegen und renovieren diese architektonischen Schätze, und viele bieten Bed and Breakfast an. Nach dem Weckruf am nächsten Morgen erklärt der Käpt'n, der Wirbelsturm habe seinen Kurs geändert und sich endgültig aufs Meer verzogen. Dafür wird im Laufe des Tages der Nebel so dick, dass wir nach Gehör fahren müssen. Noah ist in seinem Element, jetzt kann er zeigen, welches Seefahrer-Kaliber in ihm steckt. "In Prag hatte ich viel Spaß, in der Karibik hätte ich reich werden und in New York in einem Wolkenkratzer leben können", sagt er. "Aber so glücklich wie hier und heute bin ich dort nie gewesen." Zum Abschied setzt uns der Käpt'n selbst am Pier von Rockland ab. Es fühlt sich komisch an, wieder an Land zu sein, ohne Allisons köstliche Küche und Janes leckere Weine, ohne die Bordmusik der Crew und das Knarzen der alten Planken. Noah steuert sein Beiboot zurück zur "Stephen Taber". Schon nach ein paar Metern verschwindet er im Nebel, und bald verhallt auch das Tuckern des Motors. Nur noch das Gezeter der Möwen und die Regentropfen auf dem Wasser sind zu hören. Wie ein Abgesang auf den großen Sturm, der nicht kam.
Infos: Anreise, Reisezeit, Buchen
Infos zu der Tour:
Noch um das Jahr 1900 befuhren 30 000 Segelschiffe die USA-Ostküste, brachten Kohle und Holz in den Süden, Baumwolle und Lebensmittel in den Norden. Die letzten Schiffe jener Zeit stehen unter Denkmalschutz und kreuzen durch die Insellandschaft bei Rockland und Bar Harbor. Von Mai bis Oktober legen die zwölf Schoner der "Maine Windjammer Association" aus den Häfen Rockland und Camden zu drei- bis sechstägigen Fahrten ab. Älteste Schiffe sind mit Baujahr 1871 die "Stephen Taber" und die "Lewis R. French", das größte ist der Dreimaster "Victory Chimes" mit 40 Meter Länge und Platz für 40 Passagiere. Mangels Platz sind die Kabinen meist eng und einfach. Nachts wird für ruhigen Schlaf in geschützten Buchten geankert. Die Kosten variieren je nach Boot und Dauer der Tour.
Infos und Buchen:The Maine Windjammer Association
Zeitdifferenz: minus 6 Std. (Berlin 18 Uhr = Portland 12 Uhr)
Reisezeit: Die Sommer sind heiß und trocken, die Winter bitterkalt, allerdings bleibt es meist bis in den Oktober angenehm warm. Beste Monate: Mai, Juni, September. Anreise: Mit Continental, United, Delta von den großen deutschen Flughäfen über Boston oder New York nach Portland, Maine. Von dort weiter per Mietwagen oder Limousinenservice.
Auskunft: Discover New England, PF 1213, 82302 Starnberg, www.visitmaine.com