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Tokio und Technik: ein Traumpaar
Lesen Sie hier die Reportage "Tokio: Im Reich der Zeichen" aus GEO Saison September 2009:
So geschmeidig, wie der sich bewegt – das ist niemals ein Roboter, das muss ein Mensch im Roboter-Anzug sein. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Bis Asimo einen Meter vor mir stehen bleibt, sich umdreht und ich ihn von vorn sehe: Das Scharnier zwischen Oberschenkel und Rumpf ist so schmal, da würde nicht einmal ein Kinderbein hindurchpassen.
Asimo ist der Star des Miraikan. Zweimal täglich tritt er in diesem modernen Museum auf, um 11 und um 14 Uhr, umjubelt und beklatscht von Kindern und Erwachsenen, wenn er winkt, sich mit der Hand grüßend an die Stirn tippt, läuft wie ein Teenager. Der weiße Android trägt einen Sturzhelm mit getöntem Visier und einen Rucksack, in dem die gesamte Technik für dieses Kunststück steckt. Vor rund 20 Jahren begann Honda mit der Entwicklung humanoider Roboter. Es dauerte Monate, Asimo auf die Beine zu stellen, es kostete acht Jahre und Milliarden Yen, ihn zum Gehen zu bringen. Inzwischen kann er sogar tanzen. Und sprechen: "Ich bin ein Kollege, nicht nur ein Roboter."
Gestatten: Asimo, der humanoide Roboter
Im Miraikan, Tokios Nationalmuseum für Wissenschaft und Zukunftsforschung, fungiert er als eine Art Übersetzer, der Besuchern neueste Technologien vermittelt. "Für uns ist Asimo tatsächlich ein Mitarbeiter", sagt Dr. Masamitsu Funaoka, einer der Kuratoren. "Wir sind in dieser Hinsicht sehr offen. Unser Direktor war früher Astronaut. Wir unterscheiden uns vielleicht ein wenig von anderen Wissenschaftsmuseen." Eine Untertreibung. Allein die Abteilung "Neuheiten und Zukunft" sucht ihresgleichen. Neben Asimo begegnen Besucher dem Roboterhund Aibo und dem Rettungsroboter Souryu II, der nach dem schweren Erdbeben von Kobe entwickelt wurde, um Menschen unter Trümmern zu finden. Sie streicheln den Seehundroboter Paro, der den Kopf bewegt und zu fiepen beginnt, wenn sie ihn tätscheln. Auf Europäer mag es befremdlich wirken, dass er in Altenheimen eingesetzt wird, Japaner kennen solche Berührungsängste nicht. "Paro ist doch ungeheuer praktisch", findet Dr. Funaoka. "Er bietet alten Menschen eine Möglichkeit zu kuscheln, macht aber keinen Schmutz wie ein lebendes Haustier und muss auch nicht Gassi gehen."
In Odaiba wird Japans Hauptstadt ihrem Ruf gerecht, technikbegeistert und fortschrittsgläubig zu sein: Auf einer künstlichen Insel in der Bucht von Tokio stehen neben dem Miraikan weitere futuristisch anmutende Gebäude, das Fuji Television Center mit seiner gigantischen Kugel aus silbrig glänzendem Titan, das Ausstellungszentrum Big Sight, das wie die zeitgenössische Ausgabe einer Pyramide wirkt, das Panasonic Haus der Zukunft, in dem man heute schon die Technik sieht, die übermorgen vielleicht unseren Alltag prägen wird. Und mitten in diesem Zukunftslabor steht Venus Fort, eine rosafarbene Shopping-Mall von provinzieller Scheußlichkeit, die einer italienischen Piazza nachempfunden sein soll und Beton gewordener Wahnwitz ist, mit gemaltem Himmel, an dem mehrmals täglich künstlich die Sonne untergeht. Mehr als andere Megacities lebt Tokio von solchen Kontrasten. Die Schönheit, die Künstler, Modeschöpfer, Architekten schwärmen lässt, offenbart sich erst im Detail, das Ganze ist oft verblüffend hässlich.
Die Lost in Translation-Kreuzung: mittlerweile weltberühmt
Atomisiert und heterogen ist die Stadt, sie hat keinen erkennbaren Mittelpunkt, hat nicht ein Zentrum, sondern Dutzende. Erst beim genauen Hinschauen bietet jedes einen Mikrokosmos, in dessen Kern sich die hochentwickelte japanische Ästhetik findet. Tokio ist ein Chamäleon. Auf der Ginza zeigt es seine elegante Seite: Vor mir balanciert eine zierliche Dame im Chanelkostüm anmutig ihren roséfarbenen Schirm durch den Regen. Er ist farblich abgestimmt auf ihre Pumps, die, was bei diesem Sauwetter an Zauberei grenzt, vollkommen sauber sind. Legendär ist der Ruf der Ginza als Shopping-Meile mit den höchsten Immobilienpreisen der Welt, Flagship- Stores von Gucci, Dior und Hermès reihen sich aneinander, kaum anders als an New Yorks Madison Avenue. Bis drei junge Frauen in prächtigen Kimonos aus dem Armani Ginza Tower kommen. Sie sind makellos schön wie ein Holzstich. Die schwarzen Haare kunstvoll hochgesteckt, die blassen Gesichter tadellos geschminkt, könnten sie aus dem 17. Jahrhundert stammen mit ihren Seidengewändern und den Holzschlappen, auf denen sie vorwärtstrippeln, wenn man von ihren großen Einkaufstüten mit dem Designerlabel absieht.
In Shibuya finde ich das Tokio der Romane von Haruki Murakami, junge Menschen, die von einer Bar zur anderen ziehen und dabei etwas verloren wirken. Abends lebt das Viertel auf, wird zu einer Neonwelt, in der Leuchtreklamen auf den Fassaden der Hochhäuser im Rhythmus der größten Metropole der Welt pulsieren. An der Shibuya 3-chome bleibe ich stehen. Sofia Coppola hat diese Kreuzung mit ihrem Film "Lost in Translation" berühmt gemacht: Sie gilt als verkehrsreichste Fußgängerkreuzung der Welt, wenn die Ampel grün wird, eilen hunderte Menschen in alle Richtungen. Auf dem Gehweg stehen Urlauber, filmen und fotografieren das Schauspiel, schauen auf sechs, sieben Stockwerke hohe Bildwände, auf denen immer neue Zeichentrickfilme laufen, ein Freiluftkino des Konsums, gegen das der Times Square ärmlich wirkt. Tokios rauschhaftes Tempo wirkt ansteckend. Eine Megametropole, in deren Ballungsgebiet 35 Millionen Menschen leben, in der es zahllose U-Bahnlinien gibt mit 425 Bahnhöfen. Der größte ist Shinjuku. Er hat über 50 Ausgänge, 3,6 Millionen Menschen passieren ihn täglich. In dieser unübersichtlichen Megalopolis finde ich mich erstaunlich gut zurecht, obwohl ich außer sumimasen (Entschuldigung) und arigato (danke) kein Wort Japanisch spreche. Dutzende Zeitungsartikel hatten mich gewarnt, es sei unmöglich für gaijin (Ausländer), in Tokios chaotischem Straßensystem nicht verloren zu gehen.
Modehäuser sind Wunderwerke
Die kuriose Art, Häuser nicht nach der Reihe, sondern nach ihrem Alter zu nummerieren, sorgt immer wieder für Überraschungen. Aber dank der zuvorkommenden Hilfsbereitschaft der Japaner begleitet mich ein Heer aus Scouts und Schutzengeln. Ich zeige einem älteren Herrn in der U-Bahn der Hibiya-Linie den Zettel, auf den mir der Concierge die Schriftzeichen für Omote-sando geschrieben hat. Er lächelt verlegen und hält dabei die Hand vor den Mund, verbeugt sich, entschuldigt sich für sein unzulängliches Englisch – erklärt mir dann, wo ich umsteigen muss und welcher Ausgang der beste ist, um auf die Prachtstraße im Stadtteil Aoyama zu gelangen. Sie ist dabei, der Ginza ihren Rang abzulaufen: Große Modemarken zeigen hier ihre Modelle in von Weltklasse-Architekten erbauten Häusern, die selbst zu Touristenattraktionen geworden sind: Toyo Ito baute für Tod’s, die Schweizer Herzog & de Meuron, berühmt geworden durch Museen wie die Londoner Tate Modern, entwarfen ein Wunderwerk für Prada, das aussieht wie eine gepolsterte Glasdecke, der Israeli Ron Arad gestaltete Yamamotos Flagship-Store. Eine lohnende Investition, denn so werden die Paläste des Konsums in einem Atemzug genannt mit sensationellen Museumsneubauten wie Kurokawas National Art Center oder dem Mori Arts Center von Gluckman Mayner.
Lolitas und Fabelwesen
Zwischen diesen Inseln der Schönheit blitzt immer wieder der Moloch Tokio auf. Oft schon wurden große Teile durch Erdbeben und Taifune zerstört – auf der Weltrangliste der durch Naturkatastrophen gefährdeten Großstädte nimmt er den traurigen ersten Platz ein. Und durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs. Der planlose Wiederaufbau ließ an manchen Stellen einen städtebaulichen Albtraum entstehen: abweisende Straßenschluchten, gesichtslose Hochhäuser, die kein Ensemble ergeben, ein Gewirr von Kabeln über den Straßen wie in einem Dritte-Welt-Land, viele Viertel brachial zerrissen vom Shuto-Expressway, der sich fast 50 Kilometer lang, teils auf meterhohen Betonstelzen, durch die Stadt fräst. Japans Hauptstadt ist nicht und so charmant wie Paris, nicht so cool wie London, nicht so sinnlich wie Rom. Nach Tokio fährt man zum Staunen.
Zwei Mädchen in rosafarbenen Lolita-Outfits mit Spitzenblusen und kleinen, weißen Schürzen kommen mir entgegen, es folgt ein Pulk von Teenagern in aufwendigen Fantasiekostümen. Eine trägt eine zerrissene Strumpfhose und hohe Plateausohlen, eine andere ein Diadem auf pinkfarbener Perücke – cosplay heißt diese japanische Variante der Popkultur: Jugendliche verwandeln sich in ihre Comic-Helden, werden für Stunden zu lebenden Manga-Figuren. Auf der Jingu-bashi-Brücke in Harajuku treffen sie sich, stellen sich in ihren Kostümen zur Schau, vor allem sonntagvormittags. Ich habe mir die antiken Keramiken und bemalten Paravents im Suntory Museum of Art angesehen. Die exquisite Sammlung des Getränkeherstellers ist im Midtown Tower untergebracht, Tokios höchstem Gebäude – und dem teuersten, das hier je erbaut wurde: 2,3 Milliarden Euro kostete der Komplex.
Es ist ein milder Herbstnachmittag, ich schlendere los ohne festes Ziel; nie hätte ich damit gerechnet, dass es so angenehm ist, in dieser Riesenstadt spazieren zu gehen. Die Yakuza-Mafia bekommen gaijin nicht zu spüren, lästige Kleinkriminalität gibt es so gut wie gar nicht. Ohne meine Tasche krampfhaft festzuhalten, lasse ich mich treiben. Nach ein paar Minuten finde ich mich in einer schmalen Straße wieder, zweistöckige Holzhäuser mit handtuchschmalen Gärten, ein Bambusbusch, eine Bonsai-Kiefer, eine kleine Holzbank, an die jemand sein Fahrrad gelehnt hat, ohne abzuschließen, wie in einer Kleinstadt. Das noble Geschäftsviertel Roppongi ist höchstens 300 Meter und gleichzeitig Lichtjahre entfernt.
Trinken in der Öffentlichkeit? Bloß nicht!
An einem Automaten ziehe ich mir kalten grünen Tee. Er schmeckt sehr bitter, warm mag ich ihn lieber. Einen Mülleimer für die Dose suche ich vergeblich. Das kann doch nicht sein, in diesem Land, das sauberer ist als die Schweiz, in der ich noch nicht eine einzige Zigarettenkippe auf dem Boden gesehen habe, soll es keine Mülleimer geben? Erst später erklärt mir eine Verkäuferin widerstrebend, dass ich einen großen Fauxpas begangen habe: In Japan ist es verpönt, in der Öffentlichkeit zu essen oder zu trinken. Und ein zweiter Fehler ist gleich dazugekommen: Mit meiner Frage habe ich sie indirekt gezwungen, mein Verhalten zu kritisieren, und sie damit in Verlegenheit gebracht – jetzt muss ihr mein schlechtes Benehmen peinlich sein.
Ob das jeder Automatenbenutzer weiß? 5,5 Millionen Maschinen sollen in Tokio Kunden im Vorbeigehen mit allem versorgen, was zwischen zwei Plastikklappen passt: Nudelsuppe, Kaffee, Sake, Unterwäsche, Blumen, Sex-Spielzeug. Unsere Zigarettenautomaten wirken nostalgisch neben diesen Hightech-Geräten. Nirgendwo werden so viele innovative und kuriose Dinge erfunden wie in Japan. Das Tamagotchi machte in den neunziger Jahren als elektronisches Haustier Furore, es gibt zusammenklappbare Musikboxen, Fußmassagematten, Kissen mit integrierten Lautsprechern. Japanischer Lifestyle prägt Kunst und Design in der ganzen Welt. Firmen wie Adidas haben Trendscouts in Tokio, um ihre Marke für die Zukunft zu wappnen. Internationale Experten wie Giampiero Bosoni, Professor am Politecnico in Mailand, Europas Kaderschmiede für Designer, reisen regelmäßig auf der Suche nach Anregungen hierher: "Selbst bei einfachen Gegenständen sind Farben und Material minimalistisch und schick. Japan bietet so viel gutes und günstiges Design, hier muss keiner teure Marken wie Alessi kaufen."
Ich denke an meinen Besuch im Miraikan. An Roboter, die heute schon Rezeptionisten ersetzen und bald vielleicht das Pflegepersonal im Seniorenheim. Roboter Asimo war mit Ex-Premier Koizumi auf Staatsbesuch in Tschechien, an der Wallstreet schlug er die Börsenglocke an. Für Dr. Funaoka ist das Schnee von gestern. Sein Lieblingsprojekt heißt "Erde, Umwelt und ich", eine neue Ausstellung über Umweltschutz und Nachhaltigkeit. "Das ist die Zukunft, dafür müssen wir Bewusstsein schaffen." Plötzlich sieht es so aus, als wären wir in Deutschland ganz schön weit vorn.