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Johannesburg in neuem Rhythmus

Lange Zeit hörte man nicht nur Schönes über Johannesburg. Doch die Bewohner selbst glaubten an ihre Zukunft. Nun pulsiert ihre City in neuem, aufregendem Rhythmus

Inhaltsverzeichnis

Braai im Joubert Park

Ein Schritt über die Schwelle, und alles ist anders. Drinnen ist es ruhig, gedämpft und menschenleer. Lichte Säle und Flure, Säulengänge, weiches Licht fällt durch hohe Fenster. Flüsternde Stimmen und das Rascheln von Papier. Drinnen, das ist die Johannesburg Art Gallery, das städtische Kunstmuseum. Sonntagvormittag, man kann sich konzentrieren und in aller Ruhe der Kunst widmen – von einer kleinen Sammlung holländischer Meister bis zu gigantischen, geschnitzten Holzfiguren aus südafrikanischen Dörfern. Dann treten wir nach draußen auf die Straße, und es ist vorbei mit der Stille.

Im Joubert Park, an dessen Rand die Art Gallery liegt, glimmen hunderte Grillfeuer für das braai, das Barbecue. Auch schwarze Südafrikaner frönen diesem Landeskult mit Hingabe. Der Park wird Picknickzone, und in den Straßen ringsum ist afrikanischer Markt. Und Busbahnhof. Und Zirkus. Und Konzert. Und ein Straßenfest. Und Gottesdienst. Alles gleichzeitig, am selben Fleck. Aus der Menge drängt eine Hundertschaft ganz in Weiß hervor – Gläubige einer der vielen afrikanischen Kirchen. Tanzend und singend folgen sie ihrem Vorbeter, der eine Fantasieuniform trägt und einen Tambourstab schwingt.

Kolonnen von Toyota-Sammeltaxis halten vor dem Markt, in dritter, vierter, fünfter Reihe. Die Seitentüren schieben sich auf, den Minibussen entsteigen Pärchen, Gruppen, Großfamilien. Viele Jugendliche sind darunter, in weiten Hosen, mit tief ins Gesicht gezogenen bunten Mützen und knielangen Pullovern, Shirts mit Perlenstickereien in Zulu-Mustern oder mit Polit-Slogans, gern in Afrikaans, der ehemaligen Sprache der Apartheid: "nee baas" – no boss! – das war der Titel eines der ersten großen Kwaito-Hits.

Johannesburg: Engel oder Teufel?

Mit Bronwyn Law-Viljoen stehe ich auf der Schwelle zwischen drinnen und draußen. Sie kennt beide Welten. Und beide, sagt sie, "ändern sich in einem Tempo, dass ich es oft nicht glauben kann." Als Lektorin in einem Kunstverlag kommt sie regelmäßig in die Art Gallery. In Johannesburg ist sie geboren und aufgewachsen. Allerdings erkennt sie manchmal ihre eigene Stadt nicht wieder. Vor einigen Monaten erst kehrte sie aus New York zurück, wo sie acht Jahre gelebt und gearbeitet hatte. "Joburg ist nicht bloß Südafrika. Es ist reines Afrika."

Erkläre mir dieses Joburg, hatte ich sie gebeten. Denn ich war auf der Suche nach Antworten. Johannesburg macht es einem nicht leicht: Je länger ich mich vor dieser Reise mit Südafrikas größter Stadt beschäftigte, desto beklemmender wurde meine Vorstellung von ihr. Ich befragte Kollegen, und sie beschworen mich, als Weißer nicht einmal allein die Straße vor dem Hotel zu überqueren: viel zu gefährlich, das Verbrechen lauere überall. Ich hörte und las Geschichten, in denen Johannesburg "Welthauptstadt des Verbrechens" oder "die mörderischste Zone außerhalb eines Kriegsgebiets" genannt wurde. Und ich sah Bilder, die in Polizeiberichte gehören, aber nicht in Reisereportagen.

Dann befragte ich Johannesburger, und die meisten antworteten mit schwärmerischen Mails: Komm uns besuchen! Hier schlägt das Herz des neuen Südafrikas. Hier ist pure Energie. Mode und Medien, Theater und Musikszene, Business und Kunst – überall kannst du den Aufbruch mit Händen greifen. Unsere Stadt, so versicherten diese Botschaften auch, ist dabei, ihre dunkle Zeit aus Rassentrennung, Gewalt und Verbrechen hinter sich zu lassen. Kwaito, der Rap, der in den Sprachen Südafrikas gesungen wird, ist der Sound dieser Zeit. Nun hören ihn nicht nur Szenegänger und Künstler. Auch Investoren lassen sich von ihm packen – und stecken ihr Geld ins Zentrum, in neue Hotels, Apartmenthäuser, Shopping-Malls.

Macht einigen Urlaubern anfangs Angst, dann jede Menge Spaß: Johannesburg
Macht einigen Urlaubern anfangs Angst, dann jede Menge Spaß: Johannesburg
© Jeremy Woodhouse/The Image Bank/Getty Images

Welches Bild stimmte nun? Das düstere? Oder das optimistische, in dem es keine Bandenkriege mehr gab und keine Taxifahrergangs, die ihre Reviere in Feuergefechten ausschossen? Bronwyn fragt sich dies seit ihrer Rückkehr häufig selbst. In New York, sagt sie, redete man von Johannesburg "wie von einem großen Versprechen. Dort war Aufbruch, Initiative, das Neue." Als sie mitbekam, wie die afrikanische Kunst in den Galerien von L. A. bis London immer gefragter, beliebter und teurer wurde, beschloss sie zurückzukehren:

"Joburg ist die Kunstmetropole Afrikas. Hier laufen alle Fäden zusammen, hier ist das Zentrum." Ihr Arbeitgeber, der Galerist David Krut, ist ebenfalls ein Rückkehrer aus den USA. Für seinen Kunstverlag betreut sie eine Reihe von Monografien über südafrikanische Künstler. "Diese Leute schaffen Großartiges – aber niemand kennt sie. Wir stellen sie zum ersten Mal einem breiten Publikum vor."

Mehr Sicherheit auf den Straßen durch die Polizei

Nach einem knappen Jahr in der Stadt bewegt sich Bronwyn selbstsicher und wie selbstverständlich durchs Zentrum. Sie fährt ein kleines, altes japanisches Auto – "bei dieser Kiste kommt kein car jacker in Versuchung." Wir lassen auch die Scheiben heruntergedreht – früher wäre das bodenloser Leichtsinn gewesen. An roten Ampeln halten wir brav an. "Mitte der 90er Jahre einfach undenkbar", erzählt sie. "Wenn Gestalten an der Kreuzung herumlungerten, hattest du immer den Fuß auf dem Gas." "Drive faster, live longer", lautete der Spruch auf einem beliebten Aufkleber damals. Statt von Straßenräubern werden wir an diesem Sonntag zweimal von der Polizei gestoppt. Die vierspurigen Straßen sind komplett abgeriegelt. Freundliche Beamte bitten um Führerschein und um einen Blick in den Kofferraum. Um die Ecke, hinter den geparkten Einsatzwagen, warten ihre Kollegen, schwer bewaffnet und gepanzert. "Die machen jetzt Ernst mit dem Gesetz", sagt Bronwyn. Einige Millionen gefälschte Führerscheine kursieren in Südafrika. Und illegale Waffen in Mengen, die niemand kennt. Deshalb regen sich nicht einmal Liberale auf: "Wir sind froh, dass die Polizei effizient zu arbeiten scheint. Früher konnten die doch nur die Townships kontrollieren und die Schwarzen unterdrücken. Jetzt klären sie Verbrechen auf und machen ihren Job."

Dazu kommt eine praktisch lückenlose Überwachung der City mit Kameras. Es sind einige hundert, kaum größer als Zigarrenkisten und mit so scharfen Objektiven versehen, dass ein Buchtitel auf 100 Meter Entfernung zu lesen ist. Die Bilder der elektronischen Augen laufen im Carlton Center zusammen, Afrikas höchstem Wolkenkratzer, etwa zehn Blocks südlich des Joubert Park. Dort steuern in einem Kontrollraum, der eine ganze Etage einnimmt, die Mitarbeiter einer privaten Sicherheitsfirma die Kameras. Innerhalb einer Minute können sie ein Einsatzteam an jeden Punkt der Innenstadt dirigieren.

Das System hat Erfolg: Seit 2002 ist die Straßenkriminalität um 80 Prozent zurückgegangen. Doch immer noch sind die Kontraste scharf in dieser Stadt. In einem "Biafra Repair Shop", nichts weiter als ein staubiger Hof mit einer Mauer, stehen uralte Taxen aufgebockt. Direkt gegenüber behütet ein doorman mit weißen Handschuhen ein nagelneues Gebäude mit glitzernder Glashaut. Vor einem Supermarkt steht ein Tischchen, darauf zwei Telefone und ein Faxgerät. Die Leitungen verlieren sich in einem Kabelgewirr; zwei Jugendliche machen hier ihr kleines Geschäft mit der angezapften Kommunikation. Gleich daneben glänzt ein Coffeeshop samt Internet-Etage, wo man zum Surfen seinen Caffè latte schlürft. Schwarze Mädchen haben auf dem Gehsteig ein paar Hocker aufgestellt – ein Freiluftsalon, in dem von Dreadlocks bis Vollglatze alles zu haben ist. Einheitspreis: 10 Rand, ungefähr 1,20 Euro. Einen Block weiter wirbt eine afrikanische Apotheke mit Kräutern und selbstgebrauten Tinkturen, im Angebot sind auch Pavianschädel. Direkt über ihnen flackert eine Neonreklame für Mobiltelefone.

Johannesburg: eine Galerie der Gegensätze

Je weiter unsere Fahrt geht, desto mehr fügen die Bilder sich zu einer Galerie der Gegensätze zusammen. Das schmucke Newtown mit Market Theatre, Kopfsteinpflaster, Flohmarktstimmung und Straßencafés. Die hohle Ruine des alten Schlachthofs im Gründerzeitstil, alle Scheiben zertrümmert, davor ein Bauschild: Die Agentur für Stadtentwicklung teilt mit, dass hier bald Baukolonnen anrücken. Das Firmengebäude von DeBeers funkelt herüber wie ein gigantischer Brillant. Unweit davon werden gerade die Luxusapartments des "Cornerhouse" verkauft – eine der ersten großen Investitionen in der Commissioner Street, der zentralen Ostwestachse der City. Davor, an der Kreuzung, quellen die Textilläden der indischen Händler über von Stoffballen und Matratzen, es riecht nach Curry und Wäschereien.

Kontraste gehören zu Johannesburg seit seiner Gründung Ende des 19. Jahrhunderts. Mit einer Goldgräbersiedlung fing es an, und es wurde der Wilde Westen Afrikas, sein Eldorado. Über Nacht entstanden die größten Imperien – und die größten Schnapsbrennereien der südlichen Hemisphäre. Die Stadt wuchs auf Diamanten und Gold – und produzierte das Elend der schwarzen Townships, in denen Millionen als billige Arbeitskräfte gehalten wurden. In dem halben Jahrhundert, in dem die Apartheid regierte, so kommentierte der Schriftsteller Rian Malan, wollten seine "verrückten Meisterdenker" Johannesburg als "weiße Mondbasis auf dem Schwarzen Kontinent" aufbauen. "Ein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen, das im Nichts endete." Er verließ die Stadt – und kehrte zurück: "Johannesburger haben heartspace, ein großes Herz. Das kommt vom Adrenalin, der Droge, die uns hier hält und die uns zurückholt, wenn wir flüchten wollen." Berühmt wurde Malan, der weiße Afrikaander, als er Ende der 1980er Jahre mit seinem Buch "Mein Verräterherz“ der Apartheidgesellschaft schonungslos ihren Spiegel vorhielt und einen bewegenden Bestseller landete. Heute sieht er Johannesburg als vitale, brodelnde, oft brutale, aber immer produktive Gesellschaft: "Wenn die buddhistischen Weisen recht haben, dass Materialismus den Geist verrohen lässt und das Leben eine Illusion ist, dann ist Joburg der richtige Platz, die Erleuchtung zu erlangen. Entweder erlaubst du der Gefahr, deine Psyche zu vergiften und deine Seele abzustumpfen, oder du lernst, tapfer zu sein und der Aussicht deiner eigenen Auslöschung ins Gesicht zu lachen. Das mag nicht unbedingt sehr weise sein, ist aber eine feine Lebenshaltung."

Bronwyn stoppt ihr Auto vor einer roten Ampel. Durch das offene Fenster kauft sie eine Zeitung. Der schwarze Verkäufer gibt ihr das Wechselgeld. Er lächelt.

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