"Eine Aussicht wie auf der Panorama-Postkarte", murmelt mein Wanderkollege neben mir. Recht hat er: Wir stehen auf einer Wiese am Hang des Wilden Kaisers in Tirol in ca. 700 Metern Höhe. Unten blitzen die Dächer des Dorfes Going, oben thronen Tannen- und Fichtenwald und schneebedeckte Gipfel. Zusammen mit Guide Manfred streifen wir mit zwei weiteren Naturfreunden einige Stunden lang durch die Tiroler Flora und Fauna. Der sportliche Mittdreißiger arbeitet hauptberuflich als Fitnesstrainer im Hotel Stanglwirt, neuerdings führt er nach einer vierwöchigen Ausbildung Gäste durch die Natur seiner Heimat. In insgesamt 24 Nature Watch Hotels in Tirol werden diese Touren angeboten. Das Konzept: Ein versierter Führer zeigt die Schönheit der Natur - und kommt gerne selbst ins Schwärmen.
Mit leuchtenden Augen präsentiert er am ersten Halt unser Werkzeug, das jeder am Anfang der Tour bekommen hat: ein Swaroski-Fernglas, mit dem man nicht nur in die Ferne schauen kann, sondern umgedreht die perfekte Nahaufnahme von Gräsern und Blüten bekommt. Schaut mal genau hin, da eröffnet sich eine komplett neue Welt", sagt er über das ganze Gesicht strahlend und kniet sich vor einen Kriechenden Weißklee. In achtfacher Vergrößerung sieht der Klee geradezu bezaubernd aus, eine feingliedrige Schönheit genau genommen. Dazu hat er jede Menge Fachwissen auf Lager. Er erzählt uns von der Veränderung der Natur durch den Menschen, dass die grünen Almen früher dicht bewaldet waren, und wie sich die Flora auf die neuen Bedingungen eingestellt hat: Um den Mähmaschinen, die hier vier Mal im Jahr alles Grün rigoros um eine Etage kappen, zu überlisten, können nur schnell wachsende oder besonders bodennahe Arten bestehen. Der Klee hat sich diesen Bedingungen angepasst und produziert Blüten, die so niedrig wachsen, dass sie nicht vom Mäher erfasst werden – deshalb spricht man vom Kriechenden Weißklee.
Nach einem Exkurs zur erdgeschichtlichen Entwicklung der Gebirgsschichten laufen wir weiter bis ins Moor. Manfred bleibt vor einem Baum stehen und sammelt am Boden schnell ein paar botanische Proben ein. "Hier sehen wir einige spannende Exemplare", sagt Manfred und wühlt Blätter aus seinem Rucksack. "Wir sehen hier eine Reihe von Moose und Flechten, die können wir anhand der Unterlagen bestimmen", sagt er. Über Moose weiß man erstaunlicherweise wenig, obwohl sie faszinierend sind – und widerstandsfähig. Sammelt man beispielsweise Baum- oder Felsenmoose und lässt sie einige Jahre trocknen, können sie selbst nach so langer Zeit weiterwachsen, sobald sie Wasser bekommen.
Die nächste Station unserer Tour ist der Wald. Manfred erklärt uns, dass das, was viele Menschen als Tannenzapfen bezeichnen, tatsächlich die Zapfen von Fichten sind. Man kann die Bäume daran unterscheiden, dass bei der Tanne die Zapfen aufrecht stehen, während sie bei der Fichte hängen.
Nach drei Stunden Pirschen durch den Wald und Wandern über Wiesen sind wir ausgekühlt. Zum Aufwärmen steht eine Jause auf der Berghütte an – mit Tee, Almkäse, Speck und Bündnerfleisch. Auch hier wird Manfred nicht müde zu erklären. Ob Sitzbank oder Fensterladen, er identifiziert mit uns sämtliche Holzsorten, mit denen die Hütte gebaut wurde: von Buche bis Zirbe ist im rustikalen Bauernhaus alles dabei.
Am nächsten Tag brechen wir um halb neun zu unserer nächsten Nature Watch Tour auf, um Steinböcke und Gämse zu sehen. Diesmal streifen wir durch das Kaunertal. Charlie Hafele, der Wirt des Hotels Weisseespitze und großer Jagdkenner, macht die Führungen selbst. Er weiß, wann und wo Wildtiere gesichtet werden können. An diesem Morgen vermutet er einen Steinbock mit seinen Jungen am Ausgang des Stollens am Kaunerberghang. "Absolute Ruhe bitte, wenn wir aus dem Stollen raus kommen" schärft Charlie uns ein, bevor er jedem von uns eine Fackel für den Gang durch den 956 Meter langen Stollen in die Hand drückt. Geduckt tapsen wir durch die Dunkelheit, in der Hoffnung, gleich eine Steinbockfamilie zu entdecken – doch Fehlanzeige. Am Ende des Ganges überzeugt uns in erster Linie ein atemberaubendes Bergpanorama mit Blick auf die Weisseespitze. Es geht weiter, über zwei glitschige Holzlatten balancieren wir über einen Bergbach. Charlie immer vorneweg, und dann plötzlich bleibt er stehen und winkt uns heran: Da steht er, ein imposanter Steinbock, ein paar hundert Meter höher am Bergkamm. "Dasssch is’ a Kapitaler!", ruft er und schiebt noch eine Erklärung hinterher: "80 bis 90 Kilo schwer, stark, gut, das heißt hier bei uns kapital."
Nach dieser Begegnung ist Charlies Wissen noch lange nicht erschöpft. Er referiert über Schneehühner; über Totholz als Lebensraum für 2000 Arten, über die Ernährungsgewohnheiten des Steinadlers, er zeigt uns einen Tannenhäher, der in Tirol Zirbengratsch heißt und zwei weitere Steinböcke und zwei Gämse. Als wir den Abstieg ins Tal beginnen, hat er uns mit seiner Euphorie vollends angesteckt. Wir werden wiederkommen, um noch mehr Natur zu entdecken.
Alle Infos und Angebote der Nature-Watch-Hotels finden Sie unter: www.nature-watch.at