Stefan Conrad rennt hangabwärts und diktiert sich die Schritte: "Lauf, lauf, lauf!" Hinter ihm rutscht Fallschirmseide über den Schnee.
Wie ein schwerer Vogel brauchen Gleitschirm und Pilot Anlauf, bis sie schweben. Mit einer Linkskurve windet sich das Fluggefährt dann aus dem
Schatten des 3451 hohen Piz Corvatsch und ist mittendrin: im Tal des Oberengadin und im Malojawind.
Wie hineingegossen nimmt der Silvaplaner See fast die gesamte Breite des Hochtals ein, gute anderthalb Kilometer. Die Wasseroberfläche changiert
zwischen türkis und schlumpfblau, weiß garniert mit kleinen Schaumkronen.
Die Schnüre des Gleitschirms pfeifen leise und vibrieren, als wollte sich der Wind an ihnen hörbar machen. Conrad, 28-jähriger Präsident des
Gleitschirmclubs Malojawind, zwirbelt sich geschickt mit Thermik und Aufwind ein paar Meter in die Höhe. Wie eine Marionette hängt er jetzt gute 200 Meter
über der Engadiner Seenplatte. Fichten- und Lärchenwald bilden ein dunkelgrünes Band an den Ufern von Silser, Silverplaner und Champfèrer See, umrahmt von
Berggipfeln, die wie gemalte Requisiten Richtung Horizont stehen. "Gegen zwei Uhr nachmittags erreicht der Malojawind seinen Höhepunkt mit bis zu 60 Stundenkilometern", erläutert Conrad den Tagesablauf des Winds.
"Das ist für uns Gleitschirmflieger zu schnell, wir starten also möglichst früh, gegen elf, wenn der Wind antanzt."
Wie die meisten thermischen Winde ist auch der Malojawind ziemlich pünktlich, vorausgesetzt die Sonne scheint. Und weil dieser Wind vom Oberengadin
aus gesehen vom Dorf Maloja her kommt, ist er nach ihm benannt. Eigentlich entsteht er jedoch im steilwandigen Nachbartal, dem Bergell. Dort erwärmen
sich die Luftschichten in Bodennähe besonders schnell, ab etwa zehn Uhr steigen sie auf, ziehen Luft nach und sorgen so für einen Wind, der hangaufwärts
weht. Gegen 17 Uhr reicht die Sonneneinstrahlung nicht mehr aus, der Wind schläft ein.
Windspiele machen süchtig
So ein thermischer Wind bläst auch den Malojapass hinauf. Am Hang nimmt der Wind Fahrt auf. Er schubst pralle Radler-Hinterteile in glänzenden
Lycras auf den 13 Haarnadelkurven der Passstraße an. Er überfliegt röhrende Postbusse. Er rauscht durch den Fichtenwald, vorbei an Farnen und
Sumpfdotterblumen. Dann fällt er im Dorf Maloja ein. Zwischen den Gipfeln Piz de la Margna mit 3159 Metern und Piz Lunghi mit 2780 Metern leben
etwa 300 Einwohner am Talbeginn des Oberengadin.
Oberhalb von Maloja entspringt der Inn, auf rätoromanisch "En" genannt, und gibt dem Oberengadin seinen Namen. Er wird vom Malojawind begleitet,
das ist für einen Bergwind ein erstaunlicher Weg. Denn normalerweise müsste dem Wind, in Maloja angelangt, von der anderen Seite herauf ein anderer
Talwind entgegenkommen und ihn bremsen. Aber, Pustekuchen! Der Malojapass ist kein normaler, sondern ein "einseitiger" Pass,
und der gleichnamige Wind ist - für einen thermischen Wind - eben auch nicht normal und weht von Juli bis September talabwärts.
Über den Silser See und das Dörfchen Sils pustet er hinweg und tollt am Silvaplaner See mit Seglern, Wind- und vor allem Kitesurfern um die Wette.
Wie rote und neongrüne Halbmonde schweben die Drachen am Sportzentrum Mulets vor der Bergkulisse des Piz Corvatsch auf und ab, die davon gezogenen
Bretter schlitzen Fahrspuren in den Silvaplaner See. Man könnte sich fast an der Südsee wähnen, das sonnige Blau erinnert an Ferne. Bloß müsste man
die eindeutig bekreuzte Flagge, die neben der Windhose flattert, und die dicken Neoprenanzüge der Sportler übersehen.
"Die Engadiner Seen werden höchstens 17 Grad warm", bemerkt Stefan Popprath, "Das ist besser so, sonst wären es Badeseen und Wassersport wäre
bestimmt verboten." Der gelernte Koch und Gründer der ersten Schweizer Kiteschule überlässt mittlerweile den 13 Angestellten das Unterrichten und
den Materialverleih. Er hatte in den 90ern seine Leidenschaft zu Drachen entdeckt und die erste Schweizer Kiteschule gegründet. Auch heute liebt
er den Wind noch, kommt aber leider nur noch selten selbst aufs Wasser. "So ist das, wenn man sein Hobby zum Beruf macht."
Über dem See hängt der Gleitschirm, wie in Zeitlupe dreht und wendet er sich im Wind, er ist auf 50 Meter über die Wasseroberfläche herabgeflogen.
Er landet zwischen Glocken- und Butterblumen direkt am Ufer des Silvaplaner Sees. Die Fallschirmseide rauscht noch einmal, bevor sie schlaff in sich
zusammen fällt. "Schlimm ist bloß, dass Windspiele süchtig machen", lacht Conrad und rollt
eilig den Schirm zu einem kleinen Paket, immerhin 25 Kilo wiegt es.
Dann wird er noch einmal auf den Gipfel fahren und vor Fluglust jauchzen, für einen Flug reicht es noch bis zum Höhepunkt des Malojawinds.
Tipps fürs Oberengadin
Reisezeit
Das Oberengadin hat ein recht extremes Klima, die Sommer sind kurz, die Winter schneereich. Auch der Herbst ist reizvoll,
glühende Lärchenwälder lösen dann die Blüten der Bergwiesen ab. Berühmt ist das Tal für sein besonderes Licht und die Farben und die
Nähe zu Italien. Und natürlich unter Windfreunden für den Sommerwind Maloja.
Anreise
Wer nicht mit dem Auto fährt, kann nach Zürich per Flugzeug oder Zug, von dort aus fahren Züge bis nach
St. Moritz/Bahnhof.
Von dort aus fahren Busse in die umliegenden Dörfer wie Silvaplana und Maloja, www.postauto.ch
Übernachten
Julier Palace. Daniel Bosshard und sein Team setzen auf jugendliche Atmosphäre. Vor allem für Sportler ist das große Haus am
Silvaplaner See eine passende Adresse. Die "Pizokeln", traditionelle Teigwaren mit Speck und Gemüse, im hauseigenen Restaurant
sind vorzüglich. Silaplana, Via Maistra 6, Tel. 081 828 96 44, www.julierpalace.com
Essen und Trinken
Chesa Alpina Wer sich am Panoramablick vom Turm Belvedere in Maloja aus sattgesehen hat, bummelt in den Bergeller Garten.
Auf der sonnigen Terrasse schaukeln die Hängepetunien nur ganz leicht im Wind, der Maronenkuchen ist saftig und erfrischend ungesüßt,
der Mürbeteig der Engadiner Nusstorte köstlich. Maloja, Tel. 081 824 31 12, www.chesa-alpina.ch
Latteria Bregalia. Die hübsche Milchhalle an der Hauptstraße in Maloja verkauft vor allem Käse aus der Region. Wer sich noch
schnell den Wanderproviant zusammenstellen möchte, findet auch Obst und Brötchen. Maloja, Tel. 081 822 12 40, www.latteriabregaglia.ch
Unternehmen
Gleitschirmfliegen. Albert Brülisauer vermittelt oder fliegt eigens Tandemflüge, er ist Mitglied im Gleitschirmclub Malojawind.
Camping Plauns, Pontresina, Tel. 081 842 6285, www.campingplauns.ch oder
Kite-Sailing-School-Silvaplana. Anfänger und Könner sind hier gleichermaßen gut aufgehoben, um mit dem Malojawind zu spielen,
Kurse am besten übers Internet reservieren. Silvaplana, Sportzentrum Mulets, Tel. 81 828 97 67, 2-Tageskurs (6 Std.) ab 200 Euro. www.kitesailing.ch
Wandern und Radfahren. Im ganzen Oberengadin gibt es lange und kurze Exkursionen mit oder ohne Bergbahnanschlüssen und
Radverleihzentren. Die lokalen Touristenbüros informieren gut und gerne.
Nietzschehaus. Hier lebte der Philosoph ab 1881 mehrfach zur Untermiete und haderte trotz des sonnigen Klimas mit den
thermischen Winden und der Welt. Sils-Maria, Tel. 081 826 53 69, www.nietzschehaus.ch
Weitere Infos zur Region