Viele Touristen, die einmal die Transsibirische Eisenbahn erleben wollen, fahren von Moskau nach Peking oder umgekehrt. Doch genau genommen biegen sie in Ulan-Ude, kurz hinter dem Baikal-See von der Transsib-Strecke ab auf die Transmongolische Eisenbahn. Autor Martin Kaluza hat sich auf dem von Touristen weniger befahrenen östlichen Teil umgesehen und ist ausgestiegen. Er berichtet von Räucherfisch, Helden der Ingenieurskunst und verzierten Holzhäusern. Welche Stopps sich entlang der Strecke lohnen und warum, verrät er im Folgenden.
Irkutsk (Kilometer 5185, Moskauer Zeit + 5 Stunden)
Wäre der Aufstand der Dekabristen nicht gescheitert, die Weltgeschichte wäre ganz anders verlaufen. Rund 600 Adlige und Offiziere verweigerten im Dezember 1825 dem neuen Zaren Nikolaus I. die Gefolgschaft und wollten die Leibeigenschaft abschaffen. 121 dieser adligen Revolutionäre wurden nach Sibirien verbannt, 13 Frauen folgten ihnen freiwillig. Sie verschwanden allerdings nicht etwa aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sie führten in der Landwirtschaft Verbesserungen ein, stellten den Bürgern ihre Bibliothek zur Verfügung und unterrichteten sie in Mathematik, Sprachen Medizin und Musik. Wir besuchen das Haus des Großherzogs und Dekabristen Sergei Wolkonski und staunen.
Der ehemalige Verbannungsort ist schon lange ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum. Vor hundert Jahren galt Irkutsk gar als das Paris Sibiriens. Die Stadt beherbergt mehr als ein halbes Dutzend Universitäten, und wer durch die Straßen des Zentrums zieht, sieht noch viele verzierte Holzhäuser, die für Sibirien so typisch sind.
Am Abend sind wir zu Gast bei Tatiana Timofeevna in der Karl-Marx-Straße. Ihr Vater war Ingenieur und hatte eine angesehene Stellung bei der Eisenbahn. Die Wohnung, in der sie seit ihrer Kindheit lebt, war eigens für Eisenbahner gebaut worden. Tatiana ist pensionierte Zahnärztin, ihre Rente bessert sie sich durch die Bewirtung von Reisegruppen auf. Heute geht ihr der Enkelsohn zur Hand. "Das erste Mal bin ich 1954 mit der Transsib gefahren, als Vorschulkind. In den Ferien sind wir erst nach Moskau gefahren und von dort ans Schwarze Meer. Allein die Fahrt nach Moskau dauerte sieben Tage", sagt Timofeevna. Die An- und Rückreise war so lang, dass der Familie nur wenige Tage am Meer blieben. "Damals hatten die Züge noch Dampflokomotiven. Als wir ankamen, waren wir schwarz vor Ruß." Mit der Transsib ist sie schon 15 Jahre nicht mehr gefahren – ihre Tochter, die in Moskau lebt, besucht sie lieber mit dem Flugzeug.
Baikalsee (Port Baikal, Kilometer 5311, Moskauer Zeit + 5 Stunden)
So bekannt der Baikalsee ist, so dünn ist die Gegend an seinem südlichen Ende besiedelt. Entlang der alten Transsib-Strecke, heute eine Nebenlinie, die an der Mündung der Angara endet, steht hin und wieder ein kleines Dorf aus Holzhäusern. Bei einigen hat man sich nicht einmal mit dem Namen Mühe gegeben, sie heißen "Kilometer 107" oder "Kilometer 80". Die eingleisige Strecke endet in Port Baikal. Das gegenüber am Ufer der Angara gelegene Listwjanka ist ein beliebter Ausflugsort für Urlauber und Tagesgäste aus dem eine Autostunde entfernten Irkutsk.
Der See ist, das erfahren wir im Baikal-Museum, so groß wie Belgien, hat aber mit 1.800 Metern deutlich mehr Tiefgang. Er ist das größte Trinkwasserreservoir der Welt und Lebensraum für viele endemische Arten. Besonders beliebt scheinen der Omul (ein vor allem geräuchert ausgesprochen schmackhafter Fisch) und die Baikalrobbe zu sein – die einzige bekannte Robbenart, die im Süßwasser lebt. Immer wieder ist zu beobachten, wie neben ihnen auch Touristen im See baden und von Reiseveranstaltern dafür mit Diplomen ausgestattet werden. Unverständlich, denn selbst bei sommerlichen Lufttemperaturen ist der See saukalt.
Ulan-Ude (Kilometer 5640, Moskauer Zeit + 5 Stunden)
Ulan-Ude, die Hauptstadt der Republik Burjatien, ist so groß wie Bochum, wurde 1666 gegründet und ist damit eine der wenigen alten Städte entlang der Transsibirischen Eisenbahn. Hier zweigt eine andere wichtige Bahnlinie ab: die Transmongolische Eisenbahn, die über Ulan-Bator nach Peking führt. Die Burjaten verstehen sich als Vielvölkerstaat, und sie legen großen Wert darauf, dass hier über 120 Volksgruppen verschiedener Konfessionen friedlich zusammen leben – Orthodoxe, Juden, Buddhisten und Atheisten.
Und die Stadt ist hübsch: Eine bunte Mischung restaurierter Stein- und Holzhäuser säumt die Fußgängerzone der Altstadt. Zu den architektonischen Highlights zählt die in Form einer Jurte gebaute Burjatische Nationaloper. Den Sowjet-Platz ziert ein 7,70 Meter hoher Lenin-Kopf aus Granit, der für die Weltausstellung 1967 in Montreal hergestellt wurde, dann lange keinen Abnehmer fand und schließlich vier Jahre später hier landete – vielleicht auch das ein Ausdruck burjatischer Toleranz.
Chabarowsk (Kilometer 8532, Moskauer Zeit + 7 Stunden)
Chabarowsk, eine hügelige Großstadt am Ufer des Amur unweit der chinesischen Grenze, hat eine kilometerlange Uferpromenade und ein erstaunlich vielfältiges Nachtleben. Auf der Suche nach einer Kneipe stolpern wir kurz in den Bazar, einen Edelclub, in dessen Vorraum uns eine Art Fakir im Schneidersitz begrüßt. Wir fühlen uns underdressed. Die Harley Davidson-Bar, an deren Außentresen sich Biertrinker mit Cowboyhut unter Heizpilzen wärmen, lassen wir ebenfalls links liegen. Schließlich landen wir im Beer House, einem holzgetäfelten Keller, in dem es deutsches und russisches Bier gibt. Im Hintergrund laufen Udo Jürgens im Malle-Remix und "Marmor Stein und Eisen bricht". Die Russen, das ist uns in dieser Gegend schon aufgefallen, stehen auf deutsche Kultur – vor allem das Bier. Das Beer House ist beileibe kein Expat-Laden. Außer uns sind hier nur Russen.
Chabarowsk könnte ein großartiger Ausgangspunkt für Erkundungen der Naturschutzgebiete entlang des Amur sein. Wenige Kilometer hinter der Stadtgrenze fängt der Urwald an, und weiter flussabwärts, dort wo die Gegend kaum noch besiedelt ist, liegt der Lebensraum des Amur-Tigers, auf den ganz Russland stolz ist. Allein, es kommen so wenige Besucher in die Gegend, dass man noch nicht recht auf Tourismus eingestellt ist. Das Besucherzentrum im unaussprechlichen Bolschechechzirskij-Naturpark wirkt ein bisschen betulich. Massen stechfreudiger Mücken machen selbst kurze Spaziergänge im Urwald zu einem nervösen Unternehmen, das Schutzkleidung und reichlich Chemie erfordert.
Für Transsib-Liebhaber ist das Museum am Fuß der Eisenbahnbrücke über den Amur das Highlight. Die früher 2,6 Kilometer lange Brücke schloss 1916 die letzte Lücke auf der Strecke von Moskau nach Wladiwostok. 1999 wurde sie durch eine 3,8 Kilometer lange Auto- und Eisenbahnbrücke am gleichen Ort ersetzt. Eine kleine Ausstellung dokumentiert den Bau der alten Brücke. Vor dem Haus stehen Waggons, Lokomotiven und Triebwagen. Prunkstück der Sammlung ist ein Bogenglied aus der originalen Brücke. Die Amurbrücke, erklärt uns Museumsleiter Viktor Parschin, wurde auf Weltausstellung in Paris ausgezeichnet. "Heute erinnert man sich an Gustave Eiffel, aber wer erinnert sich an die vielen Ingenieure, die die großartigen Brücken entlang der Transsibirischen Eisenbahn gebaut haben?" Ein Satz, von dem ich glaube, dass ich ihn fast wörtlich einmal bei Tschechow gelesen habe.
Wladiwostok (Kilometer 9288, Moskauer Zeit + 7 Stunden)
Man muss vom Bahnhofsgebäude bis zum Ende des Bahnsteigs eins laufen, um den Obelisken zu sehen. Unter dem doppelköpfigen Adler, dem Wappentier Russlands, prangt zu allen Seiten des Sockels die Zahl 9288. So viele Kilometer sind es auf dem Schienenweg nach Moskau: Hier in Wladiwostok endet die Transsibirische Eisenbahn. Der Bahnhof liegt nur ein paar Schritte vom Hafen entfernt. Die Eisenbahn verbindet buchstäblich Europa mit dem Pazifik.
Lilia Vladimirovna Plotnikova trägt einen gelb-weißen Sonnenhut mit Schleife, eine kurzärmelige Bluse und eine Perlenkette. In einem hohen Singsang erklärt sie, dass sie die einzige deutschsprachige Fremdenführerin in der Stadt sei. Und die ist mit 600.000 Einwohnern nicht klein. "Man konnte hier früher kein Deutsch studieren", sagt sie. Wozu auch? Wladiwostok war lange Zeit militärisches Sperrgebiet. Von 1958 bis 1991 durften Ausländer die Stadt nicht betreten, und selbst Russen von auswärts brauchten eine Genehmigung. Einzig Englisch konnte man damals lernen, weil es für die Seefahrt nützlich war. "Eine Zeitlang gab es eine zweite deutschsprachige Fremdenführerin", sagt Lilia. Das war ihre Enkelin. "Doch die ist inzwischen nach Europa gezogen, nach Sankt Petersburg."
Noch heute ist Wladiwostok ein sicherer Tipp für Weltenbummler, die andere Touristen im Urlaub lieber meiden. Von Moskau aus gesehen könnte die Stadt kaum abgelegener sein. Die Anreise aus der Hauptstadt ist selbst mit dem Flugzeug beeindruckend: Achteinhalb Stunden ist man nonstop unterwegs, bevor man auf dem erst 2012 eröffneten neuen Flughafen ankommt. "Nach der Oktoberrevolution dauerte es fünf Jahre, bis die Sowjetmacht Wladiwostok erreicht hatte", sagt Lilia.
Wie viele Städte entlang der Transsib ist Wladiwostok recht jung, 1860 wurde es gegründet. Der Architektur sieht man an, dass sie russischen Einfluss am Pazifik zeigen sollte. Die Straßenzüge und Geschäftsgebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende könnten genauso gut im europäischen Teil Russlands stehen. Auch der Bahnhof ist so eine Jugendstil-Perle. Die Innenwände sind gelb getüncht, mit reichlich Stuck verziert, und an den Decken prangen Gemälde, die die Wahrzeichen entlang der Strecke von Moskau bis hier darstellen. Die wartenden Fahrgäste verharren still in ihren Stuhlreihen. Schritte hallen wie in einer Kathedrale.