Im Sommer kommen die Null-Achter. 08, das ist in Schweden die Vorwahl von Stockholm (und, nebenbei, der Name einer Rohrzange, deren Backen sich besonders weit öffnen). Die Null-Achter, das sind die Leute vom Festland. Die aus der Hauptstadt, die immer so viel reden und essen und trinken. Sie kommen nach Gotland, weil sie dort finden, was sie daheim nicht haben: Ruhe, Weite und Sonne, viel mehr Sonne als im Rest des Landes.
Die Festland-Schweden und wir - zwei Welten, so sehen das viele Gotländer. So sieht es auch Verena Harbort, obwohl sie noch gar nicht lange auf der Ostseeinsel rund 90 Kilometer vor dem Festland wohnt. 2005 zog sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus Kiel dorthin. Und erfüllte sich damit einen Traum: ein Leben in einer intakten Dorfgemeinschaft inmitten von Wäldern und Weiden. Dazu die betörenden Meerblicke, die Gotland seinen Bewohnern bietet. Und seinen Besuchern. Verena war so begeistert, dass sie sich um einen Job als Gotland-Guide bewarb. Auch wenn ihr manchmal spitze Bemerkungen über die "Null-Achter" entfleuchen, im Grunde liebt sie nichts mehr, als Besuchern ihre neue Heimat zu zeigen.
Zum Beispiel Visby, die alte Hanse- und Hauptstadt. Im Zentrum ist Visby ein ummauertes Dorf geblieben, eine Ansammlung niedriger Holz- und Steinhäuschen, von denen keines die imposante Stadtmauer mit mehr als 30 Türmen überragt. Die einzigen Ausnahmen sind die alten Packhäuser der hanseatischen Kaufleute. Die ehemaligen Lagerhäuser mit ihren stolzen Treppengiebeln sind bis heute weit über die Ostsee hin sichtbare Wahrzeichen. Und die Türme des Mariendoms. Verena Harbort schwärmt von den bauchigen, fein gedrechselten hölzernen Turmhauben der Kirche. Sie versteht etwas davon. Ihr Mann Jan ist Holztreppenbauer und Feintischler. Gegen Wind und Wetter werden die Hauben mit einem speziellen Sud aus Fichten- und Tannenwurzeln imprägniert.
"Eine lokale Erfindung", sagt sie und zeigt auf den knubbeligen, bei Hitze weichen Teer an einem der benachbarten Bohlenhäuser. Ebenfalls eine Besonderheit. "Keinen einzigen Eisennagel braucht man für den Bau eines solchen Hauses", erklärt Verena. "Alles gotländische Stecktechnik!" Dem Faible für solides Handwerk und klare Formen begegnet man in Visby an jeder Ecke. In vielen der schlichten Häuschen mit den bunten, sorgfältig gearbeiteten Holztüren und den Rosenstöcken vor den Fenstern haben sich Goldschmiede, Keramiker und Schafsfell-Designer - sie verarbeiten die dunkle Wolle der Gotland-Pelzschafe - Ateliers und Werkstätten eingerichtet. Drumherum Cafés, kleine Galerien und Restaurants. Denn auch die Portemonnaies der "Null-Achter" können sich besonders weit öffnen.
Dabei ist Gotland insgesamt erschwinglich und bodenständig geblieben. Außerhalb von Visby erst recht. Dort bekommt man in ehemaligen Höfen, umgebauten Scheunen oder Ställen vom Bio-Safranpfannkuchen bis zum Fertighaus eine Menge angeboten. Ein echter Gotland-Urlaub beginnt für viele ohnehin erst, wenn man das beschauliche Visby hinter sich gelassen und ein noch beschaulicheres Ferienhaus auf der Insel gefunden hat, in der Nähe der Strände, Steilklippen und Wäldchen. "Kriechwälder" nennt Verena Harbort die Dickichte aus knorrig-kurzen, windgeformten Kiefern, die auf der ganzen Insel wachsen. Und sie hat einen Tipp für alle, denen Gotland vielleicht noch nicht abgeschieden genug sein sollte: Fårö, die kleine Insel im Norden.
Nichts als Sonne und Wind, winzige Holzhäuschen, schwarze Schafe und die berühmten Raukar, rätselhaft anmutende Kalksteinsäulen vor der Küste. Die Landschaft der von nur wenigen Menschen bewohnten Insel strahlt, noch mehr als Gotland, etwas Sanft-Entrücktes aus. Der Regisseur Ingmar Bergman erkor sie zu seinem Hauptwohnsitz und drehte etliche Filme dort. Heute gibt es ein kleines Film-Museum, das "Bergman-Safaris" zum Wohn- und zu den Drehorten des Meisters veranstaltet. Einmal im Jahr richtet es eine "Bergman-Woche" aus. Gewöhnlich ist es die einzige, in der die Insel viele Besucher hat. Ansonsten findet auf Fårö auch der quasseligste Null-Achter zur Ruhe.