
Für die Zeit im März und April, in der die Tage heller werden, Schnee noch das Land bedeckt, aber der Frühling sich mit schmelzendem Eis auf den Flüssen ankündigt, gibt es in Nordschweden ein Wort: Gijrradálvvie. Das ist Samisch und bedeutet so viel wie "Frühlingswinter" – einer von drei Wintern, die die Samen kennen. Die anderen sind der "Herbstwinter", dunkel und kalt, Ende November bis Ende Januar, und der "Wahre Winter", noch kälter, aber heller, viel Schnee, bis Ende Februar. "Gijrradálvvie vereint das Beste aus allen acht samischen Jahreszeiten. Neben den drei Wintern kennen wir nämlich noch Frühling, Frühlingssommer, Sommer, Herbstsommer und Herbst", sagt Anki Berg vom Västerbottens Museum. "Es ist hell, aber nicht heiß, es gibt keine Mücken, und man kann wunderbar in der Sonne Ski laufen. Was will man mehr?" Mit dem Skifahren können Besucher gleich vor dem Museum anfangen: Gammlia heißt das riesige, von Langlaufloipen durchzogene Waldstück, das sich bis an den Stadtrand erstreckt. "Viele Gäste machen das so", sagt Anki Berg. Erst den ältesten Ski der Welt besichtigen, ein 5000 Jahre altes, nahezu schwarzes Brett, das zur Sammlung gehört, und dann auf Tour gehen. Die enge Verbindung von Kultur, speziell der samischen, und Natur erleben Besucher der 118 000-Einwohner-Stadt Umeå, die inmitten der Waldwildnis der Provinz Västerbotten am Ufer des Flusses Umeälven steht.
Diese Nähe soll auch das größte Ereignis der Stadtgeschichte prägen, auf das sich die Einwohner schon seit geraumer Zeit vorbereiten und freuen: das Jahr als Europäische Kulturhauptstadt 2014, dessen Symbol ein lachendes Herz ist. Die samischen Jahreszeiten bilden das zeitliche Gerüst des Programms, Startschuss für das Kulturjahr ist der Beginn des "Wahren Winters" am letzten Januar-Wochenende. Tausende von Rentieren, traditionell die Lebensgrundlage der Samen, sollen dann die Ufer des gefrorenen Umeälven und Teile der Stadt bevölkern. Umeås experimentierfreudige Norrlandsoperan bringt dazu ein samisch-chinesisches Musikprojekt auf die Bühne: Die samische Tradition der Joik-Lieder und Kehlgesänge asiatischer Völker sollen in eine gemeinsame Performance einfließen. Und in den Erdhäusern und Zelten der Freilichtausstellung des Vesterbottens-Museums erhält man in der "Samischen Woche" (1. bis 9. März) Anschauungsunterricht in der traditionellen Lebensweise eines der letzten Naturvölker Europas. Nicht jeder in Umeås Kulturszene teilt den Enthusiasmus, mit dem die samische Minderheiten-Kultur nach Jahrzehnten der Diskriminierung nun gepriesen wird: "Da hat man wohl nach einem exotischen Aufhänger gesucht", sagt der Galerist Stefan Andersson, dessen Freiluft-Skulpturenpark moderne internationale Kunst präsentiert. "Mit samischen Jahreszeiten hat unser Programm nichts zu tun, wir stellen Künstler aus Kuba, England und Schweden aus."
Doch dass die Natur der Stadt ihren Stempel aufdrückt, dem kann sich auch Andersson nicht entziehen. Manche seiner Skulpturen auf dem Areal des ehemaligen psychiatrischen Krankenhauses sind auch im "Frühlingswinter" noch halb im Schnee versunken, andere verlieren sich zwischen den schlanken Birken- und Kiefernstämmen des waldigen Geländes. Selbst das Stadtzentrum wirkt noch immer ein bisschen wie ein frisch errichteter Vorposten der Zivilisation: niedrige Häuser, einige noch aus Holz, säumen die Straßen, in der Fußgängerzone türmt sich geräumter Schnee, die Bürgersteige liegen unter dicken Schichten aus Splitt und Eis. Den eigentümlichsten Natureindruck aber hinterlässt eine Maßnahme, die die Stadt nach einem verheerenden Brand im Jahre 1888 ergriff: Rund 3000 Birkewurden seitdem als Funkenfänger zwischen die Häuser und entlang aller Straßen gepflanzt – ein Stück nordischer Wildnis-Anmutung mitten in der Stadt.
Da passt es, dass auch die modernen Gebäude des Campus der Künste am Umeälven-Ufer mit ihrer Verkleidung aus unlackierten Kiefernholz-Paneelen auf den sie umgebenden Naturraum verweisen. Hinterwäldlerisch ist Umeås Uni deswegen aber noch lange nicht, im Gegenteil: Die Studiengänge für Design und Architektur genießen Weltruf. Im "Hum Lab", einem Laboratorium mit interaktivem 3-D-Raum, betreiben angehende Designer virtuelle Experimente. Und der benachbarte, markante Turm der Kunsthalle Bildmuseet gilt als einer der führenden Ausstellungsorte für moderne Kunst in Schweden. Dessen Programm für die Wintermonate ist Umeå-typisch: Neben einer großen, international bestückten Surrealismus- Ausstellung zeigt es auch samische Werkschauen. Weltläufigkeit inmitten der Provinz, Hightech, umgeben von Wildnis – das sind die Gegensätze, die den Reiz des Kulturhauptstädtchens ausmachen. Der "Frühlingswinter" steuert da nur ein bisschen Sonne und Tauwetter bei.
Ansehen
Västerbottens Museum:
Das Freilichtdorf zeigt samische Traditionen, das Museum erzählt die Geschichte Umeås.
Gammlia, www.vbm.se
Norrlandsoperan:
Die ambitionierte 1974 gegründete Oper führt Klassiker und Zeitgenössisches auf, hat ein Restaurant und eine Bar.
Operaplan 5, www.norrlandsoperan.se
Galerie Andersson/Sandström:
Skulpturen internationaler Künstler sind auf dem Gelände einer ehemaligen Psychiatrie-Klinik zu sehen.
Aktrisgränd 34, www.gsa.se
Hum Lab:
Das High-Tech-Designer-Labor steht auf dem Campus der Künste.
Östra Strandgatan 30B, www.humlab.umu.se
Bildmuseet:
Ist eine der führenden Kunsthallen des Landes und gehört ebenfalls zur Universität Umeås.
Schlafen
Hotell Gamla Fängelset
Das historische Gemäuer beherbergt schon seit 1861 Gäste – zunächst als Gefängnis, eines der fortschrittlichsten und humansten seiner Zeit. Liebevoll renoviert, ist es heute eine stimmungsvolle Ein-Stern-Museums-Jugendherberge mit Hotelqualität.
Storgatan 62, Tel. 0046-90-10 03 80, www.hotellgf.se
Hotel Winn
Das erste Haus am Platz wurde extra fürs Kulturhauptstadtjahr gebaut.
Skolgaten 64, Tel. 0046-90-71 11 00, www.nordicchoicehotels.se
Infos zu Umea
Umea
Auskünfte zu Stadt und Umland: www.visitumea.se
Kulturhauptstadtjahr
Auskünfte zum Programm: www.umea2014.se
Anreise
Der hohe Norden ist näher als gedacht: Scandinavian Airlines (SAS) fliegt täglich von zahlreichen deutschen Flughäfen nach Stockholm, von dort gibt es mehrmals am Tag Anschlussflüge ins rund eine Stunde entfernte Umeå: www.flysas.com