Ein schriller Dauerton treibt die Gäste in den Innenhof. Sie stehen unter der Linde, sitzen auf der Treppe, das Weinglas in der Hand, schnuppern an den Kräuterpflanzen vor den Küchenfenstern, plaudern, warten. "Fehlalarm!", ruft der Hausmeister. "Kennen wir ja schon. Ein Kinderstreich, mal wieder!" Und einer der ganz wenigen Momente, die klar machen, dass das Zusammenspiel von Hotel und Flüchtlingsunterkunft doch nicht ganz reibungslos verläuft. Es begann mit einem nicht genutzten großen Haus im Augsburger Domviertel, einer eher konservativen Nachbarschaft, einer Anfrage der Regierung von Oberbayern nach neuen Räumen für Flüchtlinge und Künstlern auf der Suche nach Ateliers mit einer außergewöhnlichen Idee: Alle unter ein Dach zu bringen – im "Grandhotel Cosmopolis". 2011 überzeugten sie den Pfarrer der Diakonie, zu der das einstige Altenheim gehörte, von ihrem Plan und begannen mit der Sanierung des Hauses. Zwei Sommer und 100 000 ehrenamtliche Arbeitsstunden später zogen die ersten Bewohner ein, und das Grandhotel für "Gäste mit und ohne Asyl" im Springergässchen eröffnete.
Auf drei Etagen betreibt die Regierung von Schwaben seit 2015 eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge, auf den anderen drei Etagen übernachten Hotelgäste in 16 Zimmern, die das Grandhotel-Projekt der Künstler dadurch mitfinanzieren. Café, Bar und Rosengarten sind Treffpunkte für alle Bewohner, im Beautysalon lassen sich Flüchtlinge wie Hotelgäste Nägel und Haare machen, in den Fitness- und Tanzkursen toben alle, irgend jemand spielt immer auf einem der drei Klaviere, in den großen Konzerten im Foyer sitzen schwäbelnde Augsburger neben Touristen aus Tokio, Künstlerfreunden aus Israel und Berlin, syrischen Kindern, Schülerpraktikanten und Familienvätern aus Tschetschenien oder Eritrea. "Als wir anfingen, dachten alle, wir wären autonome Spinner, Hippies oder zumindest Hausbesetzer", sagt Susa Gunzner-Sattler, Licht- und Webkünstlerin, die zu den etwa 20 Augsburgern gehört, die von Anfang an in dem Projekt mitarbeiten: "Wir wollten nicht endlos diskutieren, sondern etwas tun, von dem alle glauben, dass es eigentlich nicht möglich ist." Genau dieser Wille zur "konkreten Utopie" (Hotelprospekt) eint die Gruppe und etwa 100 Freiwillige seither: "Wir hatten keine Ahnung, weder von Renovierung und Hotelbetrieb noch von Flüchtlingsberatung oder vom Organisieren der Freiwilligenarbeit", sagt Susa. "Wir sind Künstler. Aber dafür machen wir das hier gar nicht so schlecht."
Die Grüne Palme verleihen wir den Betreibern des Grandhotels nicht nur für ihr soziales Engagement. Sie stehen stellvertretend für etwas, das Menschen auf Reisen und auch Reiseveranstalter oft bewegt und beschäftigt: Respekt vor fremden Kulturen, Mitmenschlichkeit. Noch dazu haben es die "Cosmopolisten" geschafft, das Hotel nicht nur zu eröffnen, sondern über die Jahre immer wieder aufs neue mit Leben zu füllen: Konzerte, Vorträge, Aktionen, Ausstellungen, Nachbarschaftsfeste.
Inzwischen sind die Gründer als gut gebuchte Redner selbst zu Reisenden geworden und nach wie vor verblüfft, was ihr Projekt auslöst. Delegationen besichtigen das Haus. Gruppen in Wien, Graz, München, Hamburg, Berlin, Warschau wollen Ähnliches auf die Beine stellen: eine Unterkunft für Reisende, die eine Alternative zu langweiligen, anonymen Kettenhotels suchen, ein Refugium für Flüchtlinge, die hier vorübergehend zur Ruhe kommen können und ganz nebenbei Sprache und Kultur kennenlernen. Für alle gemeinsam: eine Heimat auf Zeit. Und zwar eine ziemlich gemütliche. Die Kaffeemaschine dampft auf Hochtouren, Käse- und Schokoladenkuchen warten unter Glashauben, auf dem großen Perserteppich spielt ein Kind, Reisegruppen sitzen in Retromöbeln, an den Wänden hängt Fotokunst neben alten Uhren, die Salsa- Musik ist kaum zu hören, alle quatschen. „Na, wie lief die Mathearbeit?“ Junge Flüchtlinge, soeben noch mit Schultaschen unterwegs, rasen mit einer Glocke durchs Treppenhaus: Essen fertig! Wer Hunger hat, geht ins Souterrain und setzt sich an die lange Tafel. Es gibt Pilaw mit Kichererbsen, Mandeln und Rosinen. Einer der afghanischen Flüchtlinge hat gekocht. "Soziale Plastik" nennen die Augsburger ihr Haus, nach der alten Joseph-Beuys-Idee, dass echtes Miteinanderleben allein schon kreativ sein kann. Lena Immler, im Grandhotel für die Küche zuständig, schwärmt "vom lebendigen Organismus, der auf ganz Augsburg und Umgebung ausstrahlt": Psychologen betreuen ehrenamtlich traumatisierte Flüchtlinge, ein Berufsbildungswerk macht die Wäsche, junge Erwachsene im Freiwilligen Sozialen Jahr putzen mit straffälligen Jugendlichen, die ihre Sozialstunden abarbeiten, es wurden Lehrstellen geschaffen, Kinder geboren. Bewohner und Helfer verabschiedeten Flüchtlinge in eigene Wohnungen, planen einen Spielplatz für die Nachbarn, spielen Theater – das alles fast umsonst – und machten nebenbei eine ganze Menge Kunst. Viele der Hausbewohner "mit und ohne Asyl" helfen spontan mit, wenn es etwas zu tun gibt. Manche, Flüchtlinge wie Reisende, wollen einfach nur ihre Ruhe haben. Und nur einer der Hotelgäste war nach seinem Aufenthalt enttäuscht: Er wollte seinen 70. Geburtstag groß feiern. Und hatte sich unter einem Grandhotel doch etwas anderes vorgestellt.