
GEO SAISON: Sie waren auf Expedition im Himalaya, haben riesige Radtouren gemacht und sind von Nordrussland bis Indien gelaufen. Und dann verbringen Sie sechs Monate allein in einer Blockhütte ohne Strom und Wasser am Baikalsee, sechs Tagesmärsche vom nächsten Dorf entfernt. Wie kam es dazu?
Sylvain Tesson: Vorher wollte ich die Zeit nutzen und möglichst viele Kilometer zurücklegen. Dann wurde mir klar, dass die Zeit vielmehr zu geben hat, wenn man an einem Ort bleibt. Der Stillstand gab mir, was mir die Reiserei nicht mehr geben konnte: das Leben intensiv zu spüren. Außerdem wollte ich mir einen Kindheitstraum erfüllen, Stille und Kälte fühlen, zwei Empfindungen übrigens, die immer rarer werden.
GEO SAISON: Was fasziniert Sie so an Sibirien, wo Sie schon mehrfach waren?
Sylvain Tesson: Zum einen die Landschaft, diese Weite. Im Gegensatz zu Europa, das kultiviert und bis zur Unkenntlichkeit geformt ist. Zum anderen mag ich die Russen, ihren Fatalismus und ihre wunderbare Fähigkeit, in der Gegenwart zuleben, fast schon misstrauisch gegenüber dem nächsten Tag.
GEO SAISON: Sie hatten einen großen Vorrat an Wodka, Zigarren, Konserven und 80 Bücher dabei. Wie kriegt man das mitten im Winter in eine abgelegene Hütte?
Sylvain Tesson: Da ich viel reise, bin ich es gewohnt, logistische Dinge zu organisieren. Diesmal war es einfach: Ein Freund transportierte meine Sachen in einem kleinen Laster von Irkutsk zur Hütte.

GEO SAISON: Was hat Ihnen besser gefallen: Das Eisangeln bei minus 30 Grad oder der Sommer, trotz der Mücken?
Sylvain Tesson: Am Baikalsee gibt es deutlich weniger Mücken als in anderen Teilen Sibiriens. Trotzdem gefiel mir der Winter sehr. Der passt einfach besser zu Russland. Das Eis ist eine ganz besondere Welt. Die Beschaffenheit, die Dichte und Risse bilden einen eigenen Kontinent, der leider im Verschwinden begriffen ist. Jede vereiste Oberfläche ist eigentlich schon ein Abschied.
GEO SAISON: Sie sind ohne Kompass und GPS über den See gelaufen, in der Nähe hielten sich Wölfe und Bären auf. Suchen Sie die Gefahr?
Sylvain Tesson: Ich laufe der Gefahr nicht hinterher, lasse aber auch nichts aus, nur weil es ein Risiko bedeuten kann. Ein englischer Alpinist hat einmal gesagt, dass jedes Wagnis machbar ist, so lange man es gründlich kalkuliert.
GEO SAISON: Was haben Sie am meisten vermisst?
Sylvain Tesson: Nichts. Das war die größte Überraschung. Ohne Ablenkung findet man zum Wesentlichen. Ich erlebte mich völlig ausgeglichen. Die Schönheit der Landschaft verbindet sich mit den Gedanken an geliebte Menschen.
GEO SAISON: Sibirien stellen wir uns fürchterlich einsam vor. Dabei hatten Sie regelmäßig Besuch.
Sylvain Tesson: Ja, und die Besuche fanden auf sibirische Art ohne Vorwarnung statt: kurz und sehr intensiv. Jemand kam, wir öffneten eine Flasche Wodka, tauschten ein paar Neuigkeiten aus, klopften einander auf den Rücken und verabschiedeten uns. Und doch hatte man das Gefühl, sich schon ewig zu kennen!
Kam es den Russen nicht merkwürdig vor, dass Sie eine Gegend für Ihr Exil wählten, in die sonst Straftäter verbannt werden?
Sylvain Tesson: Die Russen sind daran gewöhnt, dass Menschen sich in die Wälder zurückziehen. Die Taiga war immer ein Ort des Rückzugs, Zuflucht für Rebellen, Anti-Zaristen oder Anti-Bolschewisten. Worüber sich die Russen wunderten, war, dass sich ein Franzose nach Sibirien begab. Franzosen sind für sie Äffchen, die Macarons in Versailles essen und keine Ahnung haben, wie man ein Feuer macht.