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Interview Auszeit in Sibirien

Der französische Reiseschriftsteller Sylvain Tesson verbrachte sechs Monate allein in einer Blockhütte ohne Strom und Wasser am Baikalsee. Wie es ihm dort erging, verrät er im Interview
Interview: Sylvain Tesson, französischer Schriftsteller, Filmemacher und Reisender, wagte den Sprung in die Einsamkeit
Sylvain Tesson, französischer Schriftsteller, Filmemacher und Reisender, wagte den Sprung in die Einsamkeit
© Thomas Goisque

GEO SAISON: Sie waren auf Expedition im Himalaya, haben riesige Radtouren gemacht und sind von Nordrussland bis Indien gelaufen. Und dann verbringen Sie sechs Monate allein in einer Blockhütte ohne Strom und Wasser am Baikalsee, sechs Tagesmärsche vom nächsten Dorf entfernt. Wie kam es dazu?

Sylvain Tesson:­ Vorher­ wollte­ ich­ die­ Zeit ­nutzen ­und­ möglichst­ viele­ Kilometer­ zurücklegen. Dann ­wurde ­mir­ klar,­ dass ­die ­Zeit­ viel­mehr ­zu­ geben ­hat,­ wenn­ man ­an­ einem­ Ort ­bleibt.­ Der­ Stillstand gab­ mir,­ was­ mir­ die­ Reiserei­ nicht­ mehr ­geben ­konnte:­ das ­Leben ­intensiv ­zu­ spüren. Außerdem­ wollte ich ­mir­ einen­ Kindheitstraum ­erfüllen,­ ­Stille ­und ­Kälte­ fühlen,­ zwei­ Empfindungen übrigens, ­die­ immer­ rarer­ werden.

GEO SAISON: Was fasziniert Sie so an Sibirien, wo Sie schon mehrfach waren?

Sylvain Tesson:­ Zum ­einen­ die ­Landschaft,­ diese ­Weite.­ Im­ Gegensatz ­zu­ Europa,­ das ­kultiviert­ und­ bis­ zur­ Unkenntlichkeit ­geformt­ ist.­ Zum­ anderen ­mag ­ich ­die­ Russen,­ ihren ­Fatalismus­­ und­ ihre­ wunderbare Fähigkeit, ­in ­der­ Gegenwart­ zu­leben,­ fast­ schon­ miss­trauisch­ gegenüber dem nächsten Tag.

GEO SAISON: Sie hatten einen großen Vorrat an Wodka, Zigarren, Konserven und 80 Bücher dabei. Wie kriegt man das mitten im Winter in eine abgelegene Hütte?

Sylvain Tesson:­ Da­ ich­ viel­ reise,­ bin­ ich­ es­ gewohnt,­ logistische­ Dinge­­ zu­ organisieren.­ Diesmal­ war­ es ­einfach: ­Ein­ Freund­­ transportierte­ meine­ Sachen ­in­ einem ­kleinen ­Laster­ von­ ­Irkutsk zur Hütte.­

Interview: Sylvain Tesson, 42, ist ein französischer Schriftsteller, Filmemacher und Reisender. Für sein Buch "In den Wäldern Sibiriens" (Knaus, 19,99 €) erhielt er den "Prix Médicis"
Sylvain Tesson, 42, ist ein französischer Schriftsteller, Filmemacher und Reisender. Für sein Buch "In den Wäldern Sibiriens" (Knaus, 19,99 €) erhielt er den "Prix Médicis"

GEO SAISON: Was hat Ihnen besser gefallen: Das Eisangeln bei minus 30 Grad oder der Sommer, trotz der Mücken?

Sylvain Tesson:­ Am­ Baikalsee­ gibt ­es ­deutlich ­weniger ­Mücken ­als ­in ­anderen­ Teilen ­Sibiriens.­ Trotzdem­ gefiel­ mir­ der Winter sehr. Der­ passt ­einfach ­besser­ zu ­Russland.­ Das­ Eis ­ist­ eine­ ganz­ besondere Welt. Die Beschaffenheit, die Dichte und Risse bilden einen eigenen Kontinent, der leider im Verschwinden begriffen ist. Jede vereiste Oberfläche ist eigentlich schon ein Abschied.

GEO SAISON: Sie sind ohne Kompass und GPS über den See gelaufen, in der Nähe hielten sich Wölfe und Bären auf. Suchen Sie die Gefahr?

Sylvain Tesson:­ Ich laufe der Gefahr nicht hinterher, lasse aber auch nichts aus, nur weil es ein Risiko bedeuten kann. Ein englischer Alpinist hat einmal gesagt, dass jedes Wagnis machbar ist, so lange man es gründlich kalkuliert.

GEO SAISON: Was haben Sie am meisten vermisst?

Sylvain Tesson:­ Nichts. Das war die größte Überraschung. Ohne Ablenkung findet man zum Wesentlichen. Ich erlebte mich völlig ausgeglichen. Die Schönheit der Landschaft verbindet sich mit den Gedanken an geliebte Menschen.

GEO SAISON: Sibirien stellen wir uns fürchterlich einsam vor. Dabei hatten Sie regelmäßig Besuch.

Sylvain Tesson:­ Ja, und die Besuche fanden auf sibirische Art ohne Vorwarnung statt: kurz und sehr intensiv. Jemand kam, wir öffneten eine Flasche Wodka, tauschten ein paar Neuigkeiten aus, klopften einander auf den Rücken und verabschiedeten uns. Und doch hatte man das Gefühl, sich schon ewig zu kennen!

Kam es den Russen nicht merkwürdig vor, dass Sie eine Gegend für Ihr Exil wählten, in die sonst Straftäter verbannt werden?

Sylvain Tesson:­ Die Russen sind daran gewöhnt, dass Menschen sich in die Wälder zurückziehen. Die Taiga war immer ein Ort des Rückzugs, Zuflucht für Rebellen, Anti-Zaristen oder Anti-Bolschewisten. Worüber sich die Russen wunderten, war, dass sich ein Franzose nach Sibirien begab. Franzosen sind für sie Äffchen, die Macarons in Versailles essen und keine Ahnung haben, wie man ein Feuer macht.

GEO SAISON Nr. 07/2014 - GEO Saison Berlin - die perfekte Sommerstadt

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