Es ist Samstagabend. Die 47 Straßenlampen werfen vergeblich ihr gelblich schimmerndes Licht auf die Hauptstraße von Nuorgam. Keiner der 250 Einwohner hat heute Abend das Bedürfnis in die tief verschneite Landschaft hinauszutreten. Viel zu erleben gäbe es augenscheinlich auch erst mal nicht. Das Leben im nördlichsten Dorf Finnlands, und damit auch der EU, ist ein beschauliches, aber auch ein sehr beneidenswertes. Die Sorgen, die sich Millionen Städter zur gleichen Zeit machen dürften: Was ziehe ich an, auf welche Party gehe ich und stehe ich dort auf der Gästeliste, hat hier niemand. Angezogen wird je nach Wetterlage eine beliebige Reihenfolge aus Schichten, Partys gibt es eher selten und wenn dann steht auf der Gästeliste meist das gesamte Dorf. Hinter den hell erleuchteten Fenstern der stets heimelig wirkenden Häuser wird heute Abend stattdessen gemeinsam gegessen, gelesen oder ferngesehen. Lediglich in dem kleinen lokalen Feriendorf herrscht Aufbruchsstimmung. Nach schneereichen Tagen spannt sich endlich wieder ein klarer Sternenhimmel über die Gemeinde. Beste Voraussetzungen um die Nordlichter zu sehen. Sie sind der Grund, warum ein Großteil der 25 Holzhütten von Marjatta Holmberg und ihrem Mann Raimo Hekkanen inzwischen auch den Winter über belegt sind.
Seitdem sich immer mehr Menschen den Wunsch erfüllen möchten, die Nordlichter einmal selbst zu sehen, profitieren vor allem die nördlichsten Regionen Europas. Während die Finnen selbst den Norden ihres Landes für lange Zeit vernachlässigt haben und wenn dann nur im Sommer anreisen, ist Finnisch-Lappland außerhalb der eigenen Landesgrenzen inzwischen angesagt. Dieser nördlichste Zipfel des Landes, hinter dem nur noch ein paar Landbrocken Norwegen liegen, an denen sich die Eisschollen der Barentssee reiben, symbolisiert für viele Menschen die letzte Wildnis Europas.
Die absolute Stille
„Bis vorletztes Jahr kam ein Großteil unserer Gäste aus Helsinki oder Tampere in den Sommermonaten zum Fischen hierher. Inzwischen haben wir fast mehr Besucher im Winter“, erklärt Raimo. Und die kommen in den seltensten Fällen aus Helsinki oder Tampere, sondern aus Metropolen wie Shanghai oder Johannesburg. Die Abgeschiedenheit und die Lage inmitten der wilden Natur Finnisch Lapplands sind neben den Nordlichtern meist die Gründe, warum sie die lange Reise in die Region Utsjoki antreten. Einmal angekommen haben sie dann allerdings oft ihre Probleme mit der absoluten Ruhe und der nicht vorhandenen Unterhaltungsindustrie. „In Nuorgam hört man die Tannen unter den Schneemassen knarren oder die Rentiere durchs Dickicht laufen, ansonsten umgibt uns Stille.“ Und die, so Raimo weiter, können seine Gäste selten über einen längeren Zeitraum ertragen. Ein Beispiel dieses Phänomens zeigt sich kurze Zeit später in der offenen Holzhütte über dem mächtigen Grenzfluss zu Norwegen, dem Tenojoki. Die vereisten Wassermassen sind von einer schimmernden Schneedecke überzogen, auf der gegenüberliegenden Uferseite wirft das norwegische Dorf Hillágurra einen kleinen Lichtkegel in die Nacht und der Vollmond sorgt dafür, dass sich kaum ein Unterschied zum Dämmerzustand des Tages erkennen lässt. In der sichelförmigen Hütte, die ein wenig Schutz vor der Kälte bietet, haben sich Reisende aus Frankreich, Deutschland und Südafrika versammelt. Für kurze Zeit herrscht Stille, die Blicke ruhen auf dem Horizont, in der Hoffnung, dass sich die Aurora borealis bald zeigen wird. Doch lange hält die Ruhe nicht vor. Ein Hüsteln, ein Kichern, ein Flüstern und dann hält es eine Dame des südafrikanischen Frauenclubs nicht mehr aus und beginnt Raimo mit Fragen zu löchern.
Die Gesichter der restlichen Gäste scheinen sich zu entspannen, endlich keine Stille mehr. Raimo zwinkert, er hatte es nicht anders erwartet. Der sternenklare Himmel wird zur Nebensache, bis Raimo auf die grünlich schimmernde Wolke deutet, die sich über dem norwegischen Ufer formiert. Die Kulisse könnte nicht besser sein, doch die Polarlichter bleiben in dieser Nacht ein schwächlich grüner Streifen über den Köpfen der Besucher, die sich damit nicht ganz zufriedengeben möchten. Sahen die Bilder, die sie in den hohen Norden gelockt haben, doch sehr viel spektakulärer aus. Raimo weist daraufhin, dass die Natur hier oben die Regeln und den Tagesablauf vorgibt. Nordlichter sähe man hier zwar sehr oft, aber auf Bestellung kämen sie eben auch nicht. Grinsend fügt er hinzu, dass allerdings noch kaum ein Gast ohne die Nordlichter in voller Gänze gesehen zu haben, abgereist sei. Er weiß, diese Demut vor den Launen der Natur müssen seine urbanen Besucher erst in sich wiederfinden.
Der Rentierhirte von Nuorgam
Dabei hilft ihnen zum Beispiel auch Aslat-Jon Länsman, der am anderen Ende Nuorgams in einem dieser heimeligen Häuser wohnt. Der junge Same ist einer der wenigen traditionellen Rentierhirten, die es in Utsjoki noch gibt. Zwar leben noch rund 9000 Samen in Finnland, die meisten haben das überlieferte Handwerk allerdings gegen modernere Jobs eingetauscht. Mit seinen 29 Jahren trägt Aslat bereits die gesamte Verantwortung für eine Herde, die seit über 300 Jahren im Besitz seiner Familie ist. Die Frage, wie viele Tiere seine Herde umfasst, beantwortet er verschmitzt mit einer Gegenfrage: Wie viele Blätter hat ein Baum? Irgendwo zwischen 1000 und 1500 Tiere dürften es aber sein. Der junge Familienvater schafft scheinbar spielerisch den Spagat zwischen seinen traditionellen Samiwurzeln und der modernen Welt. In aufwendig bestickter Kleidung und Schuhen aus Rentierfell stehen er und seine Freundin Sivi mit dem gemeinsamen Sohn vor der Haustür. Dass sie einen festen Wohnsitz haben, ist bereits ein bedeutender Unterschied zu den Vorfahren, die noch in Zelten durch Lappland gezogen sind. Ein Zweiter steht direkt daneben, das Schneemobil. Die motorisierten Schlitten gehören hier oben fest zum Haushalt, für Aslat ist das Gefährt unerlässlich. Egal bei welchem Wetter, er muss drei Mal am Tag zu seiner Herde, die ein paar Kilometer weiter durch die Wälder streift.
„Es ist ein harter Job, aber ich konnte mir nie etwas anderes vorstellen. Bereits als Kind, bin ich mit meinem Vater zu den Rentieren rausgefahren und habe bei diesen Ausflügen Schritt für Schritt alles Essenzielle gelernt, “ erzählt er, während ihn bereits die jungen Kälber belagern, die momentan in seinem Garten leben, weil sie in der freien Wildbahn wohl nicht durchkommen würden. Sie erwarten unruhig ihr Frühstück, das aus Gras und getrockneten Blättern besteht. Die große Herde hat Aslat bereits in den frühen Morgenstunden versorgt. „Eigentlich sollen sie in der Natur selbst klarkommen, aber mit unseren Futterstellen versuchen wir das Gebiet, in dem sie sich aufhalten einzugrenzen.“ Einmal im Jahr gibt Aslat die Hälfte seiner Herde ab, rund 300 Euro pro Tier kann er dann verdienen. Nicht wirklich ein lukratives Geschäft, aber die traditionelle Lebensweise deswegen aufzugeben, ist für den hochgewachsenen Samen keine Option. „Unsere Vorfahren haben einen Weg gefunden in dieser Umgebung zu leben und das sollten wir mit unseren modernen Mitteln erst recht können.“
Die Öffnung der Samen-Kultur
Damit er mit seinen Rentieren auch weiterhin den Lebensunterhalt für seine Familie aufbringen kann, hat er seine Farm für Besucher geöffnet, denen er das Leben der modernen Rentier-Hirten näher bringen möchte. Er nimmt sie mit zu seiner Herde, erzählt traditionelle Geschichten und gibt sein Wissen weiter, damit seine Gäste die Sensibilität des hiesigen Ökosystems verstehen. Den Wandel des Klimas kann Aslat bereits seit einigen Jahren genau beobachten. „Der Winter beginnt später, ist dafür aber teilweise sehr viel strenger. Die Lebensbedingungen für Mensch und Tier werden nicht unbedingt besser.“ Durch Wegposten und mündliche Übertragung kennt er die Wanderstrecken seiner Vorfahren. An einigen Stellen steht heute bereits das Wasser der Barentssee. Er sei davon überzeugt, dass seine Gäste, wenn sie mit ihm und seinen Tieren Zeit in der eisigen Weite Finnisch Lapplands verbringen, der Natur und ihrer eigenen Rolle darin wieder etwas näher kämen, sagt er, während er sich seine Rentierfell-Mütze stutz. Die zwei Stunden Tageslicht neigen sich bereits wieder dem Ende zu und die 47 Straßenlampen in Nuorgam werfen erneut ihr gelblich schimmerndes Licht. Doch heute wird zumindest einer der Bewohner noch das Haus verlassen: Aslat auf dem Weg zu seinen Rentieren.