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Bletterbach Die Schlucht der Urzeit-Fossilien

Bletterbach
Für Wanderer gehört der untere Teil der Schlucht mit den hohen Quarzporphyr- Wänden zu den eindrücklichsten Stellen der Bletterbachschlucht. Oben weitet sich der Canyon, dort sind etliche Fossilien zu finden – und immer öfter Wissenschaftler aus aller Welt mit ihren Schürfhämmerchen
© GEOPARC Bletterbach
Der »Grand Canyon Südtirols« am Fuß des Weißhorns gehörtzu den Naturwundern Europas – und lockt mit seiner einzigartigen Schichtung Geologen und Paläontologen aus aller Welt an

Er gräbt und gräbt und gräbt. Meist still undbeharrlich, doch immer wieder auch mit roher Gewalt. Wenn Schneeschmelze und Starkregen den kleinen Bletterbach zur Sturzflut anschwellen und tonnenweise Gestein zu Talschwemmenlassen, fördert er jedes mal neue Fossilien, weiteres Material für neue Erkenntnisse zutage. Seit etwa 18 000 Jahren, seit hier die Gletscher der letzten Eiszeit abschmolzen, geht das nun schon so – und diese gigantische Grabung wird nie aufhören. Der Canyon, zu dem Wasser und Erosion ein Tal süd-östlich von Bozen bei den Dörfern Aldein und Radein geformt haben, ist weltweit einzigartig. Fast acht Kilometer lang, 400 Meter tief: eine Schlucht, die sich vom engen, waldigen Talgrund bis zum 2317 Meter hohen Gipfel des Weißhorns weitet.

Hier liegen 40 Millionen Jahre Erdgeschichte offen zutage: die unvorstellbar ferne Zeit vor 280 bis 240 Millionen Jahren. „Heute können wir Wissenschaftler darin lesen wie in einem Buch“, sagt die renommierte Südtiroler Paläobotanikerin Evelyn Kustatscher. „Und das Besondere: Es fehlt kein Kapitel, keine Seite!“ Hier liegen – anders als an vielen Stellen der Alpen – alle Schichten noch genau so übereinander, wie sie einst entstanden sind: aufgetürmt zu riesigen Schauwänden, die man auf einer Tageswanderung staunend besichtigen kann. Und das tun heute nicht nur Südtirol-Urlauber. Das Österreichische Weltraum Forum (ÖWF) testete hier Ausrüstung für künftige Missionen. Im vergangenen Jahr waren Astronauten der ESA hier – ebenfalls um sich auf den Mars einzustimmen. Eine japanische TV-Station drehte einen Dokumentarfilm. Chinesische Forscher erkundeten die fossilen Gingkos, ein anderes Team die hier sichtbare Perm-Trias-Grenze: den Schauplatz des Massenaussterbens auf der gesamten Erde vor 250 Millionen Jahren. Gewiss kannten schon die Wilderer früherer Zeiten diese bizarre Berglandschaft, und im 16. Jahrhundert legten Erzsucher Probestollen an. Die Hoffnung, hier Silber zu finden (und um 1950 gar Uran), schwand schnell. Doch als immer mehr versteinerte Muscheln, fossile Kopffüßer und Pflanzen entdeckt wurden, horchte die Wissenschaft auf. Nach und nach entwickelte sich dieser stille Winkel am Westrand der Südtiroler Dolomiten zum Hotspot der Paläontologie. Als die UNESCO 2009 die „Bleichen Berge“ wegen ihrer monumentalen Schönheit, ihrer landschaftlichen Einzigartigkeit sowie ihrer geologischen und geomorphologischen Bedeutung zum Weltnaturerbe erklärte, stand außer Frage, dass der flächenmäßig nur kleine Bletterbach-Canyon eines der neun Teilgebiete sein würde.

Bletterbach
Wie in einem offenen Buch lesen Wissenschaftler in den Gesteinsschichten der Schlucht, die der Bletterbach vom Weißhorn aus in die Tiefe schneidet
© GEOPARC Bletterbach

Auf einer geführten Wanderung vom Besucherzentrum des Geoparc Bletterbach aus lässt sich dieses Prädikat eindrucksvoll erleben. Zu Fuß, mit Helm und festen Schuhen,über Fossilien und Reptilienspuren. „Eine Zeitreise so haut-nah, wie sie kein Film bieten kann“, verspricht ParkdirektorPeter Daldos. Sie beginnt vor 280 Millionen Jahren und führt durch fünf geologische Formationen. Zuerst in ein heißes, flaches Land voller Vulkane. Die Gegend der Dolomiten gehörte damals zum Urkontinent Pangäa. Lava und Glutwolken gewaltiger Ausbrüche erstarrten zu den turmhoch aufragenden Felsen aus rötlichem Bozner Quarzporphyr, die heute den engen, vom Bletterbach freigefrästen Durchlass der Schlucht bilden. „Auf dieser mächtigen Porphyrplatte konnten sich alle weiteren Schichten unversehrt erhalten“, erklärt Daldos. Die nächste Formation schluchtaufwärts besteht aus Grödner Sandstein, eine Abfolge von Schichten aus rotem abgetragenen Quarzporphyr und grauem versteinerten Sand und Schlamm feuchter Flussebenen und Küstenlandschaften. In diesem Sandsteingelände haben nun Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen ihr Dorado. Bisher fanden sie mehrere Hundert versteinerte Fußabdrücke von mindestens 16 Reptilienarten. Fleischfresser wie die Gorgonopsiden und der Archosaurier hinterließen ebenso ihre Spuren wie auch der größte Pflanzenfresser jener Zeit: der bis zu drei Meter lange und fast eine Tonne schwere Pareiasaurier. Und sollte sich bestätigen, dass der Rückenwirbel, der vor Kurzem gefunden wurde, von einem Meeressaurier stammt, wäre er eines der ältesten Fossilien dieser Art weltweit. Ähnliche Funde sind bisher nur aus China bekannt.

Besonders reich konserviert sind im oberen Teil der Grödner Sandsteinschichten auch Pflanzenfossilien. Daraus das reelle Bild einer Pflanze zu rekonstruieren, ist mühselig, aber lohnend. So konnte eine erstaunlich vielfältige Vegetation nachgewiesen werden. Darunter Koniferen mit harten, schuppenartigen Blättern wie bei einer Araukarie. Schachtelhalme, die zu ihrer Zeit meterhoch wucherten. Sogenannte Gingkoartige, eine Zwischenstufe vom Nadel- zum Laubbaum, bei der alle Blattnerven vom Blattansatz ausgehen. Dazu Farne, Samenfarne, Baumfarne. Nur Blumen und Laubgehölze würde man hier – im Zeitfenster vor 255 Millionen Jahren – vergebens suchen. Die dritte Gesteinsformation zeigt, dass dieses Gebiet einst gänzlich unter Wasser stand. In heißen, stark salzigen Lagunen lebte die Bellerophon-Schnecke; nach ihr hat die Wissenschaft diese dunklen, fossilreichen Sedimente benannt. Sie sind die letzten aus dem Zeitalter des Perm – das vor circa 250 Millionen Jahren in einer Katastrophe endete. Das Massenaussterben löschte vermutlich 90 Prozent aller Tiere im Meer und etwa 70 Prozent der Landtiere und Pflanzen aus. Wie es dazu kam – Vulkanausbrüche? Meteoriteneinschläge? Extremer Klimawandel? –, ist bis heute ungeklärt. In der Bletterbachschlucht zeigt sich dieses Ende einer Ära durch das abrupte Ende der rund 6o Meter mächtigen Bellerophon-Formation. Oberhalb dieser Linie in der steilen Schlusswand der Schlucht weiten die Werfener Schichten den Canyon am Weißhorn zur Theaterbühne. Mit Mergel, mit Ton-, Sand- und Kalkgestein, das einst in einem flachen Meer abgelagert war. In diesen Sedimenten findet sich zahlreich die Claraia clarai, eine nach dem Südtiroler Geistlichen Franz Clara benannte Muschel. Viele der seltsamen Versteinerungen, die man als Wanderer auf Schritt und Tritt sieht, stammen aus den verschiedenen Sandsteinschichten. Weiße Gipsbänder, -knollen und -linsen: Sie entstanden bei hoher Verdunstungsalzreichen Wassers.

Bletterbach
Paläontologen fanden versteinerte Spuren von mindestens 16 Reptilien im Bletterbach-Canyon. Im Grödner Sandstein haben sich die gut sichtbaren Fußabdrücke des räuberischen Phalangichnus perwangeri, eines
eidechsenartigen Reptils, eingeprägt
© GEOPARC Bletterbach

Versteinerte Wellen: Sind die Rippeln flach, stammensie von einem Strand; stärker aufgewölbte von einem Fließgewässer. Und – fantastisch! – auf flachen Sandsteinplatten haben sich sogar fossile Regentropfen erhalten. Steingeröll voller kleiner und kleinster Muscheln entstammt der mächtigen Kalksteinbank. Sie birgt auch die meisten Versteinerungen von Cephalopoden: Kopffüßern, die mit den heutigen Tintenfischen verwandt sind. Zu sehen, aber von hier aus nicht zu Fuß zu erreichen ist die sogenannte Contrin-Formation der Bletterbachschlucht: der strahlend helle Gipfel des Weißhorns. 240 Millionen Jahre alter Dolomitkalk, entstanden aus Myriaden Skeletten von Kalkalgen. In den Erosionshalden des Weißhorns konnte der Bletterbach seine Grabung beginnen, um hier den großen Blick in die Erdgeschichte freizulegen. Dass es so kam, war Zufall und Glück, eine Laune der Natur. Den Zwillingsberg, das 2439 Meter hohe Schwarzhorn, hob eine tektonische Bruchlinie bei der Auffaltung der Alpen rund 1000 Meter nach oben. Wie der Fuß des Weißhorns besteht er daher bis zum Gipfel aus Bozner Quarzporphyr. Ein Bach hätte dort, im harten Gestein, kaum so viel Erdgeschichte freilegen können.

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