Unsere Expedition ist kaum zwei Stunden unterwegs, und schon fällt der Blick auf eine längst vergangene Welt. Hintereinander marschieren wir an diesem hochsommerlichen Tag einen steilen Pfad hinauf. Der schmale Weg südlich von Oberstdorf durchschneidet üppiges Grün, es geht an Bergahornen, Glockenblumen, Buchen, Pestwurz und den leuchtend gelben Blüten des Johanniskrauts vorbei.
Ein Stück weiter und beinahe gegenüber von dieser Pracht, auf der anderen Seite der Sperrbachtobelschlucht, steigt blanker Fels empor: ein aus Hunderten, Tausenden Schichten aufgetürmtes Gestein. Die Lagen folgen nicht nur einem horizontalen Muster – sondern auch sanften Schwüngen oder einer zackigen Linienführung. Es müssen die Überreste eines urzeitlichen Meeres sein. Lange vor unserer Zeit vermutlich im offenen Ozean in Tiefen von mehr als 1000 Metern als Sedimente abgelagert, versteinerten sie, wurden nach Norden geschoben und gefaltet. Ein Denkmal der gewalttätigen geologischen Vergangenheit also. Und ein Vorzeichen dessen, was uns in den kommenden Tagen erwartet.
Wir wollen die Alpen überqueren – zu Fuß. Vom Allgäu sind wir nach Burgeis in Südtirol unterwegs und planen, in fünf Etappen mit Sack und Pack fast 80 Kilometer zurückzulegen und dabei vier Länder zu bereisen. Ein Team von sechzehn erfahrenen Bergwanderern hat sich dafür zusammengefunden, darunter drei GEO-Abonnenten, zwei Bergführer der Mammut Alpine School, der Fotograf David Boyson Cooper und ich, GEO-Reporter und Nordlicht aus Hamburg.

Alpen in fünf Tagen
Über circa 80 Wanderkilometer führt die Tour von Deutschland nach Italien – und 4000 Höhenmeter hinauf, 5000 abwärts. Von Hütte zu Hütte zieht die Fuß-Expedition, mit Ausnahme einer Übernachtung im schweizerischen Scuol und einiger Taxi-Passagen (gestrichelt). Auf der rund 25 Kilometer langen Etappe an Tag 3 legt das Team in der Heidelberger Hütte eine Rast ein. Die Wanderung gilt als "mittelschwer" und ist nur eine von ungezählten in den Alpen. Darunter sind so legendäre wie der Fernwanderweg E5 vom Bodensee bis nach Venedig.
Vier weitere Fernwander-Routen von 125 bis 1000 Kilometer findest du hier.
Unsere Route führt über die Zentralalpen, wo der Gebirgsbauch am korpulentesten ist und mit gut 2800 Meter Höhe ein veritables Hindernis wartet: die Fuorcla Sesvenna, der Sesvennapass. Schon jetzt, an Tag 1, baut sich mit den Allgäuer Alpen vor uns eine spektakuläre Kulisse auf. Sie ist natürlich nur eine von vielen. Dahinter reiht sich Stein um Stein, Gebirgskette um Gebirgskette, bis zur Po-Ebene. Ein ganzes Königreich aus Fels mit Jahrmillionen auf den Buckeln. Ein meteorologisches Bollwerk, das Nord und Süd trennt.
Die höchste Sportarena in Europa, die zu Heldentaten einlädt wie der des Oberstdorfer Kletterpioniers Anderl Heckmair. Ein fast 200 000 Quadratkilometer großes Ausrufezeichen der Natur und eine Wildnis in unserer Nachbarschaft. Wer sie als Hiker bezwingt, unternimmt eine besonders innige Reise – in die ferne Nähe des Hochgebirges und zu sich selbst. Wandern sei eine Tätigkeit der Beine und ein Zustand der Seele, schrieb der Essayist Josef Hofmiller.
Schwitzend, Sonnencremespuren an den Armen, streben mit Rucksäcken beladene Wanderer an uns vorbei, die auf dem Weg ins Tal gewiss nicht nur ihr Innerstes ausloten, sondern auf jeden Schritt achten, sich auf ihre Teleskopstöcke stützen, um die Füße zu entlasten. Unser erstes Ziel, die Kemptner Hütte, liegt 1844 Meter über dem Meeresspiegel. Niemand weiß exakt, wie viele Fußgänger in den Alpen unterwegs sind. Aber es muss wohl ein Tross von Millionen Begeisterten sein, der jedes Jahr über die Höhenwege zieht. Deren Verkehrsnetz ist gigantisch. Allein in Deutschland und Österreich erstrecken sich Wanderrouten inzwischen über schätzungsweise 55 000 Kilometer Länge, mit einsamen Herbergen als Knotenpunkten.

Als wir gegen Nachmittag die Kemptner Hütte erreichen, pfeift irgendwo ein Murmeltier zur Begrüßung. Die Sonne setzt bereits die Gipfel der nahen Hornbachkette in Szene, darunter den schroff aufragenden Großen Krottenkopf, 2656 Meter hoch. Das weiße Gebäude der Alpenvereinshütte ruht wie eine winzige Insel inmitten dieser Wogen aus Gestein, und sie bietet Platz für 290 ermattete Sportler. Abends schwappt Helles in den Gläsern, erfüllt der Duft von Bratwurst, Rinderbraten und Schlutzkrapfen die lärmige Stube. Unter dem Dach der Hütte, im sogenannten Matratzenlager, geht das Licht jedoch schon um kurz nach 22 Uhr mit einem kompromisslosen Klacken aus. Ab jetzt herrscht Bettruhe, jedenfalls theoretisch. Fast eine ganze Hundertschaft kommt hier oben unter. Hin und wieder ist ein Röcheln zu hören, als handele es sich um ein Feldlazarett, ertönt ein unterdrücktes Lachen oder ein dumpfer Schlag, wenn sich mal wieder jemand in der Finsternis den Schädel an der Holzschräge stößt. Irgendwann steigern sich Schnarchgeräusche beinahe zu einem akustischen Sperrfeuer. Ich stopfe mir Stöpsel in die Ohren und schlafe tatsächlich ein.

Am nächsten Morgen um sieben Uhr zeigt sich das Gebirge von seiner ungehobelten Seite, wird der Mensch in seinem Schoß erst recht auf Zwergenmaß reduziert. Wolken verhüllen die Grate oder inszenieren den Fels in dramatischen Schemen, wenn sie kurz aufreißen. Gleich hinter der österreichischen Grenze fängt es auch noch an zu schütten. Während unsere Polonaise in Richtung Lechtaler Alpen trottet, füllen sich meine Schuhe mit Wasser, dringt der Regen nach Stunden in die Tiefen des Rucksacks vor. Den anderen geht es kaum besser. Wo die Steige sich in schlammige Rutschbahnen verwandeln, geben sie unsere Stiefel nur unter protestierendem Schmatzen frei. Tapfer kämpfen wir uns Kehre um Kehre voran, überwinden Bäche auf wackeligen Steinen. Es ist keine an sich gefährliche Route, aber sie erfordert Trittsicherheit – in den wenigen ausgesetzten Passagen sollte man seine Balance halten können und nicht schwanken.

Ja, es stimmt, was erprobte Wanderer sagen: Zu Fuß ist das Erlebnis der Alpen so unmittelbar wie bei keiner anderen Fortbewegung – nicht nur im Sauwetter. Gehen erzwingt Konzentration und versetzt mich zugleich in Trance, wenn ich über Kilometer die Fersen des Vordermannes im Blick behalte. Es setzt Gedanken frei, schärft die Sinne für die Umgebung. Der leise Sound der unter den Schuhen knirschenden Steine, das Blatt eines Bergahorns, das im Abendlicht zart erglimmt, die kaum wahrnehmbare Bewegung eines Steinbocks im grauen Labyrinth der Felsen. Und dann plötzlich verändert sich die Wahrnehmung zur Gänze.
Man steigt über eine Kuppe und blickt in die nächste Schlucht – und in eine neue Welt. Sah das Hochtal eben noch düster und bedrohlich aus, erscheint das nächste vielleicht wie ein grünes Paradies mit sanften, grasbewachsenen Hängen und den silbrig glitzernden Fäden sprudelnder Bäche. Seit vermutlich seit mehr als 35 000 Jahren erschließen sich Menschen dieses Szenario, so alt sind die Spuren der frühesten Wanderer. Der berühmte „Ötzi“ gehörte zu den Pionieren der Kupfersteinzeit.
Und seit Hannibal und seinem legendären Alpencross mit Elefanten wird hier ein Mythos abgeschritten. Andere Kriegsherren folgten. Händler und Schmuggler zogen über die einsamen Saumpfade. Dann die Naturforscher, die im 16. Jahrhundert auf die Gipfel stiegen – und die Dichter und Maler. Zweihundert Jahre dauerte es, dann kam allmählich der Mainstream über die Berge.
Vielen Mitteleuropäern zur Biedermeierzeit war das Hochgebirge zwar immer noch nicht geheuer. Die Alpen galten ihnen als feindselig, rückständig, bedrohlich. Notstandsgebiet und No-go-Area im Herzen des Kontinents. Doch die ersten Touristen machten sie gesellschaftsfähig und zugänglich. Manchem überzeugten Flachländer müssen damals die Beine geglüht haben – so wie mir. Eigentlich bin ich ziemlich gut trainiert, aber in so wenigen Tagen habe noch nie so viel Distanz zu Fuß zurückgelegt. Und dieses Rauf und Runter ist für mich ein hartes Stück Arbeit. Auf der dritten Etappe unserer Tour erreichen wir das schweizerische Fimbatal und steigen zusammengerechnet mehr als 2200 Höhenmeter ins nächste Tal ab, immer tiefer in die Alpen.

Kein anderes Gebirge der Erde ist so detailliert erforscht worden wie die Höhenzüge unter unseren müden Füßen. Ihr Aufbau ist komplexer als der des Himalaya, macht sie für den Laien zu einem unverständlichen Gebilde. Das hat vor allem mit der turbulenten, verwirrenden Vergangenheit zu tun. Hier wäre kein Stein auf dem anderen, hätten sich nicht zunächst ungezählte Gehäuse von Meeresorganismen, Sande und Tone vor dem afrikanischen Kontinent abgelagert. Und wäre da nicht anschließend diese monströse Konfrontation gewesen. Vor mehr als 200 Millionen Jahren schob sich die Kontinentalplatte Afrikas nach Norden, ließ das Tethysmeer und sogar noch einen weiteren, kleineren Ozean verschwinden, was die Lage sogar für Geologen unübersichtlich macht. Der mächtige Schub komprimierte die deponierten Sedimente wie Kissen und faltete sie zu komplizierten Strukturen, verfrachtete obendrein teils ältere Lagen über jüngere. So gewaltig war die Kraft, dass der ehemalige Ozeanboden zum Teil Hunderte Kilometer nach Norden gelangte – der Gipfel der Zugspitze etwa stammt aus Afrika. Bis heute hält der Druck aus dem Süden an. Der afrikanische Kontinent rückt jedes Jahr um vermutlich ein paar Millimeter näher – daher sind die Alpen ein Monument in Unruhe: Sie wachsen noch. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung. Ihre Existenz wird an der Fuorcla Sesvenna besonders deutlich.

Während unser Zug am Tag 4 den Sesvennapass bei strahlender Sonne erklimmt, fährt kalter Wind über kahles Land. Nun haben wir die erste Welle der Zentralalpen gemeistert – nach Auffassung von Puristen unter den Wanderern ist dies die Minimaldefinition einer erfolgreichen Überquerung; aber nach deren fundamentalistischer Auslegung hätten wir in den Tälern keine Taxis für die Asphaltpassagen benutzen dürfen. Das ist zumindest mir egal. Auch dass wir jetzt die Grenze zwischen der Schweiz und Italien erreicht haben, ist für mich unwichtig.
Denn Staatsgrenzen zählen nicht in dieser Welt; was zählt, sind die eigenen Grenzen, die eigene Perspektive. Dass wir den Pass überqueren, gehört zu einem der vielen kleinen gemeinsamen Glücksmomente dieser Tour. Wir haben ihn uns im Team zu Fuß erarbeitet, sind auf immerhin 2819 Metern über Meereshöhe angelangt. Der Marsch durchs Hochgebirge fügt uns Wildfremde zu einem Bündnis auf Zeit zusammen. Und niemand hat sich unterwegs einen Knöchel verstaucht oder ist gar einen Steilhang hinabgestürzt. Nur dies ist jetzt von Bedeutung. Und der Anblick eines Hunderte Meter breiten weißen Riesen.
Nahe der Fuorcla schauen wir auf den von Schnee bedeckten Sesvennagletscher. Kein besonders großer Vertreter unter den eisigen Giganten der Alpen, der sich da vor den Zacken des Piz Sesvenna erstreckt. Doch beim stillen Betrachten der Massen drängen sich Gedanken an die Vergänglichkeit der Dinge auf. Was die Kräfte der Tektonik erbauen, bearbeiten die Gletscher seit mehr als zwei Millionen Jahren. Ihre Eiszungen raspeln die Berge, schaben Täler aus und schieben Schutt vor sich her. Heute wird ihr Einfluss infolge des Klimawandels zwar immer geringer. Doch Gravitation, Wind, Regen und Frost werkeln mit großer Intensität noch immer am Niedergang des Felsens. Überall finden sich die Zeugnisse dieser Selbstzerstörung; wir durchmessen unterwegs immer wieder gewaltige Schutthalden aus Geröll, stoßen in jedem Gebirgsbach auf Gesteinsblöcke, die das Wasser schleift. Erst Erosion und Verwitterung haben die Alpen zu dem gemacht, was sie sind: ein zerfurchtes, teils nur zu Fuß zugängliches Terrain voller Grate und Schluchten. Sorgen machen müssen sich Wanderfreunde allerdings vorerst nicht. Bis das Gebirge ganz verschwindet, wird es noch zig Jahrmillionen dauern.

Am fünften Tag leuchtet vor uns schließlich das schneeverhüllte Obergeschoss des Ortlermassivs in gleißendem Weiß, ein Wolkenband lastet schwer auf den mehr als 3800 Meter hohen Graten am Horizont. Das Ziel ist in Sicht. Unsere Kolonne marschiert einen Saumpfad an der Baumgrenze entlang, passiert Lärchenwälder, die nach Harz und Sommerfrische riechen. Aus der Ferne schallen Kuhglocken. Die Expedition geht ihrem Ende entgegen, wir steigen ins Vinschgautal in Südtirol hinab. Aber in meinem Kopf hat diese Reise gerade erst begonnen. Jede Müdigkeit ist fort. Denn dort drüben, so denken mit mir wohl alle Wanderer unserer Gruppe, lockt die nächste Herausforderung aus Stein, so nah, so fern. Und so schön. Oben bist du nie, sagen Bergsteiger.