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Alpen Das Karwendelgebirge auf die sanfte Tour

Lautersee
Klein aber dafür in malerischer Lage: der Lautersee westlich von Mittenwald
© mauritius images / Stefan Hefele
Mit dem Wanderehrgeiz unserer Autorin ging es in der Ostalpenregion Karwendel nach den ersten Tagen steil bergab. Statt weiterhin Höhenwanderwege und Geröllkessel zu meistern, traute sie lieber dem Frieden duftender Buckelwiesen und spätsommerwarmer Badeseen. Ein Plädoyer für ein Tempolimit auf Zeit

Die Sonne hat es fast über die Westspitze geschafft. Wenn ich den Kopf strecke, bekomme ich bereits ein paar warme Strahlen ab. Stück für Stück werden sie weiterkriechen und das Dammkar erleuchten wie Spots eine Bühne. So lange werde ich mich auf diesen Steinklotz hocken und warten. Warum hudeln und durch ein schattiges Tal absteigen? Rechts vor mir öffnet sich die Bilderbuch-Bergwelt des Karwendel mit seinen weißen 2000er Gipfeln; das größte zusammenhängende Naturschutzgebiet der Ostalpen. Nur führen dort keine Wege hinein, allenfalls per Gleitschirm würde ich weiterkommen. Links wiederum fällt steiler Fels sieben Kilometer tief in einen Kessel voller Stein und Geröll, Hinterlassenschaften eines Gletschers, der beim Abschmelzen eine Furche in den Hang schürfte. „Mit Schnee ist die Abfahrt durchs Dammkar die längste Freerider-Route im Land“, erzählte mein Wirt beim Frühstück. Jetzt im frühen Herbst ähnele die Kuhle einer Schotterwüste. „Des g’fallt nicht jedem“, warnte er freundlich. „Wenn’s Pech haben, sind’s da oben ganz allein.“ Pech?, dachte ich. Besser könnte es gar nicht sein!

Tatsächlich kommt während der 20 Minuten, die ich auf meinem Stein auf die Sonne warte, kein anderer Wanderer vorbei. Der Trubel der 2244 Meter hoch gelegenen Bergstation, zu der ich mit der Karwendelbahn von Mittenwald in zehn Minuten heraufgefahren bin, ist weit weg. Hier gibt es weder aufgereihte Liegestühle, wie dort, noch einen „Panoramaweg“. Stattdessen: Stille. Ich kann sie hören, sie klingt wie zischelnder Wind in der Ferne. Kaum wandere ich los, ist sie passé. Meine Schritte bringen Steinchen zum Kullern, sie klickern und klockern das Schotterfeld hinab. Wo immer sich ein Hauch von Erde bilden konnte, wachsen Moose. Flechten ziselieren Felsbrocken, selbst aus Schneeresten sprießen Gräslein in Neongrün. Plötzlich ein Pfiff, den das Echo im Kar hin- und herwirft. Jauchzt ein seltenes Schneehuhn im Sonnenschein? Oder warnt ein Murmeltier seine Sippe vor mir? Spätestens jetzt sind meine Sinne geschärft. Was bewegt die Tierwelt im Kar? Nach einem Rundumblick stelle ich fest: Die Gefahr kreist am Himmel – ein Steinadler. 500 Höhenmeter tiefer meldet meine Nase: feuchte Erde, Vegetation. Noch weiter unten dann: Kiefern! Blüten! Bald duftet es, als ob ein Saunameister einen Aufguss zelebriert. Dabei rückt lediglich die Baumgrenze heran. Am Ochsenboden, dem Abzweig Richtung Mittenwald in 1470 Meter Meereshöhe, knirschen meine Knie. Doch der Rest von mir fühlt sich frischer an als das Quellwasser, das hier aus einem Brunnen sprudelt. Seit zwei Stunden kein Beton, keine Menschen, kein Lärm, kurz: reine Natur. Gibt es ein besseres Detox-Programm? Natur – ein Sehnsuchts -wort.

Mehr Wildes Deutschland gibt es in GEO SAISON

Bei einer Studie des Bundesamtes für Naturschutz gaben 90 Prozent aller Befragten an, es mache sie „glücklich“, Zeit in der Natur zu verbringen. Nun könnte man glauben, dass sie in Deutschland kaum noch zu finden ist. Denn nicht einmal 4,5 Prozent unserer Fläche sind noch natürlich im Sinne von „wild und unberührt“: die Nationalparks und einige Naturschutzgebiete. Der größte Teil ist von 645 000 Kilometern Straßen zerschnitten, zu Feldern, Forsten und Parks zurechtgestutzt; Flüsse sind begradigt, Berge befestigt, Ufer eingedeicht. Dennoch, wer sich in Deutschland genauer umschaut, wird Natur überall entdecken, grüne Flecken vor der Stadt, Waldseen, Moore oder Wälder, deren Bäume altern, umstürzen und liegen bleiben, damit Käfer und Pilze sie zersetzen. Orte, an denen Spechte, Salamander, Biber ihre Nester, Höhlen oder Burgen bauen. Und kein Mensch mischt sich ein. Dazu gibt es Landschaften, die von Menschen, Tieren oder Maschinen geformt und dadurch einzigartig wurden. Die Lüneburger Heide etwa. Die Seenlandschaft der Goitzsche mit ihrer Vergangenheit als Braunkohleabraumhalden. Ehemalige Kiesgruben oder Tonstiche, in denen nach Jahrzehnten industrieller Nutzung wieder klares Wasser plätschert. Neu geschaffene Naturparks wie das Peenetal. Zwischenwelten, in denen die Natur das Alltagsgrau übertüncht wie hängende Gärten eine Häuserwand. Man muss nur wissen, wo man sie findet.

Karwendelbahn
Die Bergstation der Karwendelbahn hängt auf 2244 dramatisch über dem Abgrund
© mauritius images / Peter Lehner

Nicht jeder möchte, wie ich, in einer Bergbahn auf einen 2244 Meter hohen Gebirgsstock fahren, um durch ein Gletscherfeld wieder abzusteigen. Vielen reicht der Spaziergang im Stadtpark. Kurt Tucholsky sagte: „Es gibt keine richtige Art, die Natur zu sehen. Es gibt hundert.“ Gehört auch der Blick auf Nebelschwaden dazu? Am Morgen nach meinem Dammkar-Abstieg ballen sie sich so dicht, dass ich die Natur lediglich spüre – als Muskelkater in den Schenkeln. Der Wirt verkneift sich ein Grinsen, als ich ihn nach einer flacheren Tour frage. Mit dem Finger zeigt er mir die Schraffuren seiner Wanderkarte. „Bei uns findet man auch weiter unten sein Glück!“ Was er meint: Ein Großteil der Gemeindefläche von Mittenwald steht unter Naturschutz, weite Gebiete sind als europäische Vogelschutz- und Flora- Fauna-Habitate ausgezeichnet. Der Wirt empfiehlt den Weg über den Kranzberg zum Lauter- und Ferchensee, quer durch ein Landschaftsschutzgebiet.

Dass ich den retromäßigen Einzel-Sessellift aus den 1970er Jahren, der mich auf den 1391 Meter hohen Kranzberg schaukeln würde, links liegen lasse, bereue ich schnell. Denn zu Fuß dauert es, bis Teerstraßen, Bauernhöfe, Förter- Fuhrparks und ausgediente Liftanlagen aus meinem Blickfeld verschwinden und ich mich uneingeschränkt für eine Mittenwalder Rarität begeistern kann: die Buckelwiesen. Auch sie sind vermutlich ein Vermächtnis des Isargletschers, der sein Geröll hier so lange übers Erdreich massierte, bis die Oberfläche aussah, wie ihr heutiger Name es beschreibt: buckelig. Den Rest erledigten Mönche und Bauern, die ab dem 8. Jahrhundert den natürlichen Baumbestand rodeten, um Weideflächen zu gewinnen. Botanik-Experten können im Frühjahr locker 200 Pflanzenarten identifizieren; jetzt, im Herbstnebel, erkenne ich immerhin Enzian, Schafgarbe, wilde Minze und welkes Johanniskraut. Um die Kräutervielfalt zu bewahren, förderte die EU jene Landwirte, die ihre Wiesen nur zweimal im Jahr mähen; ein Knochenjob, der am ehesten per Sense gelingt – oder mit hungrigen Ziegen. Ich höre ihre Glöckchen und freue mich über die windschiefen Holzhütten, in denen das Sommerheu trocknet. Der Verkehr brummt noch unüberhörbar in der Ferne. Erst nördlich des Kranzbergs schluckt der Wald das letzte Geräusch der Zivilisation. Ich atme auf und genieße. Und es macht mir sogar nichts mehr aus, dass ich bei Weitem nicht die Einzige bin, die heute hier entlangspaziert.

Offenbar ist das Prachtpanorama, das der Nebel zu meinem Erscheinen am Ferchensee freigibt, eine beliebte Wander- Attraktion. Smaragdgrün schimmert er in einem Tal, das ein chinesischer Landschaftsmaler gezeichnet haben könnte: Von der einen Uferseite reckt sich bereits das Wettersteingebirge gen Himmel, gegenüber leuchtet quietschbunt das Herbstlaub. Aus der Nähe glänzt das Wasser des Ferchensees so glasklar, dass ich am Strand versehentlich hineintrete; ein Schauspiel, das nach mir zwei weitere Wanderfrauen mit ähnlich spitzen Schreien wiederholen. Als Angela Merkel im Juni 2015 die wichtigsten Staatschefs der Welt zum G7-Gipfel im benachbarten Luxushotel „Schloss Elmau“ empfing, durften die mitreisenden Gattinnen nebst Professor Sauer den Ferchensee beim Damenprogramm per Kutsche umrunden; der kanadische Premier sprang sogar für eine Morgenrunde hinein, erzählen die Einheimischen. Das Risiko, mich bei so demonstrativer Naturliebe zu erkälten, ist mir trotz Badetemperaturen zu hoch. Stattdessen schlage ich den Rückweg über den Lautersee ein. Dort lockt ein Schild: „Fangfrische Forellen“. Ist es nicht großartig, dass Natur auch köstlich sein darf?

Ferchensee, Karwendelgebirge
Die saftigen Wiesen rund um den Ferchensee werden in den Sommermonaten von Bergziegen bevölkert und von Wanderern, die keine Lust auf steile Anstiege haben
© mauritius images / Peter Lehner

Die besten Tipps und Adressen für die Alpenwelt Karwendel

Schlafen und Essen im Karwendel

Viele der Gasthöfe bieten beides: Zimmer und gute Küche.

Hotel Lautersee

Himmlisch ruhig und am glasklaren Lautersee gelegen. Der familiäre Service und die gute Küche (besonders lecker sind die fangfrischen Forellen!) machen die etwas in die Jahre gekommene Einrichtung locker wett. Unbedingt ein Zimmer oder eine nicht viel teurere Suite mit Seeblick buchen! Mittenwald, Am Lautersee 1, Tel. 08823-10 17, www.hotel-lautersee.de, DZ/F ab 60 €


Gasthaus Ferchensee

Als wäre der wildromantische See nicht Ausflugsziel genug, bekommt man auf der Sonnenterrasse auch noch grandiose Kas-, Speck- und Spinatknödel serviert und danach Kaiserschmarrn. Ab drei Nächten ist das „Apartment Lavendel“ buchbar. Die Privatstraße dürfen nur Übernachtungsgäste befahren, im Sommer halten mehrmals täglich die „Wander- und Gästebusse“. In denen fährt man gratis mit der Gästekarte der Region, die kostenlos in den Unterkünften ausgestellt wird. Mittenwald, Am Ferchensee 1, Tel. 08823-14 09, www.ferchensee.eu, DZ/F ab 90 €

Gröblalm

Perfekt, um sich vor oder nach der Wanderung über die Mittenwalder Buckelwiesen mit köstlichen Torten, Kuchen und selbst gebranntem Kräuterschnaps zu stärken. Für Übernachtungsgäste gibt es auch eine gemütliche Sauna. www.groeblalm.de, DZ/F ab 100 € (ab 3 Tagen)

Das Kranzbach

Abgeschieden in einem privaten Tal lockt dieser über 100 Jahre alte „englische Landsitz“ nebst luftigem Neubau. Herrlich sind die Sicht aufs Wettersteingebirge und das riesige Spa mit einer kinderfreien Ruhezone. Leider ist das Haus nicht günstig und nur als Paket buchbar. Kranzbach, Tel. 08823- 92 80 00, www.daskranzbach.de, DZ/HP ab 324 €

Restaurant Osteria

Keinen Appetit mehr auf Knödel, Haxn und andere bayerische Schmankerl? Dann avanti zu Franco Viola, dem besten Italiener der Gegend. Mittenwald, Obermarkt 31, Tel. 08823-38 49

Das gibt es zu Erleben im Karwendel

Karwendelbahn

In zehn Minuten schwebt die Gondel hinauf zur 2244 Meter hohen Bergstation. Dort kann man sich im neuen Natur-Informationszentrum, das wie ein gigantisches Fernrohr über die Felskante Richtung Isartal ragt, über Geologie, Flora und Fauna der Bergwelt Karwendel schlau machen und dann auf der sieben Kilometer langen Piste „Dammkar“ absteigen. Einfache Fahrt ab 16,50 €

Mittenwalder Barfusswanderweg

Eine Gaudi, auch für Kinder, mit gut 20 Stationen, wo die Sinne geschärft und verwirrt werden. Start am Kranzberg

Waldlehrpfad

War es die Lärche? Ein Spaziergang, nach dem man Bäume optisch, haptisch und dem Duft nach unterscheiden kann – jedenfalls besser als vorher. Start am Lautersee

Geo-Trip

Vera und Josef Karner stapfen mit den Teilnehmern ihrer Isar-Kieselsteinexkursion durch Fluss- und Bachbetten und erklären mit viel Begeisterung, welche Schätze darin liegen: Woraus besteht ein Kiesel, verbirgt sich ein Kristall darin, den man zum Schmuckstein schleifen lassen kann? Neben weiteren geologischen Touren bieten sie Kurse dazu an. Auch ein kleines Museum betreiben sie. Krün, Finzbachstraße 1, Tel. 08825-562, www.geo-trip.de

Heilpflanzen und Wildkräuter

"Lust auf Salat oder Green Smoothie?“ Für Julia Schwarzenberger ist das einzigartige Geotop Buckelwiesen sowohl Garten als auch Apotheke. Kaum ein Zipperlein, gegen das sie kein Kraut kennt. Sie ist eine der drei „Kräuterhexen“, die ihr riesiges Wissen über die heimischen Heilpflanzen und Wildkräuter während einer Tour teilen. Mehr Infos und Termine: www.alpenwelt-karwendel.de, Führungen mit Gästekarte gratis; privat ab ca.15 € p. P.

GEO Saison Nr. 09/2016 - Wildes Deutschland

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