Einstimmen
Fabriken im Backstein-Look, uralte Schlote, schlossartige Fabrikanten-Villen: Wer die Industriekultur des 19. Jahrhunderts mag, kommt hier ins Staunen, in Łódź ("Wuudsch" ausgesprochen, mit ganz sanftem W, bitte). In der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Städtchen 130 Kilometer südlich von Warschau vom Provinznest zum "Manchester Polens", und das innerhalb weniger Jahre. Textilbarone wie Ludwik Geyer, Karol Scheibler und Izrael Poznański zogen gewaltige Fabrikstädte hoch, in denen sie Baumwollstoffe für Russland und Mitteleuropa produzieren ließen. "Lodzermenschen" nannte man seitdem einen bestimmten Menschenschlag, der sich mit Fleiß und Einfallsreichtum dem Geldverdienen verschrieb, ob als Unternehmer oder Angestellter. Bis in die späten 1980er-Jahre rauchten die Schlote, dann setzte der Niedergang ein. Nach einer Phase der Verwahrlosung und Ratlosigkeit besinnt sich die Stadt heute auf ihr industrielles Erbe – und pflanzt den Fabrikruinen neues Leben ein.
Ansehen
Ein Bollwerk aus hellrotem Backstein mit Türmen im Stil der Neurenaissance, ein monumentales, geschwungenes Tor: Die Baumwollspinnerei mit der berühmten Werkspforte zum einstigen Fabrikgelände des jüdischen Unternehmers Izrael Poznański ist gewissermaßen die Kathedrale unter den Łódźer Fabrikgebäuden. Zu Poznańskis Zeit in den 1870er-Jahren war das Textilwerk mit eigenem Dampfkraftwerk und Feuerwehrwache eines der größten seiner Art weltweit. Nach fast zehn Jahren Plan- und Bauzeit wurde der einstmals heruntergekommene Komplex 2006 sandgestrahlt und blitzsauber als Manufraktura wieder eröffnet (Drewnowska 58, www.de.manufaktura.com). Er punktet noch immer mit weiteren Superlativen: Auf dem Gelände befindet sich samt Kino eine der größten Shopping-Malls Polens. In den renovierten Ziegelsteinbauten sind Restaurants, Museen und ein Luxushotel untergebracht. In der ehemaligen Weberei präsentiert das Muzeum Sztuki seine großartige Sammlung polnischer Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts, auch Werke von Max Ernst und Hans Arp (Ogrodawa 19, www.msl.org.pl). Und dort, wo einst die Baumwollstoffe in die Endfertigung gingen, erzählt das Muzeum Fabryki anschaulich die Geschichte des Poznańskischen Imperiums, schildert aber auch die krassen Bedingungen, unter denen die Arbeiter schufteten. Nur wenige Meter neben den Werkshallen ließ der Patriarch seine schlossartige Villa nach dem Vorbild des Pariser Louvre erbauen – samt Türmchen und Kuppeln, mit pompösen Ball- und Speisesälen. Heute fungieren die noch immer opulent ausgestatteten Räume als Museum der Stadt Łódź (Ogrodowa 15, www.muzeum-lodz.pl). Einmal mehr erscheint die Historie der Stadt zweitrangig: nicht mehr als ein Ableger der Werksgeschichte.
Rumkommen
Selbst der Prachtboulevard der Stadt, die mehr als vier Kilometer lange, teils von Graffiti flankierte Piotrkowska-Straße, verdankt ihre Existenz der Textilindustrie. Hinter ihren historisierenden Fassaden verbargen sich damals die Anwerbebüros der Fabriken und die Stadtvillen steinreicher Industrieller. Seit den 1990er-Jahren wurde "die Piotrkowska" restauriert und zu einer der längsten Fußgängerzonen Europas umgestaltet, heute ist sie die Flaniermeile der Stadt 4 . Wem nach Abwechslung von ihrem manchmal etwas unterkühlten Charme zumute ist, der landet unweigerlich im szenigen Off Piotrkowska, einem kleinen Gelände abseits der Hauptstraße auf der Höhe der Hausnummern 138 bis 140. Hier hat sich ein Sammelsurium aus Cafés und Boutiquen einquartiert, die bis in den späten Abend geöffnet haben. Kaum nötig zu erwähnen, dass es sich auch bei diesem Areal um das Gelände einer ehemaligen Baumwollspinnerei handelt. Das Schöne: Im Unterschied zur makellos durchsanierten Manufaktura verbreiten die rußig-speckigen Backsteinfassaden noch immer raues Fabrikflair (www.offpiotrkowska.com).
Das gilt auch für die Księży Młyn. Die "Pfaffenmühle" war eine Arbeitersiedlung neben dem Werk des reichsten aller Textilfabrikanten: Karol Scheibler. Unterkünfte, Schule, Läden, ein Kraftwerk und sogar Krankenhäuser fanden sich dort – das Leben der Arbeiter spielte sich im 19. Jahrhundert auf oder neben dem Werksgelände ab. Noch immer von ehemaligen Arbeitern bewohnt, aber ungleich ruhiger als zu Produktionszeiten, wirkt die Siedlung mit den Kopfsteinpflasterwegen richtiggehend idyllisch. Zumal man heute auch in die weitläufigen Parkanlagen des Magnaten Scheibler hinüberspazieren kann. Dessen Villa ist gleich doppelt sehenswert: Zum einen als Beispiel für das ungenierte Ausleben feudaler Gelüste in unmittelbarer Nachbarschaft zu Armut und strengem Arbeitsregime. Vor allem aber, weil in ihren Räumen Teile der weltweit renommierten Łódźer Filmhochschule sowie das Filmmuseum untergebracht sind (www.kinomuzeum.pl). Roman Polanski, Krzysztof Kieślowski, Andrzej Wajda – sie alle haben hier studiert. Und gefilmt: Wajdas Oscar-nominierte Romanverfilmung "Das gelobte Land" von 1975 erzählt in epischer Breite vom Aufstieg der Łódźer Textilbarone und nimmt das getriebene Leben der "Lodzermenschen" aufs Korn. Was mit den Stoffen passierte, die in den Łódźer Textilfabriken hergestellt wurden, zeigt das schönste Museum der Stadt, das an dem noch nicht zur Fußgängerzone verwandelten Teil der Piotrkowska steht: Das Textil-Museum in der Weissen Fabrik des Industriellen Ludwik Geyer (Nr. 282, www.muzeumwlokiennictwa.pl). Von den schlichten Trachten des 19. Jahrhunderts über die elegante Mode der 1920er- und 1930er-Jahre bis zum eher bizarren Chic der Volksrepublik dokumentiert die Ausstellung die Entwicklungen von Stoffen und Geschmack. Im Untergeschoss versetzen großräumige, dröhnend unterlegte Projektionen den Besucher eindrücklich zwischen Dampf- und Spinnmaschinen – und erinnern daran, unter welchen Bedingungen die Stoffe produziert wurden. Zeitgenössisch wird es auf der Young Textile Art Triennale, bei der internationale Textildesigner ihre Werke in der Weißen Fabrik präsentieren (Mai bis Ende August 2016; www.ytat.asp.lodz.pl/en/).
Essen & Trinken
Łódź gehört unbestritten zum kulinarischen Königreich der Knödel, der zerlassenen Butter über pierogi-Teigtaschen, des ungenierten Gebrauchs von Speck als Würzmittel und des täglichen Konsums von malzig-sattem Marcowa-Märzenbier. Am besten zu genießen auf der Terrasse des Restaurants Galicja auf dem Manufaktura-Gelände (Ogradawa 19 a, www.galicjamanufaktura.pl). Apropos Bier: In der wundervollen Piwoteka Narodowa, der "National-Bierothek", kann man sich durch ein Sortiment von 15 feinen Fassbieren süffeln, etliche davon hausgebraut (6 Sierpnia 1/3, www.piwotekanarodowa.pl). Eine der besten Sorten heißt übrigens: "Lodzermensch".
Schlafen
Das liebenswerteste Hotel der Stadt ist das nostalgische Stare Kino, zu Deutsch: Altes Kino (Piotrkowska 120, www.cinemahotel.pl, DZ ab 47 €). Liebevoll nach Filmklassiker-Motiven wie "Vom Winde verweht", "Der Pate" oder "Singin’ in the Rain" eingerichtete Zimmer, versetzt mit einem Hauch Ostblock-Charme: einfach schön!
Das beste Haus ist im emblematischsten Gebäude beheimatet: Das Andel's in Poznańskis Baumwollspinnerei. Die Ausmaße der elegant renovierten Fabriketagen sind gewaltig, aber in den farbenfroh eingerichteten, loftartigen Zimmern wohnt der Gast hinter burgdicken Mauern und Rundbogenfenstern fast schon wieder gemütlich. Und auf dem Dach steht im Glaskubus der Pool bereit (Ulica Ogrodowa 17, www.viennahouse.com/en/andels-lodz/, DZ/F ab 81 €).