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September im Osten Andalusiens. Schon um neun Uhr morgens hat die Sonne den Dunst über den Olivenplantagen weggetrunken, und keine zwei Stunden später wird die Luft vor der Geierwand von El Chorro flirren vor Hitze. Zuerst wird sie die Felsenschwalben wie welkes Laub emporwirbeln, dann werden die rotfüßigen Alpenkrähen die Thermik ausreiten - krummschnäbelige Desperados, die aufwärts stürzen können, als wären Himmel und Erde vertauscht. Und wenn wenig später die Kolkraben ihre schwarze Kreuze ins Blau stellen, ist der Zeitpunkt erreicht, an dem ein Gänsegeier nur noch die Federbretter in den Luftstrom halten muss, um abzuheben. So, als wären die siebeneinhalb Kilo Fluglast ein Schmetterlingsgewicht.
Ein Vibrato legt sich auf die Flügeldecken, die Handschwingen fassen in die anströmende Luft. Sie trägt den Segler über die braungrau gebänderte, steil aufragende Kalkwand mit ihren Nistsimsen und Brutgrotten; empor zu den einsamen Karstgipfeln der Sierra de Cazorla.
100 Kilometer geschützte Höhenzüge
Sierra, das spanische Wort für Gebirge, bedeutet wörtlich "Säge". Ein Name, den die meisten Bergketten nicht nur in Spanien, sondern rund ums Mittelmeer zu Recht tragen: wegen ihrer Kargheit und Schroffheit, wegen der Silhouette ihrer messerscharfen Kalkriffs. Auch die Sierra de Cazorla ist ein Kalkgebirge, aber ihre Konturen sind weicher, besänftigt durch einen Mantel aus Grün, der sich bis in die höchsten Lagen emporzieht. Lichte Wälder aus Steineichen, Kiefern und Lärchen bedecken die Berghänge, in den Hochtälern sprießen üppige Wildblumenwiesen. An den 2000 Meter hohen Kämmen regnet nieder, was immer atlantische Winde an Feuchtigkeit herantreiben, und so gibt es hier - Seltenheit in Südspanien - auch im Hochsommer ergiebige Regengüsse.

"Parque Natural de las Sierras de Cazorla, Segura y Las Villas" - so lautet der vollständige Name dieser Bergregion, die mit 214300 Hektar Fläche den größten Naturpark nicht nur Andalusiens, sondern ganz Spaniens bildet. Was von der Ebene aus betrachtet wie eine einzige durchgehende Gebirgskette wirkt, sind in Wirklichkeit drei gestaffelte Höhenzüge, die sich über 100 Kilometer weit hinziehen - vom Südosten Jaéns bis hinauf zur Provinz Albacete.
Eine Gegenwelt zu den verbrannten Ebenen
Im Grunde müsste man sich wie ein Geier in die Lüfte heben können, um zu erkennen, was der Naturpark von Cazorla eigentlich ist: eine Oase, eine Gegenwelt zu den verbrannten, staubigen Ebenen im Nordosten und der Olivenbaum-Einöde im Westen, die sich auf blasser, kahlgespritzter Erde schier endlos dahinzieht. Cazorla ist all das, was eine typisch andalusische Landschaft nicht ist: grün, üppig, von Leben wimmelnd und, vor allem, vom Wasser geprägt. Wasser ist in Cazorla allgegenwärtig; kein Felsmassiv, das nicht von unterirdischen Strömen unterhöhlt wäre, kein Tal und keine Schlucht, in der es nicht gluckst, plätschert, manchmal sogar braust und rauscht - jedenfalls dann, wenn es zuvor reichlich Regen gegeben hat. Und weil Cazorla eine Oase ist, hat sie die Bewohner der angrenzenden Einöden seit jeher in andächtige Begeisterung versetzt - eine Begeisterung, die unter anderem der große spanische Lyriker Antonio Machado in Worte gefasst hat. Dem Guadalquivir, der hier seine 657 Kilometer lange Durststrecke durch ganz Andalusien beginnt, rief er zu: O Guadalquivir/ sah dich entstehen in Cazorla/ und heute sterben in Sanlúcar/ Du warst ein Schwall reinen Wassers unter einer grünen Pinie/ Wie schön du klangst.
Während der Schneeschmelze stürzen Wasserfälle zu Tal
So schön auch heute noch? Das lässt sich feststellen. Die Guadalquivir-Quelle liegt, 1350 Meter hoch, nicht weit von der Abflugwand El Chorro. Für den Geier gerade zwei Flugminuten Richtung Südosten, für den Autofahrer, der von dem etwas weiter entfernten Städtchen Cazorla aufbricht, eine gute halbe Stunde.

"Quelle" ist allerdings eine Übertreibung, jetzt am Ende eines Sommers, der dramatisch trocken war. Zwischen Cerro Museras und Filo Machero liegt das Bachbett da wie leergesaugt, nur die moosfeuchten Ränder auf den Uferfelsen lassen erkennen, dass der Guadalquivir bisweilen erheblich furioser startet. Während der Schneeschmelze im Frühjahr lassen er und seine Nebenbäche einige Wochen lang sogar richtige Wasserfälle zu Tal stürzen.
Bis vor etwa 22 Millionen Jahren gab es hier nichts als Wasser; ein Meer, das sich bis in Europas Norden erstreckte. Dann faltete sich hier der Boden auf zur Sierra - von deren maritimer Vorgeschichte noch heute Ammonitenfunde in 2000 Meter Höhe zeugen.
Kleine Pflanzen-Wunder überlebten Jahrmillionen
An einem stillen Spätsommerabend spürt man besonders intensiv, wie lebendig dieses Gebirge ist. Pistazien, Feigenbäume, Zistrosen und Steineichen verschränken sich zu natürlichen Sperrzonen, über denen Erdbeerbaumfalter patrouillieren, einzeln und in Doppelstreife. Sommergoldhähnchen wispern am Rande der Hörbarkeit; Fischotter speisen in den Nebenbächen des Guadalquivir Krustentiere aus der Schale. Und wenn die Dämmerung die Bergrücken in fünf verschiedene Blautöne staffelt, belebt sich die überhängende Felswand von El Lanchón, hoch über dem Guadalquivir: Die Höhlen und Grotten atmen Fledermäuse aus. Erst andeutungsweise, dann dutzendweise, dann stoßweise.
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Ein schwarzes Schneegestöber. Hexensabbat an einem Dienstag. Und gegenüber erscheint der Bergstock des Peña Gallinera im Restlicht wie ein hochgeschlagener wattierter Kragen. Es gibt allerdings kleine Wunder, die einem selbst der schönste Septembertag vorenthält - Pretiosen wie das maiblühende Cazorla-Veilchen, die rotweiß getigerte Schmetterlingsorchis oder blaue Matten von Stachelginster. Unter den 1100 Pflanzenarten, die in den Sierras vorkommen, sind einige Welt-Raritäten. Sie haben überlebt, weil das Hochland über Jahrmillionen ein Refugium für Spezies bildete, die weiter nördlich durch die extremen Klimaschwankungen der Eiszeiten ausgestorben sind. Wenn sie heute auf der Liste der bedrohten Arten stehen, dann liegt das weniger am veränderten Klima als am - subventionsbedingten - Überhandnehmen der Schafherden.
Nicht die Besuchermassen sind es , die den Park bedrohen
Rund zwölf Euro Subvention zahlt die EU-Agrarabteilung für jedes Tier, mit der Folge, dass derzeit um die 80000 Segura-Schafe an der empfindlichen Pracht von Schluchten und Hochtälern nippeln. Da hilft es wenig, dass die EU-Naturschutz-Abteilung im Gegenzug Schutzprogramme für bedrohte Pflanzen subventioniert.

500.000 Besucher - das ist eine Zahl, die bedrohlich hoch klingt. Aber die Größe des Naturparks und das weitmaschige Wegenetz verhindern, dass Fauna und Flora durch die Anwesenheit der Touristen dauerhaften Schaden nehmen. Wenn der Naturreichtum der Sierras zumindest stellenweise nachhaltig beeinträchtigt ist, dann liegt das vor allem an zwei Faktoren: der Überweidung durch Schafherden und den wiederholten Feuersbrünsten. So standen Ende Juni 2001 am Puerto de las Palomas-Pass 800 Hektar besten Pinien- und Kiefernwaldes in Flammen.
Dörfer können jünger werden
Jetzt, im September, fällt der Regen häufiger. Gerade zieht wieder einmal ein Gewitter heran, aus den Wolken glitzert und blitzt es. Die Vögel verstummen. Als die ersten Tropfen fallen, riecht es nach Staub und Rosmarin. Und im Dorf La Capellania kommt Bewegung auf. Doña Gracia stürzt aus ihrem Haus, gefährlich schnell für eine Achtzigjährige. Sie rafft die aufgeschnittenen Tomaten zusammen, die sie zum Trocknen auf einen Handwagen gelegt hatte. Als sie den Blick hebt, um die Heftigkeit des Gewitters abzuschätzen, sieht sie drei, die es noch eiliger haben als sie.Mit angewinkelten Schwingen, die langen Beine als Landeklappen ausgefahren, gleiten die Geier zu den Kalktürmen hinter ihrem Haus. Sie unterfliegen einen Vorsprung, um im letzten Moment in steil aufgestelltem Bremsflug das Sims zu erreichen.

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Doña Gracia mag die Geier: "Die wissen immer, was sie tun." Geier geben ihr für Augenblicke die Illusion, dass noch alles so ist, wie es immer war. Tatsächlich hat sich in La Capellania vieles verändert, und nicht nur zum schlechten. So ist es schöner geworden, ihr Dorf, weiß getüncht, Oleanderbüsche an den Hausecken, keine einzige zerborstene Schindel auf irgend einem Dach. Dörfer können jünger werden, wenn sie vom Geldstrom benetzt werden. In diesem Fall waren es Förderströme des Programms für naturverträglichen Tourismus.
Gewitterstürme erinnern an vergangene Jahrmillionen

Doña Gracia selbst ist nun fast zu alt, um hier auf sich gestellt zu leben, eine von acht verbliebenen ständigen Bewohnern, die auch im Schneetreiben an den halb offenen Küchenfeuern ausharren. So wie es sich gehört für die Menschen der Berge. Wer dem Winter nicht standhält, ist den Bergsommer nicht wert. Noch kommt ihr Sohn regelmäßig, der unten am großen Embalse del Tranco, dem Stausee, einen Olivenhain hat. Öko-Anbau! Aber die meisten Bewohner kehren nur noch in den großen Ferien zurück. Dann blinkt hier viel Blech und Chrom in der Sonne. Im September fahren die Jäger vor. Und die tun Dinge, die man früher nicht tat: nehmen nur die Geweihe und lassen das kostbare Wildbret unter der Sonne verludern. Ein Fressen für Fliegenmaden und Geier.
Den großen Vögeln gönnt Doña Gracia das mürbe, grüne Fleisch. Denn die Geier waren schon immer da, und sie werden vielleicht auch noch da sein, wenn die Zwei-Monats-Fincas der Reichen verfallen sind.
Doña Gracia rafft die Tomaten in eine Tonschüssel. Ein Seufzen geht durch die Kiefernnadeln, die Brise vor dem Gewittersturm. Und einen Moment scheint es, als liefen Schauer über die Bergflanken, in Erinnerung an die Jahrmillionen, als Meeresströme über die Kalkhaut rollten.
