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Menschen auf Saaremaa
Auf dem Leuchtturm. Nach langem Schweigen hebt Matti Sepp, der Wärter, den Blick vom Kieselstrand tief unten. Liebe? - sagt er, nein, Liebe kann man es wohl nicht nennen. Matti hat gerade sein Frühstück hinter sich, ein Glas Buttermilch, dazu gebratene Scholle, im Haus unten riecht's noch danach. Seit 32 Jahren wohnt er mit seiner Frau am Leuchtturm von Sääre auf der Insel Saaremaa, ihre fünf Kinder wuchsen hier auf. So lange so abgelegen leben, 25 Kilometer vom nächsten Ort entfernt - was mag Matti denn an Sääre so sehr?
Menschen auf Saaremaa: Ein spezielles Völkchen

Schweigen. Mittlerweile hat der Morgenwind den steinigen Strand blankgeputzt. Der Nebel hängt nun über der Bucht von Riga im Süden. Bei klarem Wetter könnte man jetzt Lettland sehen. 52 Meter unter uns liegt erstreckt sich Saaremaa, die grösste von 500 estnischen Ostseeinseln, die zweitgrösste in der Ostsee überhaupt. Wie ein klobiger Angelhaken zwängt sich ihre südliche Halbinsel Sölve in die Bucht. Im Nordteil sieht man Kiefernwälder, Ginster, Wacholder, Buschrosendickicht, Rotdorn, Schilfhaine, Bucheninseln, Birken. Die Bäume stehen am Wasser. Die Ostsee ist hier nicht sehr salzig. Ein hölzerner Kirchturm, eine Windmühle heben sich aus dem Grün. Matti Sepp hat kleine Schweissperlen auf der Stirn. All meine Fragen, warumwiesoweshalb...Das viele Reden... Seit Menschengedenken gibt es hier einen Leuchtturm. Er ist der höchste in Estland, 247 Stufen muss Matti ersteigen, einmal am Morgen, einmal am Abend. Hinter dem Haus, das noch aus der Zarenzeit stammt und gusseiserne Treppen hat, steht ein kleiner dichter Märchenwald. Früher spielten dort Mattis fünf Kinder. Drei Familien mit zwölf Kindern wohnten damals am Südende der Insel. Das war zu Sowjet-Zeiten, als zehn Mann den Leuchtturm bedienten, den U-Boot-Verkehr regelten, Radiokommunikation vermittelten. Sogar eine Metereologische Station gab es. Es herrschte reger Betrieb in der Einsamkeit. Heute ist Matti der einzige, der am Leuchtturm arbeitet. Neun Jahre hat er noch bis zur Pensionierung. Neun Jahre Treppensteigen, den Schiffen in den Hafen leuchten, angeln, baden, aufs Meer sehen, den Wind mit Bierflaschen messen. Und eine schöne Scholle zum Frühstück.
Kriminalstatistik: Das letzte schwerere Verbrechen liegt vier Jahre zurück
Auf der Präfektur. Kalle Laanet, der Präfekt von Saaremaa, hat rote Haare, blassblaue Augen, einen bemerkenswert runden Kopf und ein vertrauenerweckendes Lächeln. "Was wollen Sie wissen?" Kalle ist 35. Vor 20 Jahren sagte ihm sein Vater: "Entweder du fährst zur See, oder du wirst Polizist." Kalle wurde Polizist, und er hat es nie bereut. Sein Büro im obersten Stockwerk des alten Hurenhauses von Kuressaare, der Hauptstadt der Insel, ist mit Medaillen, Kurs-Diplomen, amerikanischen Cop-Mützen dekoriert: Kalle hat an FBI-Lehrgängen teilgenommen. Seine Uniform lässt er meistens im Schrank, er mag sie nicht. Der Präfekt will nicht als Amtsperson auftreten, er ist lieber der Kumpel in Polohemd und Jeans. Man kann sich kaum vorstellen, dass er noch unter den Sowjets als Polizist angefangen hat. Kalle lacht: "Kann ich auch nicht. Was meinst du, wieviel Mühe es mich nach der Unabhängigkeit gekostet hat, meinen Bullen einzubläuen, dass sie die Leute nicht zu bestrafen haben, sondern ihnen dienen sollen." Wirklich, er sagt "dienen". Viel hat sich in Estland verändert seit 1990. Davor hiess der Chef der Polizei von Sääre militärisch: Oberst. Jetzt heisst er zivil: Präfekt. Mit 49 Kollegen sorgt Kalle für Recht und Ordnung auf der Insel. Nicht viele für 40 000 Menschen, 15 000 davon in Kuressaare (früher Ahrensburg). Aber das letzte schwere Delikt liegt vier Jahre zurück: ein Totschlag unter Betrunkenen.
Stille und Frieden
Wir schlendern über den Marktplatz. Kleine gelbe und rosa Häuser, das Rathaus, ein Marktplatz, ein Denkmal, eine Selbstbedienungsgaststätte mit estnischem Essen, zum Beispiel gekochtem Schweinefleisch mit Sahnesosse. Kalle isst Vorsti, das sind daumengrosse Würstchen. Vorsti hier, Vorsti da: Die Esten sind die grössten Wurstesser der Welt. Es gibt Vorsti-Paella, Vorsti-Tacos, Vorsti-Super-Burger (lieber nicht probieren). Aus dem Fenster der Gaststätte kann man auf den Marktplatz sehen. Da stehen zwei dunkle Mercedes, sportliche junge Männer davor. »Gibt es hier eine Mafia?« »Naja«, sagt Kalle Laanet, der Präfekt von Saaremaa, »die entspannen sich hier nur, Urlaub.« Er trinkt sein Glas Buttermilch und sieht nicht mehr aus dem Fenster.
Burgfriede: Stille ist ein Markenzeichen der Insel
Auf der Burg. Hilja Prull, einst Generalkustos der Bischofsburg von Kuressaare, isst unter sechs Zarenportraits zu Mittag. Selbstverständlich trinkt auch sie ein Glas Buttermilch, während sie ein Wurstbrot in briefmarkengrosse Häppchen zerteilt, akribisch und krümelfrei. Sie war heute beim Friseur, hat sich eine neue Bluse angezogen. Lächelnd sitzt sie zwischen Karteikästen, 25 000 Fotos lagern darin. Hier ist ihr Reich. Zwar ist sie seit 1990 im Ruhestand, aber nur der Form halber. Hilja Prull kann man nicht pensionieren, denn sie ist mit der Burg von Kuressaare verheiratet, seit 1965, und niemals hat es einen Ehekrach gegeben: Bis dass der Tod Euch scheidet. Sie hat keinen Garten, keinen Hund, keinen Wellensittich, keinen Mann, keine Kinder. Sie hat die Burg, die einst dem Livländischen Ritterorden gehörte, dann dem Bischof, ein nordisch-kompaktes, streng geometrisch angelegtes Trutz-Bauwerk, einzigartig im Baltikum.
Karatekurse bringen die Menschen in die Kirche
In Valjala. Gustav Kutsar sieht aus wie Richard Chamberlain in »Die Dornenvögel«. Er ist Karatelehrer - in seiner Freizeit. Im Hauptberuf ist er der Pfarrer von Valjala - deutsch einmal Wolde genannt -, wo die Martinskirche steht, die älteste Estlands. Pfarrer Kutsar war einmal Eisenbahner, bis 1981. Da betrat er zum ersten Mal eine Kirche. Er entdeckte seinen Glauben. Was unterm Kommunismus zugleich hiess: Er verlor seine Arbeit, seine Wohnung, seine Freunde. Aber das alles ist weit weg, kein Zorn mehr, keine Klage. Der Sowjetstaat, der ihm soviel nahm, ist für Kutsar nur noch eine hässliche Episode, ein abgeschlossenes Kapitel. Nach Valjala kam er vor zehn Jahren, wurde der 23. Pfarrer des Ortes seit der Reformation. Mit eigenen Händen baute er die schöne Kirche wieder auf. Mit seiner Familie wohnt er im Pfarrhaus aus dem 17. Jahrhundert. Jeden Tag dankt er Gott für den guten Weg, den sein Leben genommen hat. Und ein bisschen auch für seine Karatekunst. Seine Kurse in der Kleinstadt Orissaare sind bei den Kindern und jungen Leuten gefragt. Und wer zu Kutsars Karate kommt, erscheint früher oder später auch in Kutsars Kirche.

Es ist später Nachmittag, die Leute in Valjala versammeln sich auf dem Friedhof, harken die Gräber ihrer Vorfahren. Zwischen Ginster und Wacholder stimmt ein Chor ein Lied an. Die Menschen bewegen sich gemessen und achtsam. Es sind nicht nur Einwohner von Valjala, sondern auch viele, die jetzt woanders leben. Aus ganz Estland, aus Tallinn, aus Dorpat sind sie für heute in ihre Heimat zurückgekehrt, denn heute ist ein besonderer Tag: Jaani Päev, Ivanov djen, Johannistag, Mittsommernacht. Da gedenkt man der Lieben, pflegt ihre Gräber, singt gemeinsam. Und freut sich am Anblick der Birken - sind sie hier nicht anmutiger als irgendwo sonst ? -, geniesst den Geruch des Wacholders - duftet er nicht nirgendwo kräftiger als in unserem Valjana ? Ihren Pfarrer müssen sie nicht überzeugen. Er ist längst einer der ihren.
Delikatesse zur Mittsommernacht: Vorsti - wie an allen 360 Tagen
Auf dem Bauernhof Sepa Talu. Alle sind sie versammelt: Aive Lonks, Aser Lonks, Aavo Lonks, Aivo Lonks. Der Johannistag wandelt sich zum Johannisabend. Dann entzünden die Esten Freudenfeuer, teils fürs Spektakel, teils fürs Grillen. Was grillen sie? Genau: Vorsti.
Herr Aaser Lonks, Frau Aive und ihren beiden Söhnen sind allerdings Dissidenten. Sie essen auch (und lieber) geräucherte Schollen mit Gurkensalat und - hausgemachtes Bier. Zweimal im Jahr brauen es die Lonks auf ihrem Bauernhof, 80 Liter, dick, milchig. 36 Stunden muss es gären, dann ist es süss und klebrig, und als Fremder sollte man sehr vorsichtig damit sein. Die Lonks leben im Vogelreservat Vilsandi, im Nordwesten der Insel. Nicht weit von ihrem Hof liegt das Informationszentrum der Vogelschutzwarte (mit Hotel und Café). Die Bauernfamilie war noch nie dort. Vögel interessieren die Lonks nicht. Sie haben genug mit ihren Schweinen zu tun, den Schafen, Gänsen, Kühen und den Hühnern. Sie heissen in Estland "Broilerid". Ausser Brot, Salz, Zucker, Gewürzen und Öl müssen die Lonks nichts kaufen. Auch den Wodka machen sie selbst.
Die Selbstversorgung hat keinen öko-romantischen Hintergrund, sie wird von der wirtschaftlichen Situation diktiert. Die neue Zeit ist in Estland nicht gut zu den Bauern gewesen. "So schlecht, wie man sagt, war's früher auch nicht", sagt Herr Aaser. Er spricht fliessend Russisch. Sein Sohn Aavo lernt lieber Englisch. Die Nacht senkt sich kühl und feucht über die Insel. Überall springen die Johannisfeuer wie Irrwische auf. Auch bei Lonks im Garten prasseln die Flammen. Der Hund Pizuzu bellt. Die Familie isst und schweigt, und ich schweige mit. Wir trinken das Selbstgebraute und warten, bis die Kopfschmerzen kommen.
Link zum Thema:
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