Inhaltsverzeichnis
Der Wikinger Gunnbjörn soll Grönland im Jahr 875 als Erster gesehen haben. Erik der Rote kam 982. Ich musste bis zum August 2001 warten, bis ich die Insel sehen konnte. Ich war mit der üppigen Abendmahlzeit der SAS beschäftigt, als direkt hinter meinem Radicchio-Salat Grönland im Kabinenfenster auftauchte.

Kein Anzeichen deutet darauf hin, dass dort unten Menschen leben. »Damals, vor langer Zeit, als die Erde enstehen sollte, stürzten sie von oben herab. Erde, Felsen und Steine, hoch vom Himmel nieder.« So heißt es in einer alten Inuit-Legende. Das Innere der Insel ist inzwischen von dreitausend Metern Eis bedeckt, nur einige schmale Küstenbereiche im Süd- und Westteil sowie Pearyland im äußersten Norden blieben frei. Auf diese schmalen Streifen bezog sich Erik der Rote, als er der Insel den Namen »Grünland« gab.
Vom Flugzeug zum Schiff
Im Flughafengebäude hatte sich dann dem Anschein nach ein Großteil der 56 000 Menschen zählenden Bevölkerung versammelt. Einer, den ich bewusst wahrnahm, war groß, dünn, bärtig, hieß Christian und trug ein Schild mit der Aufschrift »Norden Tours«. Um ihn scharte ich mich vertrauensvoll. Dann verfrachtete er mich zusammen mit meinen Koffern und etwa 40 Mitreisenden in einen Bus, der uns zu unserem Schiff bringen sollte.

Am Hafen wartete die »MS Brand Polaris«, ein Schiff immerhin der Eisklasse 1A1. Sie lag etwa einen Kilometer vom Landungssteg entfernt. Ob der Kapitän die Anlegestelle verfehlt hatte oder ob das Wasser wirklich so flach war, wie Christian behauptete, ließ sich so schnell nicht nachprüfen. Mit Schlauchbooten wurden wir kurz darauf vom grönländischen Boden, auf dem wir gerade mal eine Stunde verbracht hatten, abgeholt und zu dem Boot transportiert, das sich anschickte, bis in die Nähe der Packeisgrenze vorzustoßen.
Schwimmendes Grand Hotel
Acht Tage werden wir auf diesem Schiff verbringen, wobei uns pro Tag einige Stunden Auslauf an Land zustehen. Das Leben auf der »Brand Polaris« muss man sich wie eine Mischung aus Universität, Grand Hotel und Weltraumkapsel vorstellen. Universität, weil wir dank einer Meeresbiologin, eines Anthropologen und eines grönländischen Hoteliers aus Thüringen alles über Grönland erfahren. Grand Hotel, weil wir hervorragend und freundlich umsorgt werden. Weltraumkapsel, weil die Außenwelt wie ein fremder Planet erscheint, den wir nach langer Reise durch Zeit und Raum erreicht haben.

Der erste Landgang wird mit großer Umsicht durchgeführt. Ein ausgeklügeltes System sorgt dafür, dass man auf dem Schiff immer genau weiß, welcher Passagier sich an Bord oder an Land befindet. An einem Brett neben der Gangway hängen Plaketten mit Kabinennummern. Wer von Bord geht, dreht seine Marke von der grünen auf die rote Seite. Hängt eine rote Plakette mehr als zwei Tage am Brett, weiß der Chefsteward, dass er ein Gedeck weniger auflegen muss.

Walknochen als Stadttor
Am nächsten Morgen sind wir schon in der Disko-Bucht und ankern vor Qeqertarsuaq. Nach Robben-, Wal- und Fischfleisch konsumieren die Grönländer am liebsten den Buchstaben »Q«. Statt einer Walfangquote wäre also eine »Q«-Fang-Quote erstrebenswert. Da ja in Deutschland der Buchstabe im Moment eigentlich nur für die Worte Quiz und Quatsch benötigt wird, könnten wir unsere »Qs« nach Grönland schicken, hier werden sie an allen Ecken und Endungen gebraucht.
Die Stadt Qeqertarsuaq betritt man durch einen Torbogen, der von zwei Walkieferknochen gebildet wird. Die Hauptstraße führt direkt auf die Bucht zu. Expeditionsteilnehmer, die wir sind, werden wir unruhig, als zwischen zwei Häusern etwas unförmiges Weißes aufragt: unser erster Eisberg. Eilig laufen wir ihm entgegen, was sich als unnötig erweist, er kann nicht weg, hat sich im flachen Wasser festgefahren, genau wie Dutzende seiner Kollegen, die wir sogleich alle sorgfältig fotografieren.

Jeder Berg ein Einzelstück aus Eis
Einen Tag später fällt mein Blick aus dem Bullauge erneut als Erstes auf einen Eisberg. Ein einzigartiges Motiv, niemals fotografiert man denselben Eisberg zweimal, ein Teil ist immer weggeschmolzen oder abgebrochen. Da hinten ist einer, der sieht aus wie ein Drache. Dort schwimmt einer, der ähnelt einer Zitronenpresse, und hinter dem, der einem schlechten Gebiss gleicht, ist ein ganz großer, der sieht aus wie, tja, wie eine Lagerhalle. Wahrhaftig, der Formenreichtum der Natur ist großartig und unfassbar, aber manchmal übertreibt sie auch ein bisschen.

Wo die Gletscher kalben
Gegen Mitternacht ankern wir in Ilulissat. Wir befinden uns jetzt im Herzen der Disko-Bucht, einem Ort, der es durch »Fräulein Smillas Gespür für Schnee« zu Weltruhm gebracht hat. Viele Eisberge treiben scheinbar absichtslos durch die Disko-Buch. Nicht anders könnte es vor 90 Jahren gewesen sein, als ein großer Eisberg an Neufundland vorbei Kurs nach Süden nahm und unterwegs von einem Schiff namens »Titanic« gerammt wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass er aus der Disko-Bucht kam, ist relativ hoch. Früh am Morgen fliegt ein Teil des Expeditionsteams mit dem Helikopter zur so genannten Abbruchkante des Gletschers. Wir stehen direkt oberhalb dieser magischen Linie. Eis, so weit das Auge reicht, Eis. Das ist der Jakobshavn-Gletscher, auf grönländisch Kulissat Eisfjord.
Eis als Gedächtnis des Planeten
Im Eis von Grönland ist die Geschichte der letzten 250000 Jahre gespeichert. In einem wissenschaftlichen Institut in Kopenhagen lagern mehr als 10 Kilometer Eis, aus Bohrungen bis zu 3080 Meter Tiefe, in handlichen Stücken. Forscher prüfen die Proben und sehen sofort: Da ist Pompeji untergegangen, da war Tschernobyl, da wurde das bleifreie Benzin eingeführt, da haben die Beatles das »Weiße Album« veröffentlicht. Das Eis als Gedächtnis des Planeten. Ob sich auch mein Besuch darin niederschlägt?
Arktische Fauna und Flora
Die Reise geht weiter Richtung Süden, zurück nach Kangerlussuaq. Es müssen noch viele Rentiersteaks und noch mehr Desserts gegessen werden. Auch die Vorträge über die Entstehung des Inlandeises (alles gepresster Schnee!) und die Geschichte Grönlands wollen gehört werden. Als wir vom Schiff gehen, haben wir 905 Seemeilen zurückgelegt, 43 verschiedene Pflanzen gesehen und bestimmt, darunter den Gletscher-Hahnenfuß (am zweiten Tag) und die Zwergbirke (jeden Tag). Obwohl die Region als »Arktischer Garten Eden« bezeichnet wird, haben wir nur 19 Tierarten gesehen, darunter vier Schneehühner, die ich persönlich beobachtet und fotografiert habe. Insgesamt 676 Eisberge wurden gesichtet, aber leider nicht alle fotografiert.

Schwankender Fußboden
Acht Tage sind zu wenig für die größte Insel der Welt. Doch wenn man es genau nimmt, bleibt man natürlich sehr viel länger dort. Noch nach Tagen schwankt mein Fußboden im Vordertaunus nach dem Aufwachen, und sitze ich am Esstisch, dauert es einige Zeit, bis ich begreife, dass mich kein Steward bedienen wird. Kurzfristig erwäge ich, ein Schlauchboot für kleinere Einkäufe anzuschaffen und mich Kapitän Paulsen zu nennen. Mittlerweile bin ich nur noch an meinem Schreibtisch auf Grönland: Mein Wecker zeigt nach wie vor die exakte grönländische Uhrzeit. Und in meinem Herzen treibt ein kleiner Eisberg, der niemals schmelzen wird.

»Expedition Disko-Bucht« nach Grönland
Die hier beschriebene Schiffsreise auf der MS Brand Solaris dauert neun Tage und kostet inklusive Linienflug über Kopenhagen nach Kangerlussuaq, Vollpension, Transfers, Steuern und Gebühren sowie deutschsprachiger Reiseleitung 2590 bis 5350 ? pro Person in der Doppelkabine.
Weitere Informationen und Buchung unter: www.travelchannel.de