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Ein neuer Klub hat aufgemacht. Es ist kurz vor Mitternacht an diesem Freitagabend, und das Gedränge am Eingang nimmt zu. Hinter dem roten Seil steht ein klein gewachsener Mann mit Baskenmütze und Knopf im Ohr, wirft einen Blick auf einen Mann mit Anzug und Krawatte, fragt kurz "Member? Guestlist?", bekommt ein Nein zu hören und antwortet: "Warten!". Der 32-jährige Luca Pappini ist Door Manager des "Indochine" - ihn einfach nur Türsteher zu nennen, klänge hier unpassend - und hat, seit es den neuen Edelklub in Zürich-West gibt, an jedem Wochenende das gleiche Problem: Er muss zu viele Leute abweisen.
Wer dazu gehören will, muß kräftig zahlen
Der Eingang ist mit dunklen Edelhölzern verkleidet, drinnen flackern Kerzen, lagern die Gäste auf wertvollen Kissen oder sinken in weiche Sessel. Die meisten von ihnen sind, gemessen an gängigen Klub-Kriterien, schon älter, zwischen 30 und 40 Jahren etwa, und finanziell gut ausgestattet. Denn günstig ist es nicht, ein Ambiente zu genießen, das der Pressesprecher Dani Nieth als einen "Mix aus Fernem Osten, Ying-Yang-Zeugs und französischem Glam" beschreibt. Wer Klubmitglied werden will - und nur ihnen wird der Einlass garantiert -, zahlt jährlich 1200 Franken, Getränke und Speisen nicht inbegriffen.
Remmidemmi bis fünf Uhr früh
Was für ein Wandel. Noch vor fünf Jahren war Zürich-West ein heruntergekommener Stadtteil mit vielen Brachflächen und aufgelassenen Produktionshallen. Heute gibt es in Zürich-West laut Statistischem Jahrbuch 40 Restaurants, 21 offizielle Klubs und vier Hotels. Am Wochenende fallen bis zu 10 000 Party- und Kinogänger pro Nacht ein, Tendenz steigend. Und die Schweizerischen Bundesbahnen fahren auswärtige Nachtschwärmer noch um zwei Uhr nachts nach Basel oder Bern zurück. Oder wieder kurz vor fünf Uhr morgens. Zürich-West ist ein Label geworden für den Wandel eines Industrieareals in ein Trendquartier; ein Wandel, dessen Geschwindigkeit und Konsequenz auch außerhalb der Schweiz für Aufsehen gesorgt hat.
Niedergang in den achtziger Jahren
"Zürich-West, das ist der Abschied Zürichs von Little Big City", sagt Brigit Wehrli-Schindler, Direktorin der Züricher Fachstelle für Stadtentwicklung. Der Abschied begann bereits Mitte der achtziger Jahre, als sich auch in der Schweiz die Industrie- endgültig der Dienstleistungs-Gesellschaft beugen musste. In Zürich war davon vor allem das Gebiet jenseits der Hardbrücke betroffen. Die Industriebetriebe Maag, Sulzer-Escher Wyss und die Seifensiederei Steinfels konnten ihre traditionellen Produktionsstandorte nicht mehr halten. Auf der Brache musste etwas Neues entstehen. Aber was?
Bauland für 15 000 Franken pro Quadratmeter
Bald darauf stand ein Vorstandsmitglied der "Bank Bär" auf der Hardbrücke, über die Zürichs meistbefahrene Transitstraße führt, wies über den Stadtteil und sprach voller Überzeugung in ein Mikrofon des lokalen Radiosenders Radio 24: "Diesen Platz brauchen wir für die Banken, den ganzen Platz." Es war die Zeit der Hochkonjunktur, und in einer Studie seiner Bank war ein enormer Flächenbedarf für den Züricher Finanzsektor prognostiziert worden. Ein Quadratmeter Bauland kostete damals 15000 Franken. Doch Wirtschaftskrise und Widerstand aus dem Stadtrat bremsten die ehrgeizigen Pläne der Finanzwelt. Es folgte ein jahrelanger Grabenkrieg zwischen den lokalen Vertretern von Politik und Wirtschaft - und plötzlich war der Quadratmeter Bauland wieder für 1500 Franken zu haben, sanken auch die Mieten.
Eine neue Vision urbaner Freiheit
Es war ein Glücksfall für Zürich-West. Im Schatten der Auseinandersetzungen konnten zu beiden Seiten der mächtigen Schnellstraße nun Galeristen, Künstler und Grafiker einziehen, Schauspieler und Werbeagenturen. Viele von ihnen entstammten der Protestbewegung der achtziger Jahre, hatten gegen Autobahnbau, Wohnungsnot und Kapitalismus demonstriert - und eigneten sich nun den brachliegenden Industrieraum an, um dort ihre Vision von urbaner Freiheit zu realisieren. Ein Prozess setzte ein, wie er in vielen Metropolen des Westens zu beobachten war, von SoHo in Manhattan, Londons East End über Lissabons Hafenrand bis zuletzt am Prenzlauer Berg in Berlin. Das Schema war immer das gleiche: Junge, kreative Leute veredeln einen Stadtteil, bis er so verlockend erscheint, dass sie selber es sich nicht mehr leisten können, dort noch länger zu wohnen.
Ein kometenhafter Aufstieg
In Zürich-West folgten mehrere Kultur-Einrichtungen den Pionieren. 1996 wurden auf dem Löwenbräu-Areal an der Limmatstraße das Migros-Museum und die Kunsthalle eröffnet sowie die ersten von mittlerweile fünf weithin gerühmten Galerien. Die zeitgenössische Kunstszene, vorher nur Insidern bekannt, erhielt publikumswirksame Bühnen. Mit dem sensationellen Neubau der Schauspielhaus-Dependance, "Schiffbau" genannt, und der Rückkehr des verlorenen Sohnes Christoph Marthaler als Intendanten folgten zwei weitere Brennstufen im kometenhaften Aufstieg des Stadtteils. Und auch die Lokalpolitiker erkannten, dass sich in Zürich-West, nach Jahren des Stillstands, doch noch der große Wurf verwirklichen lassen könnte.
Der Reiz des Viertels lockt viele
Bauvorstand Elmar Ledergerber, ein Vertreter der neuen pragmatischen Linken, setzte sich mit investitionshungrigen Unternehmern, Politikern und Anwohnern an einen Tisch. Kapital und politische Visionen sollten genutzt werden, um der Stadt endgültig zu jenem Ruf zu verhelfen, um den sie alle anderen Städte der Schweiz bereits beneideten: die einzige Metropole des Landes zu sein. Inzwischen ist die Anziehungskraft von Zürich-West unübersehbar geworden. Bis zu 20 000 Arbeitsplätze sollen hier entstehen, 4000 neue Bewohner einziehen. Kaum eine Straße ist ohne Großbaustelle. Selbst einige der traditionell eher konservativen Consulting-Firmen sind dem Reiz des fiebrigen Viertels erlegen.
Kultur gilt hier als Investitionsanreiz
Michael Treina, ein junger Unternehmensberater der Firma ATAG Ernst & Young, überzeugte seine Chefs im Herbst 1999, vom noblen Paradeplatz an die nun im Trend liegende Josefstraße zu wechseln. "Da habe ich Tabus gebrochen - aber nachher waren eigentlich alle zufrieden", sagt Treina. Seit Januar 2001 produziert Kurt Aeschbacher, der bekannteste Fernsehmoderator der Schweiz, seine Late-Night-Talkshow in einem ehemaligen Versuchslabor der Gießerei Sulzer-Escher Wyss. Für Aeschbacher war klar, dass seine Sendung in Zürich-West gemacht werden muss: "Ich wollte dorthin, wo es Menschen in Bewegung, wo es Veränderung gibt." Der Moderator, dessen Visionen nicht bei hohen Einschaltquoten enden, begreift sein Engagement in Zürich-West als Teil einer Bewegung: "Soll doch niemand behaupten, Kultur sei überflüssig. Sie ist im Moment der größte Investitionsanreiz!" Aeschbacher will sein Studio nicht nur als Produktionsstätte nutzen; er hat eine Bar und eine Lounge eingebaut und möchte einen angrenzenden Café-Garten schaffen und so Zürich-West um eine weitere Oase ergänzen.
Mehr Kinosäle pro Kopf als Manhattan
Der Fotograf Alberto Venzago hat vieles von dem gesehen, was die Welt an attraktiven Wohnorten zu bieten hat. Seit 1994 wohnt er in einem 160 Quadratmeter großen Turm-Loft im Steinfels-Areal von Zürich-West: "Das ist meine Insel. "In elf Minuten ist er am Flughafen, Sushi und Thai Food gibt's um die Ecke, zudem habe Zürich mehr Kinosäle pro Kopf als Manhattan. Von dem riesigen Raum mit durchgehenden Fensterfronten aus blickt er auf Bahngeleise, Dächer und eine Müllverbrennungsanlage. In Winternächten schimmert der Schnee grün, eingefärbt vom grellen Neonlicht der Anlage. Venzago bangt allerdings um die Exklusivität seiner Wohnlage. Seit einigen Monaten versperrt ihm eine nahe gelegene Großbaustelle einen Teil seines Ausblicks. Die Lofts, die im Rahmen des Überbauungs-Projekts "West-Side" dort entstehen, sind fast alle schon vermietet.
Droht ein Schicksal wie in Soho?
Vor allem Singles und kinderlose Paare lockt der Ruf, dass es sich hier ein bisschen wie in New York leben lässt, nur sicherer und übersichtlicher. Venzago sagt: "Ich bedauere das. Der Reiz von Zürich-West ist doch das Nebeneinander von einer Kneipe, wo ich mittags für zwölf Franken essen kann, und einem Gourmet-Tempel, wo es zehnmal mehr kostet. Ich fürchte aber, bald werden sie auch hier wie in SoHo nur noch mit Gucci-Handtaschen rumlaufen." In der Tat sind die Mieten auch in Zürich-West rapide gestiegen. Vor zwei, drei Jahren gab es noch attraktive Wohnungen für jährlich 150 Franken pro Quadratmeter, heute ist für weniger als 250 Franken kein neuer Wohnraum mehr zu bekommen, bei Büroflächen reicht der Preis bis 400 Franken. Viele der Künstler, die günstigen Arbeitsraum gefunden hatten, mussten das Viertel verlassen. Abriss und Neubau sowie Luxussanierung drohen Zürich-West zu einem Wohnort ausschließlich für Begüterte zu machen.
Ein Erfolg, den viele Städte nachmachen möchten
Eine Fehlentwicklung, meint Christian Schmid, Stadtforscher und Soziologie-Dozent an der ETH-Architekturabteilung. Man habe noch nicht begriffen, dass gerade die Mixtur aus arrivierter Gesellschaft und experimenteller Subkultur Zürichs Westen urban mache, dass die Anarchokneipe neben der hochpreisigen Kunstgalerie leben müsse. Brigit Wehrli-Schindler, die Direktorin für Stadtentwicklung, sieht das entspannter: "Wir wollen diese Zuzügler, das sind gute Steuerzahler. Es müssen ja nicht überall Familien mit Kindern wohnen." Noch nimmt der Verkehr in Zürich-West ständig zu, noch gibt es mehr Baustellen als je zuvor, noch ist die Anziehungskraft des Viertels ungebrochen. Dessen neues Wahrzeichen, der Turm des Internet-Providers Bluewin, erstrahlt am Escher-Wyss-Platz Nacht für Nacht in einem fluoreszierenden Blau. Und Brigit Wehrli-Schindler hört oft von Vertretern anderer Städte die immer gleiche Frage: "Wir möchten bei uns auch so ein urbanes Quartier. Wie habt Ihr das gemacht?" Die Direktorin weiß keine Patentantwort. Es müsse wohl am Geist von Zürich gelegen haben. Eines ist ihr gewiss: "Kopieren kann man den nicht."
Linktipps zum Thema "Zürich-West"
Homepage des Präsidialdepartments der Stadt Zürich, Abteilung Stadtentwicklung. Hier gibt es Entwicklungspläne für Zürich-West als Downloads: http://www.stadt-zuerich.ch/fste/pro_zuerich_west.htm
Infos über Infrastruktur, Orientierung, Sport, Erholung, Kneipen etc. gibt es in diesem Zürich-West-Dossier der Neuen Zürcher Zeitung (Stand Sept. 2000): http://www.nzz.ch/dossiers/2001/stadtentwicklung/