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Carlo & Giorgio, Kabarettisten
"Ja, wir wohnen noch zu Hause bei Mamma und Papa. Also Vorsicht! Passt bloß auf den Gummibaum auf! Wir sind Cousins und auf Murano aufgewachsen, zwischen den Glasfabriken. Zuerst sind wir bei Familienfesten aufgetreten, an denen beteiligten sich alle mit Liedern und Sketchen. Später spielten wir mit unseren Vätern in der Theatergruppe der Pfarrei von San Pietro. Unser Programm sind die Venezianer, Prototypen, in denen sie sich selbst, oder besser noch ihre Nachbarn, wiedererkennen können. Venedig ist in unseren Stücken eine Hölle, mit pece alta und pece bassa, Hochpech und Niedrigpech, eine Hölle ohne Wohnungen, ohne Geschäfte und mit unbezahlbaren Grabstellen.
Ausverkaufte Kabarett-Abende
Wir wollen mit unserem Kabarett eine venezianische Tradition wieder aufleben lassen. Jede Region Italiens hat ihre eigene Komikertradition, nur in Venedig ist nach Goldoni nichts passiert. Am Anfang, als wir bei verschiedenen Bühnen und Kneipen angeklopft haben, sagten alle: "Vergesst es! Kabarett funktioniert hier nicht." Heute ist das Teatro Goldoni bei jedem unserer Auftritte ausverkauft. Unsere Fan-Clubs mussten wir bereits etwas bremsen. Sie wollten einen Numerus clausus einführen und nur noch Fans aufnehmen, die unsere Show bereits zehnmal gesehen haben."
Conte Ranieri Da Mosto, Journalist
"Unsere Familie lebt erst seit 100 Jahren im Palazzo Muti Baglioni. Mein Großvater hat das Barockgebäude gekauft. Der ursprüngliche Palazzo Da Mosto liegt am Canal Grande. Er ist einer der ältesten Palazzi Venedigs, im Jahr 1260 hatte ihn meine Familie bezogen. Dort lebte einer unserer berühmtesten Ahnherren, Alvise Da Mosto, Admiral im Dienst des portugiesischen Königs, Entdecker der Kapverdischen Inseln und Befehlshaber der venezianischen Flotte im Handel mit Ägypten.
Venezianische Ränkespiele
Heute ist Venedig nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Stadt ist heruntergekommen und wurde durch die Deportation von 120 000 Venezianern geschwächt. Schreiben Sie das ruhig: Deportation! Ich meine es ernst. Es handelt sich schließlich um eine ethnische Reinigung - durchgeführt von der kommunistischen Stadtverwaltung, die die Venezianer hasst. Für sie ist die Stadt nichts anderes als ein großer Futtertrog, und ich weiß, wovon ich rede, ich habe 35 Jahre lang als Journalist bei der RAI gearbeitet und war im Stadtrat unter dem linken Bürgermeister Cacciari. Ich habe mitgeholfen, die Volksabstimmungen für die Trennung von Venedig und Mestre zu organisieren, viermal in 30 Jahren. Leider ohne Erfolg, andernfalls wären Venedig und Mestre jetzt eigenständige Städte, und die Linken hätten keinen Zugriff mehr auf Venedig. Dann könnte endlich das Geld, das in Venedig verdient wird, hier ausgegeben werden und nicht für Straßen in Mestre.
"Die Hochwasserschleuse ist unsinnig"
Heute würden sicher 30000 Venezianer wieder zurück in ihre Stadt ziehen - wenn die Mieten erschwinglich wären. Aber wer kann schon 2000 Euro monatlich für eine kleine Wohnung bezahlen? Anstatt Milliarden für diese unsinnige Hochwasserschleuse auszugeben, hätten Wohnungen gekauft werden sollen. Das Schicksal der Venezianer interessiert niemanden."
Alberto Garbizza, Fischer
Eigentlich leben wir ja in einem Kloster, aber unter Napoleon wurde es in eine Kaserne umgewandelt. Ans Militär erinnert noch eine Inschrift über dem Klostergang: credere, obbedire, combattere - glauben, gehorchen, kämpfen. Das haben die Faschisten anbringen lassen. Das Kloster gehört heute dem Staat, 20 Familien leben in den Sozialwohnungen. Wir sind vor 30 Jahren eingezogen.
Eine Frau in Schwierigkeiten Hier ist alles etwas wackelig, die Kinder mögen solche Wohnungen nicht mehr. Meine Tochter ist nach Mestre gezogen, mein Sohn auf den Lido. Sie wollen halt das Auto vor der Haustür haben. Ich nutze ein Zimmer als Lager für Netze und Reusen, in modernen Wohnungen wäre das undenkbar. Drei Monate lang haben meine Frau und ich versucht, in Mestre zu leben. Wir haben keinen Führerschein, Fahrrad fahren können wir auch nicht. Ständig sind wir bei Rot über die Ampel gelaufen. Wir sind schnell wieder zurückgezogen. Das Leben in Venedig ist so, als ob man eine Frau liebte, die in Schwierigkeiten ist. Liebe bedeutet, dass man Schwierigkeiten überwindet. Ich bin in Venedig geboren, ich werde hier auch sterben.
Leben mit Wind und Sonne
Heute gibt es kaum noch Fischer in Venedig, in Castello sind wir nur noch zu zweit. Ich finde mich auf dem Meer auch ohne Kompass zurecht, ich lese die Richtung aus Wind und Wellen: ob sie kurz und gerollt oder lang und gerade sind, ob ich den Wind hinter den Ohren habe, oder ob er mir vor der Stirn steht. Und wenn die Sonne aufgeht, dann nehme ich meine Mütze ab und grüße sie.
Alberto Garbizza liebt das Meer, Kafka und die Oper Ich liebe das Meer und Kafka. Gegen Kafka sind alle anderen Schriftsteller wie tiefgekühlter Fisch. Meine andere Leidenschaft ist die Oper. Wenn ich Netze flicke, höre ich französische Opern, am liebsten "Manon" von Massenet. Vor zehn Jahren habe ich angefangen zu singen, venezianische Lieder und die Kriegshymne von San Marco: Le glorie del nostro leon. Ich würde nie Gondelserenaden singen, denn Serenadensänger sind wie Nutten. Je früher du sie aus der Gondel wirfst, desto besser. Einmal war ich bei einer Gesanglehrerin auf der Giudecca, ich wollte wissen, ob ich eine Tenorstimme oder einen Bariton habe. Meine Sängerkarriere währte nur kurz, ich habe etwas aus "Aida" vorgesungen, da hat mich die Lehrerin rausgeschmissen. Es war wohl etwas zu laut. Ich bin es eben gewohnt, gegen das Meer anzubrüllen."
Ulrich Tukur, Schauspieler und Sänger
"Venedig ist ein wunderbares Bühnenbild - aber du musst dein eigener Autor sein; das denke ich immer, wenn ich hier aus dem Fenster blicke. Eine fast zerbrochene Liebesgeschichte brachte mich nach Venedig. Das war im Frühjahr 1999, ich war der Frau bis nach Madrid hinterhergereist und wollte ihr jeden Wunsch erfüllen. Sie sagte: Ich will in Italien leben. Ich sagte: Gut. Aber wo? In Genua, antwortete sie. Aber Genua war laut und hässlich. Wir überlegten, welche Hafenstadt uns gefallen könnte. So verfielen wir auf Venedig. Als wir ankamen, regnete es, es herrschte Hochwasser.
Mit Gummistiefeln an der Rezeption
Wir zogen in eine Pension, an der Rezeption stand ein Mann mit Gummistiefeln im Wasser. Diese Selbstverständlichkeit beeindruckte mich. Irgendjemand bot uns dann die Wohnung eines Gondoliere auf der Giudecca an. Sie war in einem katastrophalen Zustand, es regnete rein, was ich aber glücklicherweise nicht gesehen hatte. Kurze Zeit später saßen wir dann in diesen verwahrlosten Räumen, ohne warmes Wasser und ohne Heizung, weil die Gastherme zusammengebrochen war. Und in der Hand hielten wir das Buch "Italienisch lernen ohne Mühe". Ich war hysterisch, und sie weinte. Unsere Nachbarin hat uns gerettet und rief die Handwerker.
Alte, Kranke, Junge und Verrückte
Auf der Giudecca kennen mich alle nur als il killer di commissario Rex, weil ich in dieser Serie Tobias Moretti ermorden musste. Dieser Stadtteil ist das Sankt Pauli Venedigs. Hier leben Alte, Kranke, Junge, Verrückte - ein dauernder Kindergeburtstag. Wenn ich aus dem Fenster sehe, dann scheint mir die Stadt immer noch unwirklich. Wie eine losgerissene Blüte, die im Meer versinkt."
Geoffrey Humphries, Maler
Obwohl ich mein halbes Leben in dieser Wohnung verbracht habe, kann ich mich immer noch für die Aussicht begeistern: auf die Zattere-Promenade und die Gesuati-Kirche. Am schönsten ist der Blick am frühen Morgen und am Abend, dann sieht Venedig aus wie eine orientalische Stadt. Als ich 1966 in diese ehemalige Fabrik auf der Giudecca zog, wohnte in jedem Zimmer ein Kunststudent. Wenn die Gasrechnung kam, verschwanden alle. Die Giudecca war damals das billigste Stadtviertel von Venedig. Ich bin in England aufgewachsen und habe Kunst studiert.
Die meisten Künstler gehen nach Deutschland oder nach Amerika, um zu arbeiten. Nach Venedig ziehen sie erst, wenn sie alt sind und ihre Karriere hinter sich haben.
"Heute schläft die Stadt um zehn"
Anders als heute, wo Venedig um zehn Uhr abends in Tiefschlaf fällt, fing in den 1960er Jahren das Leben um diese Uhrzeit überhaupt erst an. Peggy Guggenheim ließ sich mit ihren Schoßhündchen über den Canal Grande fahren, die Königin von Jugoslawien wohnte im Gritti und nahm jeden Tag in Harry's Bar ihren Drink. Kit Lambert, der Manager der Gruppe "The Who", lebte im Palazzo Dario und gab ständig Partys. Die Kunstszene in Venedig war lebendig, ich verdiente viel Geld mit meinen Porträts, das Leben war billig. Dann verfielen in den siebziger Jahren die Preise, ich musste sogar das Holz verkaufen, mit dem ich die Wohnung renovieren wollte. Die Galerien schlossen, und ich dachte: Vielleicht bist du an der falschen Haltestelle ausgestiegen ... "