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Liebeserklärung an Neapel

Eine Stadt der Gegensätze - heiß, eng, laut, arm und andererseits prächtig wie die Galeria Umberto I, anrührend und still. Eine Stadt, die man liebt oder hasst. "Neapel hat mich betört", sagt Petra Reski. Hier erzählt sie warum. Mit Fotogalerie

Inhaltsverzeichnis

Hals über Kopf verliebt

Vielleicht liegt es am Geruch. Neapel riecht wie ein Mann, der sich in Erwartung einer Frau zu stark parfümiert hat - und dem man wegen dieser Schwäche sofort alles verzeiht. Es ist ein Odeur aus Auspuffgasen, Meer und Basilikum.

Hals über Kopf verliebt

Shopping zwischen alten Mauern: Die Via San Biagio dei Librai
Shopping zwischen alten Mauern: Die Via San Biagio dei Librai
© Peter Rigaud

Der Geruch sei der Geist des sterblichen Teils der Menschen, der Dinge, der Städte. Das schrieb der Surrealist Alberto Savinio. Wenn man den Geruch des anderen akzeptiert habe, sei die rationale Phase und die Phase des Widerwillens überwunden. Nun begehre man den sterblichen Teil des anderen: diesen liebe man. Als ich die klugen Worte las, war es schon zu spät, Neapel hatte mich längst betört. Ich war verloren.

Im Fiat Panda und ohne Stadtplan

Die rationale Phase und die Phase des Widerwillens hatten bei mir nicht lange gedauert, schätzungsweise eine halbe Stunde, weil ich beim ersten Mal im Regen ankam, einen Fiat Panda als Mietwagen fuhr und keinen Stadtplan dabeihatte. Außerdem stand Neapel damals noch in dem Ruf, eine Stadt der Straßenräuber zu sein, was nicht ganz falsch war.

Grotten in barocken Pallazi

Ich wunderte mich über jeden Passanten, der mir freundlich den Weg erklärte und keinerlei Anstalten machte, mich auszurauben. Ich fuhr an bläulich angelaufenen Christusgesichtern vorbei, an kleinen, schlecht beleuchteten Fegefeuern, in denen die Seelen von Priestern, Bischöfen und alten Frauen zappelten, an Wohnungen, die man wie Grotten in barocke Palazzi gegraben hatte. Hinter den halb geschlossenen Fensterläden der Grotten funkelten Einbauküchen, vor ihnen waren Wäscheständer platziert, mit denen der Parkplatz vor der Haustür freigehalten wurde.

Wie eine lang vermisste Verwandte

Als ich im Hotel ankam, begrüßte mich der Direktor wie eine lang vermisste Verwandte. Ich sah, dass er seine Augenbrauen mit Brauenstift nachgestrichelt hatte. Der Golf von Neapel flimmerte im Abendlicht, und ich lief los, Richtung Spaccanapoli, der Hauptschlagader Neapels. Ich hoffte, dass mir niemand meine Fremdheit ansehen würde, aber schon an der Piazza Bellini machte mich ein Kellner mit nachsichtigem Blick auf meinen allzu leicht zu öffnenden Rucksack aufmerksam. Ich lief an ochsenblutfarbigen Wänden vorbei und an den griechischen Fundamenten von Neapolis und trank einen Espresso in der Pasticceria "Scaturchio", wo die Spezialitäten des Hauses "Orangensaphir" heißen oder "Schoko-Rum-Entzücken". Ich saß auf der Piazza San Domenico Maggiore und beobachtete das Leben um mich herum.

Kinder mit Gewehren, Nonnen mit cornetti

Eine Nische für die Kunst: In Neapel trifft man an jeder Ecke auf kleine Schmuckstücke aus alten Zeiten, wie hier an der Piazza Pignasecca
Eine Nische für die Kunst: In Neapel trifft man an jeder Ecke auf kleine Schmuckstücke aus alten Zeiten, wie hier an
der Piazza Pignasecca
© Peter Rigaud

Ein Mann schob einen Kinderwagen vorbei, in dem ein kleiner Junge saß, der ein riesiges Spielzeuggewehr in der Hand hielt und auf eine im Rinnstein sitzende Ratte zielte. Ein anderer Mann schob ebenfalls einen Kinderwagen vorbei. Darin lagen Britt-Schwämme, Klobürsten, Plastikhandschuhe, Tempotaschentücher, Feuerzeuge in Form von Handgranaten und Spülmittel mit Blutorangen-Aroma. Am Verdeck des Kinderwagens baumelten pinkfarbene Handfeger im Sonderangebot. Dann kamen acht afrikanische Nonnen über den Platz, in der Hand mit Sahne gefüllte cornetti. Der Mann, der den Putzmittel-Kinderwagen schob, rief einer Nonne zu: "Schwester, kannst du was gebrauchen?"

"Ich hätte heulen können"

Schließlich lief ein in Lumpen gekleideter Mann über den Platz. Er blieb vor mir stehen. Ein säuerlicher Hauch umwehte ihn. Entgegen meiner Gewohnheit reichte ich ihm zwei Euro. Er nahm sie und sagte: "Sie haben da ein sehr schönes Heft, in das Sie schreiben, es erinnert mich an meine Volksschulzeit. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag!" Und dann hätte ich heulen können.

Gezeter, Gangster, Zärtlichkeit

Madonna in der Muschel: Die Auftritte ihrer Heiligen inszinieren die Neapolitaner mit grenzenloser Fantasie
Madonna in der Muschel: Die Auftritte ihrer Heiligen inszinieren die Neapolitaner mit grenzenloser Fantasie
© Peter Rigaud

In Neapel zählt jeder Mensch zehnfach, die Gassen sind erfüllt von gellendem Gezeter und unverhoffter Zärtlichkeit und manchmal auch von Gangstern der Camorra, die auf offener Straße eine Rechnung begleichen. Sie sind voll von anämischen Adligen, linksbewegten Stadtplanern und heidnischen Gläubigen, die ihrem Stadtheiligen San Gennaro mit Prügel drohen, wenn er nicht pünktlich sein Blut wallen lässt. Und überall sind Lottoannahmestellen, in denen man eine 58 tippt, wenn man von einem Biss ins Brot geträumt hat und eine 78, wenn einem im Traum Zitronenbäume erschienen sind.

Straße der Krippenfiguren

Bei jedem Besuch in Neapel habe ich das Gefühl, weiser zu werden. Der Weg zur Erleuchtung führt mich immer zuerst an zwei Orte: in die Via San Gregorio Armeno und in das Archäologische Museum. In der Via San Gregorio Armeno, der Straße der Krippenfiguren, kaufe ich mir jedes Mal San-Gennaro-Büsten und bewundere die neuesten Schöpfungen, zuletzt einen Mussolini, den ich für Berlusconi hielt. "Sehen Sie nicht die dicken Lippen?", sagte der Verkäufer vorwurfsvoll, "nur Mussolini hat so dicke Lippen!" Daneben stand ein Elefant, auf dem Bin Laden ritt, und ein George Bush, der in der Hand etwas hielt, das aussah wie ein Fisch, aber eine Bombe darstellen sollte.

Diese Liebe ist nicht zu erklären

Das Archäologische Museum mag ich nicht nur wegen der Exponate und der Atmosphäre, sondern auch, weil es dort immer einen Wächter gibt, der so tut, als würde er mir zuliebe ganz ausnahmsweise noch einen Saal mit Fresken aufschließen, die sonst niemand sieht. Vielleicht ist es Neapels Geruch, der mich so anzieht. Oder der höfliche Zerlumpte? Die cornetti essenden Nonnen? Die Lottozahlenmagie? Wie bei jeder wahren Liebe gibt es keine vernünftige Erklärung.

GEO SAISON Nr. 10/04 - Rom, Florenz, Neapel

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