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Reisetheater: Gate 325 am Stuttgarter Flughafen

Ein Theaterensemble feiert mit einer ungewöhnlichen Aufführung Erfolge - am Stuttgarter Flughafen. Und liegt damit im Trend: Die Wartehalle wird zum Kultursalon

Reisender, landest du an einem Samstagabend auf dem Stuttgarter Flughafen und läufst in Richtung Gepäck­band, dann kann es passieren, dass dir auf halbem Weg eine Frau und ein Mann in Unterwäsche begegnen. Im äußersten Fall kommst du ausgerechnet in jenen Sekunden vorbei, in denen einer nackt dasteht, splitternackt, und schreit: "Ich bin cool. Ich bin nicht erregt. Nein, ich bin überhaupt nicht erregt." Irritiert bleibst du an deiner Gangway stehen, blickst hinunter in die Wartelounge von Gate 325, wo die Halbnackten gestikulieren, inmitten von 150 Zuschauern, die dort sitzen, als warteten sie auf ihr Flugzeug.

Theater und Alltag am Flughafen

Aber auf der Anzeigetafel über ihren Köpfen stehen keine Flugnummer, keine Boarding- Zeit und kein Ziel. Dort steht: "Lokstoff! spielt Top Dogs." Lokstoff! ist der Name einer freien Theatergruppe aus Stuttgart, die den Auftritt im öffentlichen Raum zum Geschäftsmodell erhoben hat. Das Ensemble bespielt fahrende Linienbusse und Straßenbahnen, leerstehende Bürogebäude, U-Bahn-Stationen, Kunstmuseen, Kirchen. Dorthin verfrachten die Schauspieler aber kein herkömmliches Bühnenbild, vielmehr nutzen sie den Spielort für ungewöhnliche Begegnungen von Theater und Alltag: Die Kulisse bilden neugierige Passanten und Passagiere, streunende Hunde, staunende Kinder, Lautsprecherdurchsagen und der Lärm von Autos und startenden Flugzeugen. Das Stück "Top Dogs" ist nicht die einzige, aber die erfolgreichste Theaterproduktion in einem deutschen Flughafen. Alle 55 Aufführungen waren ausverkauft, etwa 8500 Zuschauer haben das Stück bislang gesehen. Auch am Berliner Flughafen Tempelhof wurde bereits gespielt: "Westflug", die Rekonstruktion der Entführung eines polnischen Flugzeugs im Jahr 1978 - raffiniert und beklemmend, verteilt über verschiedene Räume des Airports.

Weltweit schmücken sich Flughäfen mit Kultur. Regelmäßige Ausstellungen auch bedeutender Künstler sind gang und gäbe zwischen Duty-free-Shop und Fastfood-Restaurant, in Seattle trifft man auf Robert Rauschenberg, in Graz zeigt die "Galerie am Flughafen" zeitgenössische Kunst. Die Gründe für das Durchstarten der Kultur sind vielfältig. In der "Erlebnisgesellschaft" veranstalten auch Flughafenbetreiber zunehmend aufwendige Events: Im Hamburger Airport gastiert das Schleswig- Holstein Musik Festival, der Münchner Flughafen lässt ein Spielfeld aus Sand aufschütten und lädt zum Beachvolleyball-Turnier unter " Europas größter überdachter Freifläche" zwischen Terminal 1 und Terminal 2. Mit Kultursponsoring, etwa der Unterstützung von Lokstoff! durch den Flughafen Stuttgart, stärken die Betreiber zudem ihre Beziehungen zu den umliegenden Gemeinden - was sich auszahlen könnte, falls eine Startbahnverlängerung ansteht.

Kunst am Flieger: Plakatmotiv zur Produktion "Top Dogs"
Kunst am Flieger: Plakatmotiv zur Produktion "Top Dogs"
© Boris Wlechulla

Vor allem aber geht es darum, den Reisenden die Zeit am Boden so angenehm wie möglich zu gestalten. Mit Kunst, aber auch mit ausgefeilten Dienstleistungen: tragbare DVD-Player, die man sich in US-Flughäfen leihen kann, kostenloses 24-Stunden-Kino in Singapur, ein mit Regenwald bestandener Innenhof in Kuala Lumpur, Supermärkte, Massagestationen, ein Golfplatz (in Hongkong) oder ein 12,5 Meilen langer Wanderweg rund um den Flughafen in Baltimore-Washington - für den Fall, dass der Stopover etwas länger dauert. In Flughafen von Stuttgart kommen vor allem nichtreisende Zuschauer in den Kulturgenuss von "Top Dogs". Das Stück des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer handelt vom Schicksal entlassener Manager, die wieder fit gemacht werden sollen für neue Aufgaben.

Kurzweiliges Theater-Event

Aber zunächst leiden die arbeitslosen Führungskräfte schwer am Verlust Ihrer Macht und ihres Ansehens: Sie weinen und wimmern, schluchzen und fluchen, und manchmal sind sie eben so verzweifelt, dass sie die Hosen runterlassen. "Top Dogs" ist eine lose Folge von Szenen. Mal zwängen sich die Schauspieler zwischen die Zuschauer, mal lümmeln sie am Abfertigungsschalter wie an einem Tresen, mal sind die Akteure so nah, dass die verschmierte Schminke sichtbar wird. Es ist ein kurzweiliges Theater-Event, das damit beginnt, dass die Zuschauer mit dem Gatepass um den Hals wie normale Fluggäste durch die Sicherheitskontrolle gehen müssen.

Als das Stück seinem Ende entgegen‑ geht - "Last call for Bukarest" -, hat die ehemalige Managerin einen neuen Job gefunden, in Rumänien. Langer Applaus, ein paar "Bravo"-Rufe hallen durch die Lounge, in der die Emotionen sonst auf sachliche Geschäftigkeit im Flüsterton heruntergekühlt sind. Durch Gate 325 steigen die Theater-Passagiere in einen Bus, der sie in großem Bo‑ gen übers nächtlich erleuchtete Flughafengelände zum Ausgang fährt. Eine Frau sagt zu ihrem Mann: "Wir hätten doch im Dutyfree einkaufen sollen."

Szene aus dem Stück von Alexej Boris und Christine Prayon
Szene aus dem Stück von Alexej Boris und Christine Prayon
© Maks Richter

Aktuell zeigt Lokstoff! neben "Top Dogs" zwei Produktionen:

Vorher/Nachher (mit Franz Kafkas "Verwandlung" im Linienbus durch Stuttgart) und Bruchstücke von Samuel Beckett (im Stuttgarter Kunstmuseum).

Am 4. April 2008 startet Hamlet im Bahnhof, ein Stationen-Theater mit Klappstuhl und Empfänger im Ohr (am Stuttgarter Hauptbahnhof). www.lokstoff.com

GEO SAISON Nr. 11/2007 - Australien

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