Inhaltsverzeichnis
Diese Geschichte beginnt dort, wo die meisten Geschichten enden. Hamburger Flughafen, ein Montagmorgen, ich stehe am Gepäckband und bin müde. Ich war auf einer Recherche-Reise in den USA unterwegs - sechs Städte in zehn Tagen und am Ende eine Heimreise, die 27 Stunden dauerte: von Kalifornien mit United Airlines an die Ostküste, dann weiter mit British Airways über London nach Hamburg.
Und hier stehe ich jetzt und warte auf meine Reisetasche. Aber meine Tasche kommt nicht. Das schwarze Band ist leer.
Ich bin nicht der einzige, dessen Gepäck verschwunden ist. Da ist der Junge im Muscle-Shirt, heimgekehrt aus Sydney. Ein englisches Ehepaar. 42 Millionen Mal, schätzen Experten, war 2008 ein Gepäckstück nicht im richtigen Flugzeug; und 1,2 Millionen Koffer und Taschen sind nie wieder aufgetaucht. Sind einfach verschwunden, verschluckt von den Flughäfen dieser Welt.
Alles nicht so schlimm?
Wir gehen zur Gepäckermittlung. Da stehen zwei deutsche Frauen in British-Airways-Uniform. Sie sind ja nicht mal unfreundlich. Es ist eher ihre erbarmungslos routinierte Kälte, die mich überrascht und die englischen Eheleute verschüchtert. "Ihr Koffer kommt in der Mittagsmaschine", denglischt eine der beiden Servicekräfte, und die Engländer nicken ergeben. Keine Entschuldigung. Routine eben.
Zu mir sagen die Frauen, dass sie nicht wüssten, wo mein Gepäck sei. Ich bekomme eine Telefonnummer, sie hätten da ein Servicezentrum, dort könne man anrufen, ansonsten: alles nicht so schlimm! "Sie haben ja zuhause alles, was Sie brauchen." Natürlich, denke ich. Meinen elektrischen Rasierer. Das Computerkabel. Das teure Parfum, die anderen Toilettenartikel. Und die Beute meiner Amerika-Reise, die Recherche-Unterlagen! Habe ich alles doppelt zu Hause.
Montagnachmittag. Ich wähle die Telefonnummer. Das BA-Servicezentrum liegt in der Via Pape Giovanni in 20090 Rodano bei Mailand. Die Frau spricht fast kein Deutsch. Sie versteht mich nicht. "Wirrrr rufen zurück", sagt sie.
BA teilt später Folgendes dazu mit: Anrufe aus Deutschland würden von "muttersprachlich deutschen Servicemitarbeitern" betreut. Nur in Einzelfällen werde "automatisch auf z.B. die italienische Leitung umgestellt, in der natürlich bevorzugt Italienisch sprechendes Personal arbeitet". Ich wünsche niemandem, dass er diesen Einzelfall erwischt.
Veröffentlicht Ranglisten!
Dienstag. Italien ruft an! Nein, die Tasche sei leider nicht aufgetaucht. Aber ob ich vielleicht die wichtigsten Gegenstände darin aufzählen könne? Ich verbringe einige Zeit damit, einer wohl eher nicht muttersprachlich deutschen Servicemitarbeiterin zu erklären, was ein Leitz-Ordner ist.
Am Mittwoch ist in 20090 Rodano das Computersystem kaputt. Ich rufe in London an, bei James Fremantle vom "Air Transport Users Council" (AUC), einer Art Stifung Warentest für den Luftverkehr. James erklärt mir, ein geeignetes Mittel gegen Gepäckschlamperei sei immer noch das gute alte "name and shame" - der Pranger. Schon vor Jahren habe der AUC Druck ausgeübt auf die Europäische Kommission: Veröffentlicht Ranglisten! Sortiert die Airlines danach, wie zuverlässig sie Gepäck transportieren!
Daraus wurde nichts. Aber immerhin, die großen Airlines in Europa versprachen, selbst solche Listen zu publizieren. "Leider beeilen sie sich nicht gerade damit", sagt James.
Deswegen sind die neuesten Daten von 2007: Am besten stehen Turkish Airlines und Air Malta da, mit jeweils 4,5 verspäteten Gepäckstücken pro 1000 Passagieren. "Airlines, die über Drehkreuze viele Menschen in die ganze Welt fliegen, schneiden schlechter ab", erklärt James. Lufthansa: 15,8, noch knapp besser als der Durchschnitt. Am traurigen Ende der "name and shame"-Liste für 2007: British Airways und TAP Air Portugal - sie schafften es, auf 1000 Passagiere 26,5 bzw. 27,8 Gepäckstücke falsch zu transportieren. (Billigflieger wie Ryanair und Easyjet haben sich an der Statistik erst gar nicht beteiligt.)
"Die Gepäck-Lotterie"
Gedanken. Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit, das den Reisenden befällt, wenn er ohne sein Gepäck den Flughafen verlassen muss... es fühlt sich an, als sei man gar nicht richtig angekommen. Als sei die ganz persönliche Ordnung der Dinge durcheinander geraten. Und was, wenn meine Tasche gar nicht mehr auftaucht?
Es gibt ein Abkommen dazu, die Konvention von Montreal. Danach müssen die Airlines den Schaden ersetzen, der durch Verlust, Verspätung oder Zerstörung des Gepäcks entstanden ist; die Haftungsgrenze liegt derzeit bei 1141 Euro. Das Problem: Oft werden vom Passagier Nachweise verlangt, etwa Kassenbons. Und wer hat schon alle Kassenbons für alle Gegenstände in seiner Reisetasche parat? Ich nicht. So wäre ich auf den Gutwillen meiner Airline angewiesen.
James Fremantles AUC hat dazu gerade einen Bericht veröffentlicht, Titel: "Die Gepäck-Lotterie". Darin finden sich Fälle, die am Gutwillen der Airlines zweifeln lassen. Zum Beispiel dieser: Ein Passagier, dessen Gitarrenhals im Flugzeug zerbrochen war, fordert Ersatz. Er legt einen Kaufbeleg über – umgerechnet – 1940 Euro vor. Die Airline bietet 16 Euro; die Gitarre sei ja drei Jahre alt.
Regeln gegen den Verlust
Fluggäste, sagt James, können einiges dafür tun, um nicht in eine solche Lage zu geraten:
- stabile, abschließbare Koffer und Taschen kaufen;
- wertvolle Gegenstände ins Handgepäck nehmen;
- eine Reiseversicherung abschließen, die auch den Verlust des Gepäcks übernimmt;
- und vor allem sollten wir ein Namensschild an unserem Gepäck anbringen.
Wenn ich ehrlich bin, muss ich mir eingestehen, dass ich keine einzige dieser Regeln befolgt habe.
Donnerstag. Der Anruf kommt morgens, mit der 0039-Nummer aus Italien: Die Tasche ist aufgetaucht! Sie habe in London gelegen, erzählt eine nette, unbekümmerte Italienerin, ihr Deutsch ist nahezu perfekt.
Noch später erfahre ich, dass mein Gepäck womöglich schon in den USA verschlampt wurde, von United Airlines – mit denen war ich ja zuvor geflogen. Rätselhaft, wie die Reisetasche überhaupt nach London-Heathrow gelangte. Womöglich schaffte United Airlines sie herbei und stellte sie auf dem größten Flughafen Europas ab. Letztendlich, teilt British Airways mit, sei dieser Vorgang nicht aufzuklären.
80 Stunden später
Keine Auflösung also. Ich aber stelle mir vor, wie meine gute alte Tasche in Amerika Sehnsucht nach mir verspürt, wie ihr Flügel wachsen, wie sie auf die Startbahn rollt und losfliegt, ein einsames Gepäckstück über dem Atlantik.
Am Donnerstagabend, 80 Stunden nach meiner Landung, ist sie dann wieder bei mir. Sogar das Etikett mit dem Strichcode, aufgeklebt vor Ewigkeiten beim Check-In in San Diego, hat die Odyssee überstanden. Irgendwer hat ein Label darüber gepappt: "rush" - "eilig".