Im Sommer 2010 röhrt, knattert und dröhnt ein seltsam aussehendes Auto über die russisch-mongolische Grenze, eine riesige Staubfahne hinter sich herziehend. Der Unterboden des Wagens ist zerdeppert, seine rote Farbe von einer dicken Dreckschicht überdeckt, der Auspuff abgerissen. „Was dem Auto einen amtlichen Rallye-Sound verpasst hat“, sagt Daniel Kaerger, 42, grinsend. Das sei aber nicht so wichtig gewesen, denn da war ja diese unglaubliche Landschaft, die damals für Tage an Daniel und seinem Bruder Sebastian vorbeizieht. Daniel sitzt am Steuer, Sebastian als Navigator neben ihm.
Die beiden Brüder sagen den folgenden Satz heute, zehn Jahre später, lustigerweise gleichzeitig und beide immer noch ehrfurchtsvoll: „Das war eine Landschaft wie auf dem Mond.“ Eine Welt aus Beige und Grau unter einem sich unendlich weit aufspannenden, mongolischen Himmel. Die Brüder durchqueren diese Welt in einem Kia Rio, einer Art Nicht-Auto, in dem man sich vielleicht einen Brandenburger Rentner oder eine Zahnarzthelferin aus Gütersloh auf dem Weg ins Fitness-Studio vorstellen könnte. Es ist das denkbar ungeeignetste Fortbewegungsmittel für eine 14 000 Kilometer-Tour von London bis in die mongolische Hauptstadt Ulan Bator.
Diese Erfahrung ändert für die Kaerger-Brüder: alles. Zwar sind sie nach ihrer Rückkehr aus der Mongolei vollkommen erschöpft, aber da war auch nach zwei Wochen das Gefühl, gleich wieder losfahren zu wollen. Inspiriert von der Mongolei-Rallye gründen Daniel und Sebastian daher ihre eigene Firma, den Superlative Adventure Club, mit dem sie quasi eine eigene Art des Autorennens erfinden: Jedermann-Touren für Leute, die nicht schnell über die Autobahn jagen, sondern abseits der großen Straßen Länder erkunden wollen. Die Touren, die sich Kaerger und Kaerger auszudenken beginnen, klingen wie eine Mischung aus Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ und globaler Schnitzeljagd für große Jungs und Mädels. Ihr Meisterstück wird eine Rundfahrt um die Ostsee, der sogenannte Baltic Sea Circle: 7500 Kilometer, zehn Länder, 16 Tage. Essen, Sprit, Unterbringung? Darum muss man sich genauso selbst kümmern wie um den Weg, denn GPS-Geräte und Navis sind verpönt.
Große Nachfrage macht die Idee zum Geschäft
Die Nachfrage nach den Abenteuer-Touren ist so gewaltig, dass beide nach nur drei Jahren ihre Jobs – Windkraftanlangenbauer und Wirtschaftsinformatiker – aufgeben und fortan nur noch Fun-Rallyes konzipieren. Zum Beispiel die hier: „Three Wheels on India“. „Ja, das war …“, fängt Daniel Kaerger an, – „… schon so ziemlich eine der krassesten Aktionen“, beendet sein Bruder den Satz. Für die Rallye, die die Teilnehmer 2500 Kilometer durch Indien führen soll, kaufen die Kaergers sieben Motor-Rikschas, dreirädrige Klapperkisten, die normalerweise als Taxis benutzt werden. Maximalgeschwindigkeit 60 Stundenkilometer – „wenn es bergab geht“, sagt Daniel. Um überhaupt die Erlaubnis für die Tour zu bekommen, müssen die Brüder beim Innenminister von Rajasthan vorsprechen. Als die Rallye dann von Rajasthan aus in Richtung Goa startet, stehen jubelnde Schulkinder am Straßenrand – und ein echter Elefant. An vielen Tagen kommen die Teams nur schwer voran, weil sich Menschentrauben um sie bilden, sobald die Einheimischen erkennen, dass in den vermeintlichen Taxis Rennfahrer aus Europa sitzen. „Es war surreal und natürlich gingen die Rikschas dauernd kaputt“, sagt Sebastian. Dann grinst er, als wäre das genau das, was die beiden sich gewünscht hätten. Pannen.
Was tatsächlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. Denn eine der Regeln des Superlative Adventure Clubs lautet, dass die Fahrzeuge bei vielen der Rallyes mindestens 15 Jahre alt sein müssen. Die Autos machen also Schwierigkeiten. Und Schwierigkeiten sind, wenn man so will, ja nur ein anderes Wort für Abenteuer. Klingt wie eine Binsenweisheit aus der gleichen Klischeekiste, in der auch „Der Weg ist das Ziel“ rumliegt, aber man nimmt es den Brüdern ab, während sie nebeneinander in ihrem Hamburger Büro in petrolfarbenen Sesseln sitzen. An den Wänden hängen Bilder von ihren Reisen, von Polizisten auf orientalischen Marktplätzen, Serpentinen, vieles könnte optisch in einen Karl-May-Roman passen: Felsen, Himmel, Weite.
Viele der Touren vereinen ganz simpel die spektakulärsten Landschaften und Straßen einer Gegend. Der Baltic Sea Circle ist außerdem eine Reise zu den ganz privaten Lieblingsregionen der Brüder. Die Tour bringe die Teilnehmer ins „Irgendwo im Nirgendwo“, schrieb ein Reporter des „Manager Magazins“, der sie einmal mitgefahren ist. Tatsächlich ist der Baltic Sea Circle für dieses Gefühl des sich Verlierens wie gemacht: Die Strecke führt in einem langen Bogen von Hamburg über Stockholm, die Lofoten, das Nordkap, Murmansk, Sankt Petersburg, Tallinn und Kaliningrad wieder nach Hamburg. Teilnahmegebühr: 940 Euro pro Team plus die Verpflichtung, Spenden für eine Wohltätigkeits-Organisation der eigenen Wahl zu sammeln. 3,5 Millionen Euro sind auf diesem Weg bereits zusammengekommen.
Jedes Team ist außerdem angehalten, seinen CO₂-Ausstoß zu kompensieren, zum Beispiel mithilfe der App „Compensio“. Autofahrten schaden der Umwelt, klar. Aber: Der Baltic Sea Circle verursacht laut Sebastian pro Person nicht einmal die Hälfte des CO₂-Ausstoßes einer Flugreise nach Mallorca. Und die Tour ändere, anders als ein Egotrip nach Malle, wirklich den Blick auf die Welt.
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