In „Reiseziel: Woanders“ gehen sie der Frage nach, warum wir reisen. Wie kamen Sie auf die Idee?
Die Idee für den Film kam mir schon vor 20 Jahren. Damals bin ich für einige Monate durch Südamerika gereist. Einige Zeit war ich in Patagonien, danach in Bolivien. Überall habe ich die gleichen Backpacker aus Europa und Amerika getroffen. Ich wollte ein Abenteurer sein, war aber ein Tourist wie jeder andere. Mein Selbstbild entsprach nicht der Realität. Diese Erkenntnis beschäftigte mich. Ich wollte mehr darüber wissen. Also begann ich auf den Reisen für meinen Film „Chimeras“ vor einigen Jahren, Aufnahmen von Touristen zu sammeln, sie zu begleiten und zu interviewen.
Sie begleiten Pilger, Flüchtlinge und Reisende im Disneyland. Wie haben sie ihre Protagonisten ausgewählt?
Wenn ich interessante Menschen traf, begleitete ich sie. Im Film wollte ich den Einzelnen aber nicht zu viel Raum gewähren. Denn wenn jemand zu viel Screentime bekommt, wird seine Persönlichkeit interessanter als die Geschichte. Ich wollte objektiv bleiben. Deswegen springe ich im Film von Person zu Person.
Sie begleiten Touristen aus der ganzen Welt. Welche Gemeinsamkeit haben sie alle?
Alle Reisenden sind unterschiedlich. Was sie verbindet ist ihr Ritual – die Reise. Ich behandle zuerst ihre individuellen Reiseträume, die aber elitär sind. Der Massentourismus ist nicht nachhaltig, aber Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe haben das Reisen demokratisiert und es allen zugänglich gemacht.
Die Reise als Ritual. Wie kamen Sie darauf?
Ich wollte etwas über die Geschichte des Tourismus und über seine sozialen Aspekte herausfinden. Also ging ich in eine Buchhandlung. Die Reiseabteilung war voll mit Reiseführern und Büchern über die schönsten Destinationen. Aber es gab kein einziges Buch über die Geschichte oder die Psychologie des Tourismus, keinen analytischen Ansatz. Deswegen begann ich, mit Wissenschaftlern zu sprechen. Dem Ritual der Reisenden gingen auch schon Jesus Christus oder Christoph Kolumbus nach.
Und woher kommt unsere Reiselust?
„Das grundlegendste menschliche Bedürfnis ist nicht Sex. Es ist der Wunsch, woanders zu sein“, sagte mir ein Anthropologe. Der Grund: Unsere Vorfahren waren Nomaden, sie zogen von Ort zu Ort. Als die Menschen sesshaft wurden, unterdrückten sie den Wunsch, in Bewegung zu bleiben und stets weiterzuziehen. Deswegen sehnen wir uns nach der Ferne, deswegen reisen wir.
Auch Gilgamesch, der sumerische Held, zog in die Ferne. Er suchte und fand das Kraut der ewigen Jugend, kehrte aber mit leeren Händen heim. Warum erzählen Sie im Film seine Geschichte?
Der Epos Gilgamesch ist ein Symbol. Ich finde nicht, dass er mit leeren Händen in die Heimat zurückkehrte. Denn die ewige Jugend war seine Reise. Die kann er nicht mit nach Hause bringen. Für uns Menschen ist der nomadische Lebensstil die ewige Jugend. In unseren Städten haben wir sie vergessen, aber wenn wir losziehen und reisen, können wir sie wiederfinden.
Menschenmassen, Pilgerströme, Kreuzfahrtschiffe: In der Corona-Krise erscheinen die Bilder Ihres Films wie aus einer anderen Zeit. Was bedeutet die momentane Lage für Ihren Film?
Ich bin nicht sicher. Vielleicht sind diese Bilder plötzlich ein Relikt einer vergangenen Lebensweise? Oder sie werden ein Reiseersatz? 2019 könnte das letzte Jahr des "goldenen Zeitalters des Reisens" sein, der Höhepunkt des globalen Tourismus. Vielleicht gibt es kein Zurück mehr zu Billigflügen und dem fast unbegrenztes Gefühl der Freiheit, dorthin zu gehen, wohin man will und wann man will. Auch vor Corona hatten immer mehr Leute Vorbehalte gegenüber dem Fliegen, viele schränkten ihre Reisen ein. Trotzdem gab es 2019 mehr als 1,4 Milliarden weltweite Reiseankünfte – Rekord! In der Pause sind wir gezwungen, nachzudenken: Warum reisen wir? Wie reisen wir? Zu welchen Kosten? Kurzum: Werden wir so reisen wie bis Februar 2020 oder passen wir uns an?
Welche Antworten haben Sie auf diese Fragen?
Für mich waren diese Fragen am Anfang des Films motivierend, jetzt umso mehr. Ich beantworte sie aber nicht, sondern ergründe, beleuchte Aspekte der Antworten. Mein Film könnte für Freizeitreisende ein Spiegel sein: Um auf die Dynamik ihrer Träume und Sehnsüchte zu blicken, von denen die Tourismusindustrie lebte – bevor alles zum Stillstand kam.
Können und wollen wir uns Fernflüge noch leisten?
Selbst wenn wir es wollten, stellt sich die Kostenfrage. Entscheidend wird sein, wie Wirtschaft und Gesellschaften diese Krise überstehen. Um das klarzustellen: Es schien zuletzt so, als sei jeder auf Weltreise, aber die war ein Privileg einer kleinen, wenn auch wachsenden Minderheit, die zufällig über die richtige Art von Reisepass und das nötige Geld verfügte. Ärmere Menschen reisten ebenfalls, etwa auf den alten Pilgerrouten in Indien, Afrika oder Tibet.
Für Sie ist das Reisen ein uraltes Ritual. Wie werden wir nach dem Lockdown Urlaub machen?
Das hängt in erster Linie davon ab, wie lange die Krise andauert. Wenn es nur einige Monate sind, wird sich nicht viel verändern, denke ich. Die Leute werden wieder zur Arbeit gehen und auch wieder reisen. Aber wenn sie mehr als ein Jahr lang dauert, wird sich die ganze Tourismusindustrie verändern. Reisebüros und Fluglinien werden pleite gehen. Damit wird sich auch unsere Art Urlaub zu machen verändern. Beschränkungen machen das Reisen wieder zu etwas Besonderem. Und der Urlaub im eigenen Land oder bei den Nachbarn wird attraktiver.
Innereuropäische Urlaube sind ab Mitte Juni möglich. Die gebeutelte Tourismusbranche wird kontinental wiederbelebt.
Das lokale, langsame, längere Reisen war schon in den vergangenen Jahren im Aufschwung, den verstärkt Covid-19 nun. Der billige Jahresurlaub von Helsinki nach Phuket erscheint weniger verlockend. Die Menschen werden sich eher lokal bewegen und gleichzeitig globaler denken. Nichts hat die Menschheit so sehr geeint wie Covid-19, deshalb beschleunigt diese Krise in gewisser Weise auch das Gefühl einer globalen Identität. Andererseits stärkt sie nationalistische Ideen und lokale Lösungen. Eine interessante Mischung.
Die Krise trifft die globalisierte Welt hart. Wie geht es weiter?
Da unsere Lebensweise in multikulturellen Metropolen immer mobiler und internationaler geworden ist, gibt es vielleicht in Zukunft weniger Grund zu reisen. Mit dem Internet steht uns die Welt zur Verfügung. Wenn Sie zufällig in Berlin Kreuzberg oder New York Williamsburg leben, sind die Weltwunder in vielerlei Hinsicht bereits um Sie herum. Das tägliche Leben ist so perspektivreich geworden, und alles ist ständig in Bewegung – ob wir nun reisen oder nicht. Die Alltagserfahrung beginnt in gewisser Weise dem Nomadenleben zu ähneln. Wenn diese Trends zur "Alltagsmobilität" anhalten, dann brauchen wir vielleicht auch keine Rituale mehr, um unsere Dosis "Woanders" zu bekommen.
Wie reisen die Finnen?
In meiner Kindheit war es undenkbar, ferne Länder wie China zu besuchen. Das war sehr teuer, doch wurde immer günstiger. In letzter Zeit konnten es sich sogar Studenten oder arbeitslose Hippies in Finnland leisten, sechs Monate Urlaub in Indien oder Indonesien zu machen. Ich kenne keinen einzigen Menschen in Finnland, der nicht mehr oder minder regelmäßig verreist. Viele sind mehrmals im Jahr im Ausland.
Eine sehr mobile Gesellschaft.
Es gibt aber einen Gegentrend bei den Hipstern seit einigen Jahren. Die traditionelle öffentliche Saunakultur, der Skilanglauf, die altmodische Hausmannskost und viele andere Aspekte der finnischen Traditionen, die schon irgendwie "uncool" geworden waren, kamen in den letzten Jahren plötzlich richtig in Mode. Viele lokale, alltägliche Dinge wurden wiederbelebt und sind zu einem wesentlichen Aspekt der urbanen Coolness unter kosmopolitischen Hipstern geworden.