GEO.de: Sie reisen seit über 20 Jahren im Bulli durch Europa und haben dabei schon eine halbe Million Kilometer zurückgelegt. Wollten Sie zwischendurch nicht mal was anderes sehen?
Oliver Lück: Überhaupt nicht. Es wird sogar immer spannender. Ich habe eine Weile gebraucht, um Europa für mich zu entdecken. Ich musste nach dem Abi erst mal nach Indien, nach Angola, Costa Rica, Malaysia. Klar – weil nur da das Abenteuer warten konnte, und nicht etwa bei mir in Schleswig-Holstein. Und schon gar nicht in Europa. Aber das kannte ich überhaupt nicht. Auf meiner ersten Europareise mit meinem ersten VW-Bus habe schon nach wenigen Tagen gemerkt, dass ich allein durch diese Art zu reisen enorme Freiheiten hatte. Dass ich nicht weit wegfliegen musste, um Abenteuer zu erleben. Ich kann überall anhalten und so lange bleiben, wie ich möchte ...
… Damals noch ohne Handy und Internet …
Klar, das Reisen funktionierte noch ganz anders. Ich bin mit einer Straßenkarte im Maßstab 1:4.000.000 gefahren. Und das mache ich bis heute so. Ich brauche kein Navi und kein Smartphone, das würde mir gar nichts bringen. Ich will ja nicht schnell von A nach B – sondern ich will mir möglichst viel Zeit nehmen, um Geschichten zu finden.
Wie viele Wochen im Jahr waren Sie eigentlich unterwegs?
Rund 120 Tage bin ich in diesem Jahr allein auf meiner deutschlandweitenLese- und Vortragstour. Hinzu kommen etwa zwei Monate durch Europa mit dem Bulli in den Ferien. Ich habe inzwischen drei kleine Söhne, sodass wir mehr an die Schulferien gebunden sind.

Haben Sie ein Beispiel für einen besonders schönen Geschichten-Fund?
Manchmal biege ich einfach irgendwo ab, ohne zu wissen, was am Ende der Straße auf mich wartet. Das habe ich auch so auf einer Reise 2008 ins Baltikum gemacht. Am Ende der Schotterpiste in Lettland kam ich an einen Garten, bunt geschmückt mit Treibgut. Den hatte eine Frau, die dort in einer Holzhütte wohnte, am Ostseestrand gesammelt und daraus Kunst gemacht. Ich klopfte, und über eine Dolmetscherin kamen wir ins Gespräch. Am zweiten Tag zeigte sie mir ihren größten Schatz, eine Flaschenpost-Sammlung. Das war der Anfang einer weiteren Recherche – und schließlich meines Buchprojekts Flaschenpostgeschichten. Ich schrieb nämlich den Absendern, denen sie nie geantwortet hatte, weil sie ihre Sprache nicht verstand. Und die Absender, die ich später auch besuchte, zeigten mir ihrerseits Flaschenpost-Briefe, die sie gefunden hatten. Am Ende dieser Recherche hatte ich 500 Briefe in der Hand gehalten. Alles, weil ich einmal links abgebogen war.
Fahren Sie auch zweimal an denselben Ort?
Natürlich, in Barcelona zum Beispiel war ich, glaube ich, schon 20 Mal. Und ich will auch immer wieder hin, weil es einfach so eine fantastische Stadt ist. Es gibt aber auch einige Landstriche, an die ich immer wieder zurückkehren möchte, um zu sehen, ob und wie sie sich während der vergangenen Jahre verändert haben. Manchmal ist alles unverändert, manchmal sind die Orte kaum wiederzuerkennen.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Da ist zum Beispiel dieser Ort in Nordirland mit dieser Allee aus märchenhaften, 300 Jahre alten Bäumen, das Coverbild meines neuen Buches. Da bin ich einmal durch Zufall hingeraten, im Jahr 2010. Sechs Jahre später war ich noch einmal da. Da hatte sich dieser Ort komplett gewandelt – weil dort Szenen aus „Game of Thrones“ gedreht worden waren. Dieser Ort ist jetzt an manchen Tagen von Menschenmassen bevölkert, Reisebusse fahren durch diese Allee, weil es jede Menge Fantasy-Fans gibt, die um die ganze Welt fliegen, um an solchen Original-Drehplätzen zu sein. Der Ort hat seinen Charakter komplett verändert.
Wie wichtig sind nationale Unterschiede für Sie?
Wenn man jemanden in einer beliebigen Fußgängerzone in einer europäischen Großstadt mit verbundenen Augen aussetzen würde, hätte er kaum eine Chance, zu erraten, wo er ist. Auch bei uns sehen die Kleinstadtzentren alle gleich aus: neben Aldi ein Edeka. Wenn das irgendwo mal nicht so ist, fragen die Leute gleich: „Warum ist denn hier kein Aldi neben dem Edeka? Das ist doch überall so.“ Das finde ich tragisch. Kulturelle Unterschiede sind total wichtig und spannend. Das macht Europa doch aus, das ist der größte Schatz, den wir haben. Das gibt es sonst nirgendwo auf der Welt.
Und was wünschen Sie sich für Europa?
Ich wünsche mir, dass die Grenzen in den Köpfen fallen. Oder noch besser: dass sie gar nicht erst entstehen. Dass die Menschen den Reichtum erkennen, den wir haben. Gerade heute, wo so viel gehasst wird, wo es so viele Menschenfeinde gibt, ist es unsere Aufgabe, diesen Leuten nicht das Feld zu überlassen. Für mich fängt Europa in den Köpfen an. Jeder ist Europa.

Oliver Lück, Jahrgang 1973, ist Journalist und Fotograf. Wenn er nicht mit seinem Bulli in Europa unterwegs ist, lebt er mit seiner Familie in Schleswig-Holstein. Seine Begegnungen hat er schon an rund 400 Abenden mit Zuhörern und Zuschauern geteilt. Hier gibt es die aktuellen Lesungs- und Vortragstermine. Mehr über den Bildband "Zeit als Ziel" auf der Homepage von Oliver Lück: www.zeitalsziel.de oder auf der Webseite des Conbook-Verlages, wo sich auch eine Leseprobe abrufen lässt.