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Haken für Haken, Meter für Meter. Bewegungen wie in Zeitlupe. Ich bin so konzentriert, dass ich mit den Zähnen knirsche. Unter der Jacke rinnt der Schweiß, gleichzeitig kann ich trotz der Handschuhe die Finger kaum noch spüren. An meinem Helm sausen scharfe Eissplitter vorbei. Jetzt bloß keinen Fehler machen! Ich hänge an einem gefrorenen Wasserfall im Engadin. Es ist sonnig, aber bitterkalt - beste Bedingungen fürs Eisklettern.
Zu kalt, zu trügerisch, zu fremd
Bergführer Chris Semmel, der unseren Einsteigerkurs leitet, hat sich für die Schweizer Ostalpen als Kletterrevier entschieden: Hier gibt es hohe Gipfel und niedrige Temperaturen, auch in Zeiten des Klimawandels. Schon während der Kälteeinbrüche im Herbst hat sich ein erster Mantel aus dünnem Eis über den Fels gelegt. Im Laufe der Wochen folgte Schicht um Schicht, wie die Schalen einer Zwiebel. In jeden noch so schmalen Spalt und in jedes noch so kleine Loch ist das Wasser eingedrungen, bevor es zu Eis gefror. Diese Verbindung sei jetzt "so fest verbunden wie Zweikomponentenkleber", sagt Chris, der auch als Berater für den Sicherheitskreis des Deutschen Alpenvereins arbeitet. Das beruhigt. Und doch: Trotz einiger Erfahrung beim Klettern am Fels - mir fehlt das rechte Zutrauen in dieses Element. Zu kalt, zu trügerisch, zu fremd.
Dass ich mich wie ein Krieger auf feindlichem Terrain fühle, mit einem Helm bewehrt und bis an die Zähne bewaffnet, macht das Unternehmen nicht vertrauenswürdiger: Steigeisen mit Zacken habe ich an den Füßen befestigt, in beiden Händen halte ich je einen messerscharfen Pickel. Eisgerät sagt mein Guide dazu. Am Klettergurt hängt ein ganzes Arsenal aus Eisen und Stahl - Expressen, Karabiner und Eisschrauben in verschiedenen Größen. Unsere Aufgabe an diesem ersten Kurstag:
eine 20 Meter hohe Eisformation im steilen Einschnitt eines Gebirgsbachs bewältigen. An fest montierten Seilen, von der Gemeinde Pontresina für Kletterer installiert, lassen wir uns zum Fuß der glitzernden Skulptur hinab. Das Wasser hat in den vergangenen Wochen seinen Weg bis in die Tiefe gefunden und sich mit dem Tropfkegel am Boden verbunden. Hier unten ist es kühl und dunkel, ein Bach gluckst aus den Löchern seines gefrorenen Betts. "Eis ist nie gleich Eis", sagt Chris und pocht prüfend auf die glatte Oberfläche. Optimal seien stabile Temperaturen zwischen minus sechs und minus ein Grad. Wird es noch kälter, kann das Eis spröde und brüchig werden. Zu warmes Wetter, Regen und Sonnenstrahlen dagegen bringen tragende Stellen zum Schmelzen und machen das Eis zu einer gefährlichen Falle für den Kletterer. Aber für heute ist Chris mit der Qualität der Wand zufrieden. Elegant und schnell erledigt er den "Vorstieg", die erste prüfende Begehung, die beim Eisklettern wegen der Sturzgefahr geübten Kletterern vorbehalten ist. Oben am Ausstieg unserer Tour hängt er das Seil in eine Umlenkung, lässt sich am Sicherungsgurt hängend wieder zu uns herab, und nun bin ich an der Reihe.
Zögernd teste ich die beiden verschiedenen Klettertechniken, die sich am Morgen im Theorieunterricht noch so simpel anhörten: Entweder man arbeitet sich mit parallel ausgerichteten Händen und Füßen wie eine Raupe Stück für Stück den Berg hoch. Oder der Kletterer entscheidet sich für eine diagonale Gangart, das "Tracking", das weit weniger ermüdet, aber dafür sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfordert. Dabei wird zunächst der erste Pickel seitlich ins Eis geschlagen, die Füße wandern in kleinen Schritten nach, dann folgt der Schwung mit dem zweiten Pickel und so fort. Aber Vorsicht! Wenn die Stahlspitze in Beulen oder Hohlräume im Eis trifft, sprengt sie manchmal ganze Schollen ab.
Hauen, schwingen, kicken, stoßen: Ich muss mich vollkommen auf meine Bewegungen konzentrieren. Mein linker Arm wird bald müde, dafür steckt im rechten unerwartet viel Kraft. Mit einem satten Geräusch, das wie das Zerplatzen einer Glühbirne klingt, bohrt sich der Pickel ins Eis. Ich komme jetzt richtig in Fahrt: Pickel, Stachelschuh, Stachelschuh, Pickel - und plötzlich verliert der Fuß den Halt, ein Zacken des Steigeisens ist ausgebrochen. Ich hänge mit vollem Gewicht am ausgestreckten Arm, Schmelzwasser im Gesicht. Meine Beine treten ins Leere, finden keinen Halt. Als mein Partner das Seil straffzieht, hänge ich schlapp in den Gurten wie eine Marionette nach dem letzten Vorhang. Beim Mittagessen in der Bäckerei von Pontresina habe ich Probleme, die Kaffeetasse zu stemmen. Nur langsam entspannen sich die Muskeln. Vielleicht hat es doch seinen Grund, denke ich, dass diese Extremsportart fast nur Männer betreiben. "Wieso?", meint Chris nonchalant. "Ist doch nichts passiert."
Kraft, Know-how und gute Moral
Dann brechen wir auf ins Bergell, ein Graubündner Tal, das in einer knappen Stunde über den Malojapass zu erreichen ist. Hier fühle ich mich als Kletterin endlich wieder ganz in meinem Element: Statt unberechenbarer Eiswände warten große, graue Granitfelsen auf uns, mit einer Struktur, die so fein ist wie Sandpapier. Dazu gut gesicherte Routen in allen Schwierigkeitsgraden, Sonne im Nacken, Vogelgezwitscher im Ohr, grüne Bäume rings um uns herum. Geschunden und glücklich fallen wir abends ins Lager. Ich will nur noch eins: mich nie mehr bewegen müssen und die Horizontale genießen. Mit Eisklettern beschäftigten sich früher nur Extrembergsteiger, die auf ihrem Weg zum Gipfel auch Eispartien überwinden mussten. Doch eine stete Verbesserung des Geräts und der Weitblick einiger Visionäre machten aus einer Spezialdisziplin des Alpinismus eine eigene Sportart, die seit Jahren einen Boom erlebt. Längst erzählen sich ihre Anhänger Heldengeschichten von tollkühnen Erstbesteigungen. Seit 1999 gibt es auch einen eigenen Weltcup und immer mehr künstliche Eiswände, an denen Hobbykletterer ihre Kräfte messen können. Am nächsten Morgen fahren wir zum Bernina-Pass und besteigen die Gondel zur Diavolezza. Am Gipfel: gleißendes Licht, Blick auf den Piz Bernina, den stolzen Viertausender der Ostalpen. Zu Fuß geht es quer über eine Skipiste zur "Corn Diavolezza", einer hundert Meter tiefen Steilwand, der ersten künstlichen Eiswand im Engadin. Über Plastikschläuche leitet die örtliche Kletterschule Wasser auf den Felsen, das auf dieser Höhe sofort gefriert. So wurde, dem Trend folgend, ein perfekter Abenteuerspielplatz geschaffen; bequem erreichbar, gut gesichert und trotzdem mit 70 bis 100 Grad Neigung eine sportliche Herausforderung.
Zum Meistern dieser Herausforderung braucht es Kraft, Know-how und eine gute Moral, so steht es im Lehrbuch. Vor allem letztere kommt mir schlagartig abhanden, als mich Chris in die schattige Steilwand führt. Unter mir ein Abgrund aus Eis und Schnee, über mir noch mehr Eis, zum Teil senkrecht und mit Röhren überzogen - Hohlräumen, deren Außenseiten leicht brechen können. Wir klettern eine Mehrseillängenroute, was bedeutet: 30 Meter abseilen, Eisschrauben für die Karabiner eindrehen, Standplatz bauen, Partner sich ern und dann 30 Meter tiefer dasselbe von vorn. Anschließend geht es die Wand wieder hinauf.
Die Zähne meines Pickels beißen schlecht im spröden Eis, das bei jedem Schlag in tausend Splitter springt. Schon bald schlage ich nur noch halbherzig, die Kraft ist weg, die Beine zittern. Auf der Suche nach einem sicheren Tritt muss ich immer wieder nach unten blicken, in den Abgrund. Chris versucht mich zu beruhigen, schwört, dass die Beschaffenheit des Eises heute viel sicherer sei als gestern. Wie lange hält die Eisschraube, bevor sie - erwärmt durch die Belastung - aus der Wand herausschmilzt? Irgendwann kollabiert jede Eisformation. Vielleicht heute? Immerhin heißt der Berg Diavolezza, nach der schönen Teufelin, die hier ihr Unwesen trieb. Kein großer Trost, dass sie nur Männer den einsamen Bergtod sterben ließ. Da höre ich ihr süßes Rufen, und ich falle und falle, schreie und schreie. Bis die dünne Haut zwischen Traum und Wachsein reißt. Ich sitze hoch aufgerichtet und schweißgebadet zu Hause im Bett, sortiere meine Gedanken. Die zwei Tage im Engadin waren schön. Und schrecklich anstrengend. Draußen lacht die Wintersonne. Ich beschließe, für heute die Arbeit ausfallen zu lassen und stattdessen einen Ausflug zu machen, zum besten Italiener der Stadt - Berge von Eis essen.
Veranstalter
Ähnliche Kurse wie der hier vorgestellte können beim Deutschen Alpenverein, Sektion München und Oberland, gebucht werden. Voraussetzungen sind DAV-Mitgliedschaft und Klettererfahrung. Eintägige Schnupperkurse ab 44 Euro, drei- und fünftägige Einsteigerkurse ab 132 Euro, dreitägiges Training ab 176 Euro.
DAV Sektion München
Tel. 089-55 17 00-0, www.alpenverein-muenchen-oberland.de
Schweiz. Die Kletterschule "govertical" hat die künstliche Eiswand "Corn Diavolezza" eingerichtet und bietet im Winter auf Anfrage täglich Eiskletterkurse ab 72 Euro pro Tag an.
SCHWEIZ
govertical
Pontresina, Chesa Curtinatsch, Tel. 0041-81-834 57 58, www.govertical.ch In Kandersteg, Berner Oberland, liegt das größte Eisklettergebiet der Schweiz. Die Bergsteigerschule Kandersteg bietet Schnupperkurse (1 Tag ab 120 Euro), Kurse am Eisturm (30 Euro) und Privattouren (ab 300 Euro/Tag) im gesamten Eisklettergebiet an.
Bergsteigen-Kandersteg
Tel. 0041-79-604 40 59, www.bergsteigen-kandersteg.ch
ÖSTERREICH
Der Club Alpin Pitztal bietet im Winter Drei-Tage-Kurse für Einsteiger ohne Vorkenntnisse ab 255 Euro an. Wasserfallklettern kann man auf einer Vier- bis Fünf-Stunden-Tour für leicht Fortgeschrittene.
Club Alpin Pitztal Tieflehn 87, St. Leonhard im Pitztal, Tel. 0043-5413-8 50 00, www.clubalpin-pitztal.at
SÜDTIROL
Die Alpinschule Ortler bietet zwischen Dezember und Februar zweitägige Eisfallkletterkurse in Sulden an, ab 285 Euro inklusive Halbpension, Führung und Ausrüstung.
Alpinschule Ortler
Sulden, "Haus der Berge", Tel. 0039-473-61 30 04, www.alpinschule-ortler.com