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Barfußwandern ist ganz leicht, sagen die, die ohne Schuhe wandern gehen. Was die Gepäckfrage betrifft, kann ich das bestätigen. Meine Stiefel, Größe 47, die bei Reisen in die Berge den Koffer schwer machen und viel Platz wegnehmen, konnte ich zu Hause lassen. Ein Paar Trekkingsandalen sollte ich aber unbedingt dabeihaben, hatte Frau Bürgi am Telefon gesagt. Für alle Fälle. Und für den Rückweg. Denn nach zwei bis drei Stunden hätten die meisten Anfängerfüße erst mal genug. Barfußwandern ist die natürlichste Art der Fortbewegung, sagen die Barfußwanderer.
Beim Wandern Spüren, Tasten und Fühlen
Menschen wie die Schweizer Gesundheitsmasseurin Esther Bürgi, die von Juni bis September Gruppen "unten ohne" durchs Berner Oberland führt. Nun weiß jeder seit der Pubertät, dass es mitunter die natürlichsten Sachen der Welt sind, die einen beunruhigen können. Jedenfalls kommt bei mir leichte Nervosität auf, als ich mir am Treffpunkt die Sandalen abstreife und in den Tagesrucksack stecke. Schließlich ist mir mein ganzes Wanderleben eingebläut worden, dass es eine Todsünde ist, sich ohne geeignetes Schuhwerk auf den Weg zu machen. Vielleicht hat mein Lampenfieber aber auch mit einer Bemerkung von Esther (am Berg duzen sich selbstverständlich auch Barfußwanderer) zu tun. Männer seien bei ihren Touren in der Minderheit, sagte sie, "die sind halt ein bisschen wehleidig".
Tatsächlich haben sich deutlich mehr weibliche als männliche Füße auf dem Parkplatz gegenüber dem Gasthof "Schwarzental" in Innertkirchen versammelt, wo unsere Tour auf 1369 Meter Höhe beginnen und bis auf 1850 Meter hinauf gehen soll. So wie Golfer oder Surfer untereinander gern das Equipment vergleichen, inspiziere ich die Ausrüstung meiner Mitwanderer. Alles dabei, was man von Strand, Schwimmbad und Sauna so kennt: gerade Zehen, krumme Zehen, Hornhaut, Nagelpilz, die ganze Palette. Nur ein Paar sticht heraus. Das von Esther. Füße, so drahtig und durchtrainiert, wie ich noch keine gesehen habe. Bronzefarbene Haut, seidig glänzend und gleichmäßig dick, frei von jeder Verletzung oder Verhornung - einfach unglaublich schöne Füße.
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Etwa die Hälfte der 18 Teilnehmer ist zum ersten Mal dabei, deshalb gibt Esther eine kurze Einführung: "Tag für Tag", sagt die 47-Jährige, "quetschen wir unsere Füße in Schuhe und drängen so unserem Organismus falsche Bewegungsabläufe auf. Barfußwandern beugt Fußschäden vor, verbessert unsere motorischen Fähigkeiten und kräftigt Muskeln, Bänder und Gelenke. Es fördert die Durchblutung und härtet ab. Es ist ideal zum Spüren, Tasten und Fühlen. So werdet ihr heute automatisch langsamer gehen als sonst und deshalb alles intensiver wahrnehmen, zum Beispiel die Pflanzen. Wichtig ist, dass ihr die Füße anhebt und nicht schlurft, sonst stoßt ihr euch an Steinen oder bleibt an Wurzeln hängen. Und wenn ihr schauen wollt, auf die Berge oder in den Himmel, bleibt stehen. Denn beim Gehen müsst ihr immer darauf achten, wo ihr hintretet."
Also dann, ein letzter Blick nach oben, auf Schweizer Alpengipfel, die Engelhörner und die dahinterliegende schneebedeckte Wetterhorngruppe, bevor sich mein Fokus ganz auf das untere Ende meines Körpers richtet - und das, was ihm gefährlich werden könnte. Zum Glück führt unser Weg zunächst über den angenehmsten Untergrund, den sich ein Nacktfußdebütant wünschen kann: Blütenwiesen. Statt wie sonst mit den Bergstiefeln relativ unbedacht durch die Flora zu trampeln, achte ich nun auf jeden Schritt. So konzentriert, so fußfixiert, dass es eine schöne Abwechslung ist, als plötzlich eine Kuhherde vor uns steht. Wir müssen mitten hindurch, und die Viecher sind derart zutraulich und interessiert, dass sie uns mit den Nasen anstupsen. So viel Anhänglichkeit bei Almkühen war mir neu. Vielleicht streift man ja mit den Schuhen ein Stück Zivilisation ab, und die Tiere spüren das. Naiver Gedanke? Für Esther überhaupt nicht: "Lärm und Bodenvibration macht Tiere scheu. Weil wir uns ohne Schuhe sanfter und leiser bewegen, haben sie weniger Angst."
Schlammbad, Kneippkur und Reflexzonenmassage
Die Bäche, die rechts von uns als kleine Wasserfälle aus dem Fels stürzen, machen die Wiese feucht, an manchen Stellen sumpfig. Mit meinen teuren Markenstiefeln würde ich jeder Pfütze, jedem Matsch ausweichen; jetzt stapfe ich wie ein Kind lustvoll hinein. Esther hat recht: Barfußwandern ist Schlammbad, Kneippkur und Reflexzonenmassage zugleich. Warum nur habe ich meine Füße immer in klobigen Käfigen aus Gummi, Leder und Plastik durch die Landschaft bewegt? Die Antwort bekomme ich wenig später: Schotterpiste. Da kann ich noch so behutsam auftreten, meine neunzig Kilo drücken mich in die Steine. Erst piekst es, dann brennt es, ich möchte "Aua!" schreien, und irgendwann tue ich es auch. Von den Frauen jammert keine; denen scheint die Fakir-Strecke tatsächlich weniger auszumachen. Und Esther spaziert so heiter und lässig über den Split hinweg, als wäre er Velours.
Barfuß ins Museum
Alles Gewöhnungssache, sagen die Barfüßler. Aber ein Johannes Kathol wird aus mir wohl nie. Als Mitbegründer der Barfuß-Initiative Berlin-Brandenburg ist er einer der engagiertesten Vertreter der deutschen Barfußwanderszene. Der 45-jährige Wanderführer organisiert nicht nur Tagestouren im Berliner Umland und Ausflüge ins Elbsandsteingebirge; er trägt auch im Alltag keine Schuhe mehr, nirgendwo, nicht im Büro und nicht beim Berlin-Marathon, den er 2006 mit bloßen Füßen in weniger als fünf Stunden absolvierte. Ein Fundamentalist, der sich als Museumsfan regelmäßig mit dem Besucherdienst anlegt, weil er auch für Kulturtempel keine Ausnahme macht. Dennoch wirkt der Mann keineswegs wie ein Spinner, wenn er von den Grundideen des Naturismus erzählt, an denen sich die Barfußwanderer orientieren. Dass man durch Weglassen viel gewinnen könne. Dass es gelte, Schutzschichten gegen die Natur abzulegen. Und wie befreiend es sei, "nach einem langen Tag am Computer an die frische Luft zu gehen, die Zehen in den Boden zu krallen und Kontakt mit der Erde aufzunehmen."
Auch Heiners Leben wurde durch das Barfußwandern gründlich verändert. Er ist 67 Jahre alt und trägt ein weißes T-Shirt, das mit rosa Fußsohlen bedruckt ist. Vor vier Jahren habe er massive Knieprobleme bekommen, sodass er das geliebte Skifahren aufgeben musste. Dann las er einen Artikel über Esther Bürgi. Inzwischen läuft er jeden Tag anderthalb Stunden ohne Schuhe. "Seitdem sind die Schmerzen weg, und ich bin topfit."
Die Untergründe werden nun wieder hautfreundlicher: mal weicher Waldboden, mal hartes, leicht raues Gestein. Inzwischen eine gute Stunde unterwegs, muss ich mich nicht mehr ganz so konzentrieren wie am Anfang, habe nun ein Auge für Bergahorn und Arvenbäume und kann ein bisschen mit den anderen plaudern. Renate, 32, ist wie ich das erste Mal dabei und genießt vor allem die Langsamkeit. "Endlich nimmt man sich mal wirklich Zeit beim Wandern." Auch Corinne, 22, ist positiv überrascht: "Ich hatte mit Schmerzen gerechnet, aber es ist herrlich. Vor allem dieser Wechsel vom Kühlen ins Warme, vom Trockenen ins Feuchte, den man mit Schuhen gar nicht mitbekommt." Jürg, 58, war schon öfter dabei, ist sich aber sicher, dass Barfußwandern niemals eine Massenbewegung wird. "Ich würde das immer nur in speziellen Gruppen machen; wenn du allein gehst, schauen dich die Leute an, als wärst du von einem anderen Stern."
Ein Erlebnispark für die Füße
Vielleicht rührt daher die Beliebtheit der Barfußparks: angelegte Erlebnispfade mit Etappen aus Gras, Moor, Mulch, Holz, Sand, Steinen, Tretbecken und anderen Fühlstationen - für nichts anderes gedacht als für nackte Füße. Keiner kennt sich mit diesen Anlagen besser aus als Dr. Lorenz Kerscher, Biochemiker aus Penzberg in Oberbayern. Rund fünfzig im deutschsprachigen Raum gelegene Parks stellt der 57-Jährige ("Ich wurde als Kind mit Einlagen gequält") auf seiner Website www.barfusspark.info vor.
Auf Kerschers Empfehlung hin hatte ich das "Hexenwasser" am Wilden Kaiser in Tirol besucht und dort anderthalb Stunden fröhlich-feuchtes Fußvergnügen erlebt. Wer wissen will, wie das überhaupt ist, mal wieder ohne Schuhe zu laufen, bevor er sich vielleicht an längere Strecken wagt, für den sind solche Pfade ideales Testterrain. Und Kinder haben auf ihnen sowieso ihren Spaß.
Nach gut zwei Stunden haben wir unser Ziel erreicht: die Rossbodenhütte und den Engstlensee. Zuerst gehen wir alle zum See, die Füße abkühlen. Erst jetzt spüre ich, wie stark sie kribbeln vor Durchblutung. Und ich bin ein bisschen stolz: keine Blase, keine Wunde, keine Kapitulation. Die Sandalen sind im Rucksack geblieben. Die anschließende Jause auf der Hüttenterrasse unterscheidet sich in nichts von der normaler Wanderer - außer vielleicht, dass ich bei Älplermaccharoni und Apfelschorle noch mehr zulange als sonst am Berg. Esther sagt, dass die Füße ohne Schuhe viel mehr arbeiten müssen. Ich bin tatsächlich ganz schön erledigt.
Schließlich machen wir uns auf den Rückweg ins Tal. Die ersten Meter gehe ich noch barfuß, dann ziehe ich die Sandalen an, wie Esther es mir prophezeit hatte. Nicht nur aus Rücksicht auf meine Haut, sondern auch auf die Fortgeschrittenen in der Gruppe. Denn bergab müssen Anfänger noch viel langsamer gehen als hinauf, weil nichts als der Fuß selbst den Schritt abfedert und andernfalls die Gelenke leiden - das würde dauern. Als wir kurz vorm Parkplatz noch in ein Gewitter kommen, bin ich erst recht froh, ein Stück Gummi unter den Füßen zu haben. Doch ich habe gelernt, dass ich meinen Füßen weit mehr zutrauen kann, als ich dachte. Entsorgen werde ich meine Wanderstiefel sicher nicht. Doch wenn ich künftig in der Natur unterwegs bin, werde ich viel öfter einfach mal die Schuhe ausziehen.